Raiffeisen und die Genossenschaftsidee

Raiffeisen, Friedrich Wilhelm Heinrich 🎂30.3.1818, bekannt als Sozialreformer und Pionier der Genossenschaftsbewegung und weil bis heute Banken etc seinen Namen tragen (leider kein Freund einer bestimmten Spezie)

Als F.W.H. Raiffeisen geboren wurde, waren seine Vorfahren seit 75 Jahren fast ununterbrochen Bürgermeister von Hamm und er eines von neun Kindern. Er besuchte die Volksschule und wurde vom örtlichen Pfarrer weiter unterrichtet. Da die Familie zu arm war, ein Studium zu finanzieren – der Vater war krankheitsbedingt früh als Ernährer ausgefallen und die Mutter weitestgehend auf sich gestellt – meldete sich Raiffeisen mit 17 Jahren für eine Offizierslaufbahn in der preußischen Armee in Köln.

1838 wurde er zur Inspektionsschule nach Koblenz abkommandiert, wo er technisches Detailwissen erhielt, das ihm später beim Schul- und Wegebau nützlich sein sollte. 1840 legte er die Prüfung zum Oberfeuerwerker ab und wurde er nach Sayn versetzt, wo er für die Abnahme der dort produzierten Eisenmunition zuständig war. In dieser Zeit erkrankte er an einem Augenleiden, so dass er 1843 den Dienst quittieren musste, hatte aber Glück, weil ihm ein Onkel eine Stelle in der zivilen Verwaltung in Koblenz verschaffte. Dort war er offenbar so emsig, dass man ihn noch im selben Jahr zum Kreissekretär für Mayen/Eifel ernannte. Und schon Anfang 1845 wurde Raiffeisen im Alter von 27 Jahren Bürgermeister in Weyerbusch. Im selben Jahr heiratete er die Apothekerstochter Emilie Storck aus Remagen. Von ihren sieben gemeinsamen Kindern starben drei noch im Kindesalter. 

Raiffeisen bewährte sich auch in Weyerbusch, unter anderem setzte er sich für den Bau von Schulen und einer wichtigen Überlandstraße (heute „Raiffeisenstraße“) ein, was seine Vorgesetzten veranlasste, ihn 1849 zum Bürgermeister des größeren Amtsbezirks Flammersfeld und 1852 von Heddesdorf (heute ein Stadtteil von Neuwied) zu machen. 
Raiffeisen war ein bürgernaher Gemeindevorsteher, der sich die Nöte und Sorgen anhörte und versuchte, die Lage zu verbessern. Viele Schulen waren damals in einem sehr schlechten Zustand und die Kinder wurden in den nassen, kalten Räumen oft krank. Raiffeisen ließ in seinen Jahren als Bürgermeister immer wieder neue Schulen errichten, und Straßen bauen, denn es gab vorher oft nur unbefestigte Lehmwege, die für die Landwirte mit ihren Produkten bei Regenwetter kaum passierbar waren, vor allem, wenn sie arm waren, und am beginnenden technischen und agrarwirtschaftlichen Fortschritt nicht teilhaben konnten. 
In dieser Zeit hatte Raiffeisen aber auch Erfahrungen mit gemeinschaftlichen Zusammenschlüssen gesammelt und schon im Notwinter 1848/49, der einer schweren Missernte folgte und mit einer Preisexplosion einherging, eine Armenkommission, den „Weyerbuscher Brotverein“ gegründet, der Lebensmittel aus staatlichen Magazinen verteilte, und in den wohlhabenderen Bürger einzahlten, damit gemeinschaftlich Saatgut bezahlt und ein Gemeindebackhaus gebaut werden konnte. 1849 folgte der „Flammersfelder Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“, dessen Mitglieder eine gemeinsame Bürgschaft für die aufzunehmenden Kredite des Vereins unterschrieben (Raiffeisen selbst bezeichnete dies später als Gründungsdatum des
Genossenschaftsgedankens) und 1854 
der „Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein“. 

Die Gegend war geprägt von der 
beginnenden Industrialisierung. Viele Arbeiter waren gezwungen, nach einem zwölfstündigen Arbeitstag noch ihre kleine Landwirtschaft zu bewirtschaften. Sie und die kleineren Handwerksbetriebe waren oft überschuldet und der Verein erteilte ihnen günstige Kredite: Hilfe zur Selbsthilfe, statt Almosen. Raiffeisen hatte sich anfangs, als überzeugter evangelischer Christ auf die Gebote der Nächstenliebe und Wohltätigkeit berufen, erkannte später aber, dass dies 
keine nachhaltige Grundlage für seine Vereine bot und betonte nun zunehmend diesen Gedanken der Selbsthilfe und gegenseitigen Verantwortung. Aus dem Wohltätigkeitsverein wurde 1862 der „Heddesdorfer Darlehenskassenverein“, in dem man als Kreditnehmer erstmalig Mitglied werden musste – er kann damit als erste Genossenschaftsbank nach unserem heutigen Verständnis gelten. In Verbindung mit dem Wirken der Reformer Hermann Schulze-Delitzsch und Wilhelm Haas, die mit dem verpflichtenden Erwerb von Geschäftsanteilen von Anfang an auch die Kreditnehmer zu Partnern (und Mithaftenden) machten, wurde das Genossenschaftswesen für alle Beteiligten populär. 

1863 verstarb Raiffeisens Frau. 1865 wurde er wegen seiner nervösen Störungen und dem Augenleiden pensioniert. Aufgrund der wenigen Dienstjahre, er war erst 47, bekam nur eine kleine Pension und versuchte diese als Zigarrenhersteller und später als Weinhändler aufzubessern. Sein Hauptanliegen aber blieb die Genossenschaftsidee. 1865 veröffentlichte er sein Buch „Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter“. Das Buch wurde ein ungeahnter Erfolg und fand in mehreren Nachauflagen weite Verbreitung.

