Karratsch, der Regenmeister

Caracciola. Der Mann, dessen Name wie eine italienische Süßigkeit klingt, war der europaweit erfolgreichste Autorennfahrer der Vorkriegszeit. Geboren wurde Otto Wilhelm Rudolf Caracciola, genannt „Karratsch“, am 30. Januar 1901 als viertes Kind von Mathilde und Maximilian Caracciola, Hotelbesitzer zu Remagen (die Familie entstammte einem neapolitanischen Adelsgeschlecht und war seit dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg im Ko­blen­zer Raum an­säs­sig). Rudolf war schon als Kind autoverliebt, durfte mit dem Mercedes der Eltern probefahren (was dem Auto nicht gut tat) und mit 15 Jahren dank einer Sondererlaubnis den Führerschein machen. Sein erstes Auto war ein Mercedes 16/45, doch die Rennfahrerkarriere begann er 1919 als Lehrling bei der Fafnir Automobil Fabrik in Aachen auf einem NSU-Motorrad. 1922 ge­wann er das Mo­tor­rad­ren­nen „Rund um Köln“ un­d ein Jahr später im Ber­li­ner Gru­ne­wald­ sei­n erstes Au­to­ren­nen. Den end­gül­ti­gen Durch­bruch er­ziel­te der Fahrer mit dem Kindergesicht, als er 1926 überraschend – es goss in Strömen und er konnte von seinem „physikalischen Instinkt“ und seinen un­ge­wöhn­li­chen Fahrfä­hig­kei­ten auf nas­ser Stre­cke profitieren – den Gro­ßen Preis von Deutsch­land auf der Ber­li­ner AVUS gewann. An diesem Tag wurde auch sein Ruf als „Re­gen­meis­ter“ ge­bo­ren (eine Vokabel, die es bis ins Englische geschafft hat). 
Dann ging es Schlag auf Schlag. Als Werks­fah­rer bei Daim­ler Benz setzte der unaufgeregte Rheinländer sei­ne Sie­ges­se­rie fort. Insgesamt fuhr er für Mercedes Benz in zehn Jahren 137 Sie­ge und 17 Weltrekorde ein. Auf sein Konto geht der erste Sieg eines Nicht-Italieners bei der Mille Miglia 1931 in Italien, der Gewjnn mehrerer Europa-Bergmeisterschaften auf Mercedes-Benz und Alfa Romeo sowie des ersten Rennens auf dem neu gebauten schwierigen Nürburgring. 1933 folgte eine Zwangspause: Caracciola verunglückte beim Training zum Großen Preis von Monaco schwer und sein zertrümmertes rechtes Bein blieb nach Monaten im Gips um fünf Zentimeter verkürzt. 

Caracciola litt dauerhaft unter starken Schmerzen litt, fuhr aber weiter. Zwischen 1934 und 1939 wurde er dreimal Europameister (das entspricht etwa dem heutigen Formel-1-Weltmeister-Titel). Diese Jahre, in denen Manfred von Brauchitsch, Hermann Lang, Hans Stuck und Bernd Rosemeyer seine stärksten Konkurrenten waren, gingen als Silberpfeil-Ära in die Renngeschichte ein. Sie soll zu ihrem Namen gekommen sein, nachdem die Mercedes-Wagen beim Eifelrennen 1934 ein halbes Kilo schwerer als das zulässige Maximalgewicht waren und der Rennleiter deren weiße (deutsche) Farbe abkratzen ließ, um das Gewicht zu verringern: übrig blieb das silbrige blanke Aluminium und der Name.
Caracciola stellte daneben etliche Geschwindigkeitsweltrekorde auf, den nachhaltigsten am 28. Januar 1938. An diesem Tag trat er auf einem abgesperrten, kerzengeraden Abschnitt der neuen Reichsautobahn zwischen Frankfurt und Darmstadt (heute A5) gegen seinen Dauerrivalen Bernd Rosemeyer an. Beide wollten einen neuen Rekord auf öffentlicher Straße aufstellen. Karratsch, der als erster startete, erreichte eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 432,7 km/h – ein Weltrekord, der fast 80 Jahre hielt (bis 2017, als der Schwede Niklas Lilja auf einem Highway in Nevada 15 km/h mehr erreichte). Rosemeyer hingegen geriet in eine Windböe, überschlug sich mehrfach, wurde aus dem Cockpit geschleudert und war sofort tot.

Im Juli 39 gewann Caracciola noch einmal (wieder bei Mistwetter) den Großen Preis von Deutschland, und zog dann mit seiner Frau Alice (seine erste Frau war 1934 bei einem Lawinenunglück umgekommen) in die Schweiz…

Der Rennsport war eines der großen, mit enormen Summen finanzierten mentalen und medialen Projekte des NS-Regimes (und der Autoindustrie), deutsche Siege und Sieger waren goldwert in der Propagandaschlacht und „deutsche Helden“. So auch Caracciola. Dessen Verhältnis zum NS-Staat war dennoch mindestens ambivalent. Hitler hatte ihn zwar 1931 nach seinem Sieg bei der Mille Miglia persönlich empfangen, soll aber Vorbehalte gegen den Fahrer gehabt haben, allein wegen dessen „unarisch“ klingenden Namens. Caracciola selbst war seit 1933 im NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps), andererseits wurden damals alle ADAC-Mitglieder automatisch in dessen Register übergeführt (andere Kollegen wie Bernd Rosemeyer waren sogar in der SS). Und er lebte dauerhaft in der Schweiz und folgte der Aufforderung der Reichskanzlei auch nicht, zurückzukehren, woraufhin man ihm die vertraglich vereinbarte Rente strich und ihm, da er nicht eingezogen werden konnte, Fahnenflucht vorwarf. Caracciola blieb in der Schweiz und wurde 1949 deren Staatsbürger.

Nach dem Krieg konnte Rudolf Caracciola nicht mehr an die alten Erfolge anknüpfen. 1946 verunglückte er beim Training in Indianapolis, als ein Vogel sein Gesicht streifte; der nächste schwere Crash bei einem Schweizer Rennen beendete seine Karriere 1952 endgültig. Caracciola starb am 28. September 1959 in Kassel und wurde in Lugano begraben. Zu sei­nem 100. Ge­burts­tag 2001 wurde ein Stre­cken­ab­schnitt der Nord­schlei­fe des Nür­burg-Rings in „Ca­rac­cio­la-Ka­rus­sell“ um­be­nannt und in sei­ner Hei­mat­stadt Re­ma­gen ein Denk­mal errichtet.

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