Mengele und die sieben Zwerge


1868 wird in dem kleinen rumänischen Dorf Rozavlea ein „Zwerg“ geboren. Seine Eltern, Frieda und Leib Ovitz, versuchen das Schicksal zu beeinflussen und nennen ihren Sohn – nach dem biblischen Riesen Samson – Schimschon Eizik. Der jedoch bleibt klein.
Schimschon, Sohn orthodoxer Juden, sucht Trost in der Religion, sagt doch schon die Halacha, man solle beim Anblick missgebildeter Menschen, so auch eines Zwerges, „Gelobt sei Gott, der jeden Menschen unterschiedlich gemacht hat“ ausrufen und fortan diese Person gleichberechtigt behandeln. Da aber auch der Talmud vor der Paarung zweier Zwerge warnt – „denn sie werden einen Däumling hervorbringen“ – macht sich Schimschon, gerade 18 Jahre geworden, auf die Suche nach einer normal großen Braut. Die wird auch gefunden und schenkt ihm zwei Töchter, kleinwüchsig wie ihr Vater. Schimschon verdient sein Geld zunächst als Badchan, als Marszalik, der die Gäste bei Hochzeiten mit Anekdoten und Bonmots unterhält, bevor er ein – wegen seiner spirituellen Kräfte – geschätzter Wanderrabbi wird.
Als seine Frau früh stirbt, heiratet er noch einmal und wird Vater weiterer acht Kinder, sechs von ihnen ebenfalls Zwerge. 1923 stirbt Schimschon Eizik Ovitz unerwartet – an einer Fischvergiftung. Die Familie muss von nun an allein über die Runden kommen.
Im Zirkus wollen die Ovitz’s nicht auftreten (vor dem Krieg leben in Europa etwa 1.500 Zwerge vom Showbiz). Sie wollen ernst genommen werden. Sie gründen „Die Liliput-Truppe“ und erarbeiten ein Repertoire mit Liebesliedern und Schlagern in fünf Sprachen. Die ältesten Schwestern, Rozika und Franziska, spielen – wunderschön kostümiert – auf winzigen Geigen, Frieda übernimmt das Hackbrett, Elizabeth das Schlagzeug, Micky das Cello und Perla, das Nesthäkchen, die rosa Gitarre. Avraham ist der Sänger und Schauspieler der Truppe. Die normal großen Familienmitglieder helfen hinter den Kulissen.
Die Truppe ist so erfolgreich, dass sie bald im ganzen K.-und-K.-Reich auftritt. Als Hitlers Kriegbeginnt, können sich die Ovitz’s zwar zunächst „arische“ Papiere beschaffen und weiterarbeiten, aber Anfang 1944 werden auch sie deportiert, erst in ein Ghetto, dann nach Auschwitz-Birkenau.
Lagerarzt Dr. Josef Mengele hat ein Faible für die Zwillingsforschung und alle Art von Mißbildungen. Da sich Vererbung am besten anhand kompletter Familien erforschen läßt, gerät er angesichts der Ovitz’s – mit ihren sieben kleinen und drei großen Geschwistern, plus Nachwuchs und Anverwandten insgesamt 23 Personen – in wahre Euphorie. Mengeles perverses Steckenpferd rettet ihnen das Leben. Sie werden getrennt von den anderen untergebracht, dürfen ihre Kleider und ihre Haare behalten. In unzähligen Testreihen läßt Mengele fortan diese Haare untersuchen, die Zähne der Zwerge, ihr Blut, ihren Urin, ihre Hormone und ihre Knochen.
Trotzdem die Zwerge in den Experimenten furchtbare Qualen leiden und durch den ständigen Blutverlust, die Injektionen und den Hunger krank und geschwächt sind, haben viele andere Häftlinge ambivalente Gefühle ihnen gegenüber. Dank ihrer relativen Sonderstellung scheinen sie immer selbstbewußt, sauber, gut genährt und gekleidet. Ganz wie Mengele selbst, der „für sein Aussehen hätte Preise bekommen können“, wie Perla Ovitz sagt. „Er war ein schönes Tier.“ Das „schöne Tier“ liebt den Disney-Film „Schneewittchen und die sieben Zwerge“. Die Ovitz’s sollen immer wieder wie die Zwerglein im Film für ihn spielen und singen. „Komm, mach mich glücklich“ stimmen sie zitternd an. Mengele besucht „seine Püppchen“ so oft, dass der anderthalbjährige Schimschon Ovitz ihn „tatti“, Papa, nennt. „Das hat mein Leben ruiniert“, wird er später sagen, und: „Mengeles Namen war in unserem Haushalt eine Alltäglichkeit.
Ich aß mit Mengele zum Frühstück, er war meine Gute-Nacht-Geschichte, und ich konnte nachts nicht schlafen, wenn meine Tanten und Onkel in ihren Träumen schrien …“.
Am 17. Januar 1945 setzt sich Mengele aus Auschwitz ab, zehn Tage später befreit die Rote Armee das Lager. Nach einer Odyssee durch Osteuropa landen die Ovitz’s in Belgien, dem einzigen Land, das bereit ist, ihnen Visa zu erteilen. Dort nicht heimisch geworden, gehen sie 1949 nach Israel. Sie hausen im Einwanderercamp Bat Galim, gründen die „Liliputaner-UnterhaltungsgmbH“ und treten mit Liedern und tragikkomischen Sketchen im ganzen Land auf.
Erst sechs Jahre später ziehen sie aus der Baracke am Meer in ein Haus der früheren deutschen Templer-Kolonie in Haifa, übernehmen das dazugehörige Kino „Stadtgarten“ und geben ihre Bühnenkarriere auf. Da in der neuen Nachbarschaft orientalische Einwanderer leben, zeigen sie Filme in Hindu, Arabisch, Türkisch, Griechisch – alles Sprachen, die sie nicht verstehen. Aber sie sind zufrieden. In den 1970-er Jahren stirbt dann jedoch ein Ovitz nach dem anderen; die übrigen Geschwister können das Kino nicht halten und ziehen sich auf ’s Altenteil zurück.
1985 sagen sie in einem Verfahren in absentia gegen Mengele aus. „Ich habe die ganze Nacht geweint, als ich hörte, dass Dr.Mengele gestorben war … Ich hätte ihn hassen sollen, ich weiß, denn er war ein Mörder, aber er ließ uns leben … Gott wird ihn angemessen richten“, sagt Perla, die letzte der Geschwister. „Wenn ich ein gesundes jüdisches Mädchen gewesen wäre, einen Meter siebzig groß, wäre ich wie die Hunderttausenden anderen vergast worden … Meine Behinderung war Gottes einzige Möglichkeit, mich am Leben zu erhalten.“ Perla Ovitz stirbt erst 2001, im Alter von 80 Jahren.

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