Gleichzeitig entwickelte er Ideen, wie sich die Vereine gegenseitig helfen können, wenn manche zu hohe Einlagen und andere zu hohen Kreditbedarf haben. Er gründete Zentralkassen, so die Geldausgleichsstelle der rheinischen landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank und die „Deutsche landwirtschaftliche Centralbank“, die den überregionalen Geldausgleich zwischen den einzelnen Darlehnskassen übernahmen, und 1877 einen Spitzenverband unter Beteiligung von 24 Darlehnskassen-Vereinen, den „Anwaltschaftsverband ländlicher Genossenschaften“.

1868 hatte Raiffeisen die Witwe Maria Penserot geheiratet, die ihm offenbar keine große Hilfe war. Jedenfalls verdonnerte er, als sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechterte, seine älteste Tochter Amalie, ihm „für die gute Sache“ zu dienen und verlangte später sogar von ihr, deswegen auf eine geplante Ehe zu verzichten – ein Wunsch, dem sie am Ende auch nachkam. Raiffeisen war ein schwer beschäftigter Mann und in den 1870er-Jahren existierten in der Rheinprovinz schon 75 Vereine, von denen er immer wieder als Berater und Referent angefragt wurde. In dieser Rolle war er 1880 auch in Oberschlesien unterwegs, Gelegenheit, ein weniger schönes Kapitel in Raiffeisens Vita  anzusprechen: sein Verhältnis zu Juden. 

Bei dieser Reise im Auftrag des preußischen Landwirtschaftsministeriums waren ihm die jüdischen Händler aufgefallen – historisch bedingt waren sie zu der Zeit die einzigen Kreditgeber für die kleinbäuerlichen Landwirte –, die er nun als „die Wucherer“ ausmachte. Einerseits behauptete er: „Ich habe mich bei der Agitation und der Hetzerei gegen die Juden nie beteiligt.“ Im selben Atemzug aber: „Ich betrachte es für die Bevölkerung als das allein richtige und zugleich wirksamste Mittel, wenn sich dieselbe von den Juden selbst emancipiert, die betreffenden Geschäfte, namentlich die Geldangelegenheiten, selbst in die Hand nimmt und sich so vor den bisherigen verderblichen Einflüssen der Juden selbst schützt.“
Seine Verteidiger führen ins Feld, dass Raiffeisen insgesamt in der Lage gewesen sei zu differenzieren, nicht in allen jüdischen Händlern Wucherer gesehen habe, denn es gebe auch „edle Israeliten“, dass er versucht habe, seine Vorbehalte gegen Juden mit Bezug auf den Nationalökonomen Alfred von Kremer und auf Martin Luther wissenschaftlich zu begründen (aber nicht genügend Literatur zur Verfügung gehabt habe), und eben „ein Kind seiner Zeit“ gewesen sei, keinesfalls aber ein Antisemit.

Doch so einfach dürfte die Sache nicht liegen. Friedrich Wilhelm Raiffeisen hat sich nicht nur beiläufig über Juden geäußert. 1881 veröffentlichte er im „Landwirthschaftlichen Genossenschafts-Blatt“ den fünfseitigen Aufsatz „Die Judenfrage“ und im selben Blatt einen Aufsatz „Die Juden in Spanien“. 1885 hielt er darüber hinaus am Vereinstag, einer Zusammenkunft der ländlichen Genossenschaftsvertreter, eine Rede, die protokolliert wurde. Quintessenz: „Die“ Juden streben seit dem Mittelalter nach Herrschaft, ihre Vertreibung aus Spanien war die gerechte Strafe für ihren Verrat an den Westgoten und höhere Fügung. Wären sie nicht vertrieben worden, wären ihnen die ungeheuren Reichtümer Amerikas in die Hände gefallen. Schon der „spanische Rothschild“, Don Diego de Suson, habe damals eine „goldene Internationale“ gebildet, aus deren Fesseln sich Europa nicht mehr habe freien können. Auch die 1860 gegründete internatinale „Alliance Israélite Universelle“ zeige, dass die Juden nach Herrschaft strebten. Gefahr drohe der Raiffeisenbewegung also nicht nur von der „roten“, sondern auch von der „goldenen“ Internationale, denn Juden seien dank ihres „Nationalcharakters“ Wucherer, sie betrügen, beherrschen den Vieh- und den Geldmarkt, meiden körperliche Arbeit, missbrauchen die Presse oder zusammenfassend in seinem Wortlaut: „Ja man kann ohne Bedenken das Thun und Treiben vieler Juden als ein staatsgefährliches im wahren Sinne des Wortes bezeichnen.“ Soweit. So schlecht. Und nicht weiter verwunderlich, dass die Nazis in ihm ihren „Vater Raiffeisen“ sahen, der das „deutsche Bauerntum“ aus den „Klauen der jüdischen Zinswucherer“ befreit habe (Gustav Simon, Gauleiter Koblenz-Trier, zu Raiffeisens 50. Todestag 1938).

Der die Zeit überdauernde Verdienst Raiffeisens bleibt es, die Genossenschaftsidee von Selbsthilfe, -verwaltung und -verantwortung verbreitet und die ersten überregionalen Universalgenossenschaften 
initiiert zu haben, deren Ansatz sich heute regional und weltweit in nahezu jeder Branche wiederfindet, von Genossenschaftsbanken, über Wohnungsbau- bis hin zu Energiegenossenschaften. Seit 2016 steht die „Genossenschaftsidee“ auf der UNESCO-Liste zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes.

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