Die starken Brüder Baruch


Den Ort Bad Kreuznach hat vor den 1920er Jahren im Ausland kein Mensch gekannt. Das ändert sich, zumindest in der Sportwelt, als die Brüder Julius und Hermann Baruch mit ihrer ASV 03 international für Furore sorgen. Die „Athletik Sportvereinigung 03 Bad Kreuznach“ war mit Hilfe der Baruchs aus dem Stemm- und Ringclub „Germania“ und dem „Athletikverein“ fusioniert und die Brüder hatten den Verein nach dem Ersten Weltkrieg, als die Alliierten Kraftsportvereine wieder erlaubten, groß gemacht und zusammen mit anderen Top-Athleten zur Spitzenklasse geführt. Sie treten im In- und Ausland von der Schweiz bis nach Finnland an und bringen für ihren Verein zig nationale und internationale Medaillen im Ringen und im Gewichtheben nach Hause. 1924 wird Julius Europameister im Gewichtheben, sein Bruder im Ringen. 1925 werden beide Deutsche Mannschaftsmeister im Ringen, ein Erfolg, den Hermann 1928 noch einmal wiederholen kann, während sein Bruder, inzwischen Trainer der Mannschaft, die Nachwuchsringer betreut und drei seiner Schützlinge später Deutsche Meister werden. Der Höhepunkt aber ist der Medaillenregen von 1924. Als die Brüder von den Europameisterschaften zurückkehren, steht ihre Heimatstadt Kopf. Die Bad Kreuznacher erwarten sie zu Tausenden am Bahnhof, tragen sie auf Schultern durch die Stadt, überhäufen sie mit Gratulationen. Jeder Junge will – wie seine Idole – Ringer oder Gewichtheber werden und der Concordia-Saal, in dem die Baruch-Brüder mit Jubel empfangen werden und wo viele ihrer Wettkämpfe stattfinden, ist mit Zuschauern überfüllt. Knapp zwei Jahrzehnte später ist der Concordia-Saal der Ort, von dem aus die Bad Kreuznacher ihre Juden in den Tod schicken, die Deportationssammelstelle…

Die Baruchs sind Juden. Die Familie war zum Ende des 19. Jahrhunderts aus dem armen Hunsrück nach Bad Kreuznach gekommen. Salomon und Karoline Baruch haben neben Julius (*1892) und Hermann (*1894) drei weitere Kinder: Emma (*1889), Adolf (*1891) und Johanna (*1901). Alle drei Söhne ziehen für „Volk und Vaterland“ in den Ersten Weltkrieg. Die Mutter verdient, nach dem frühen Tod ihres Mannes mit einem kleinen Gemüseladen den Lebensunterhalt der Familie. Ihr Stolz ist, dass alle Kinder eine Berufsausbildung machen, auch ihre zwei Sportskanonen. Hermann wird Polsterer und Tapezierer und eröffnet in der Hochstraße 38 eine eigene Polsterei. Julius wird Buchdrucker, findet aber keine Arbeit und macht im selben Haus einen Autoverleih mit Taxibetrieb auf (der Schriftzug „Autovermietung Julius Baruch“ war hier bis in die 1980er-Jahre zu lesen). Die Geschäfte laufen gut, vor allem dank des sportlichen Ruhms der Brüder.
Bis zur Machtübergabe 1933. Von einem Tag auf den anderen werden die Baruchs wie alle anderen Juden zum Freiwild. Am 31. März findet eine überfüllte Großkundgebung der NSDAP statt, bei der Kreisleiter Schmitt verkündet: „Ab morgen früh wird der Abwehrkampf … einsetzen: Kein Deutscher darf bei einem Juden kaufen, zu einem jüdischen Arzt oder Rechtsanwalt gehen … Wenn unser Führer befiehlt, mit noch schärferen und den letzten Mitteln einzugreifen, wird jeder von uns mit Freude diesem Befehl folgen.“
Und so kommt es. Julius wird verboten, als Trainer zu arbeiten, Hermann darf nicht mehr als Sportler starten, der Boykott jüdischer Geschäfte trifft sie beide gleichermaßen hart. Noch 1933 verhelfen Julius und seine Frau einem Freund, dem von den Nazis steckbrieflich gesuchten kommunistischen Gewerkschaftler Hugo Salzmann, zur Flucht: sie schaffen ihn heimlich (der Legende nach in einem Sack versteckt) in ihrem schwarzen Ford über die Grenze. 
Hermann hingegen stellt als Polsterer zusammen mit einem Nichtjuden Möbel mit Geheimfächern für Flüchtende her, die versuchen, wenigstens einen Teil ihrer Wertgegenstände mit ins Ausland zu retten. Als die Gestapo das entdeckt, flieht Hermann 1938 nach Belgien. An seiner Stelle wird Julius verhaftet und wegen „Beihilfe zu Devisenvergehen“ zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Er kommt völlig abgemagert aus der Haft zu seiner Familie zurück. Hermann hingegen wird nach der deutschen Besetzung in Antwerpen gefasst, über Gurs 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Sein genaues Todesdatum ist nicht bekannt.
Julius Baruch, der glaubt, als ehemaliger Frontkämpfer, Europameister und Ehemann einer Nichtjüdin geschützt zu sein, wird tatsächlich mehrmals von der Deportation zurückgestellt. Er ist der Letzte der Baruchs in Bad Kreuznach. Karoline, die Mutter, verhungert 1942 im KZ Theresienstadt, die Schwestern Johanna und Emma werden ermordet, die eine 1941 in Minsk, die zweite 1943 in Auschwitz-Birkenau. Allein der Bruder Adolf kann auszureisen, weil seine Frau Verwandte in Argentinien hat, die als Bürgen einstehen. 1944 wird dann auch Julius Baruch verhaftet. Nach mehreren Monaten im Gefängnis von Bad Kreuznach wird er Anfang 1945 nach Buchenwald deportiert. Sein Mithäftling Karl Planz: „Julius war in einer sehr schlechten körperlichen und seelischen Verfassung… Hier bekam er Typhus und kam ca. vier Wochen in die Isolierbaracke. Danach traf ich Baruch in einem schlechten Zustand, ich habe ihm zugeredet, nicht die Hoffnung aufzugeben, da es sich nur noch um Tage handeln könne…“. Julius Baruch stirbt zwei Monate vor der Befreiung des Lagers. 

Es sind ehemalige Leidensgefährten und Freunde, die jahrelang dafür gekämpft haben, dass man sich in Bad Kreuznach der Baruchs erinnert. Mit spätem Erfolg. Seit 1996 gibt es hier die Gebrüder-Baruch-Straße, inzwischen auch eine Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus der Familie und Stolpersteine für die fünf Ermordeten.


_Der ASV 03; 2. und 3. von rechts: die Brüder Baruch

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