
Sie war eine Art weiblicher Michelangelo des 12. Jahrhunderts, eine Universalgelehrte ihrer Zeit, Mystikerin, Äbtissin, Ärztin, Dichterin, Komponistin, Predigerin. Geboren wurde sie 1098 als zehntes Kind der Freiedlen Hildebert und Mechthild wahrscheinlich in Bermersheim in der Pfalz. Seit ihrem fünften Lebensjahr wurde sie ihren eigenen Angaben nach von Visionen heimgesucht und mit acht, wie damals üblich, in das Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg zu Jutta von Sponheim in religiöse Erziehung gegeben.
1136 wird sie deren durchsetzungsfähige Nachfolgerin, die ihr eigenes Kloster Rupertsberg bei Bingen gründete und bald die Erlaubnis erhielt, ihre zahlreichen Visionen zu veröffentlichen (die Beschreibungen ihrer körperlichen Zustände interpretierte der Neurologe Oliver Sacks als Symptome einer schweren Migräne). Für sie selbst boten die ihr „zufallenden“ Visionen die Möglichkeit, ihre Aussagen gegen die Lehrmeinung abzusichern, dass Frauen aus eigener Kraft nicht zu theologischen Erkenntnissen in der Lage seien. Und sie konnte so, das war äußerst ungewöhnlich für eine Frau des frühen Mittelalters, öffentlich auf Marktplätzen predigen und in erstaunlich offenen Worten mit hohen Würdenträgern von Kaiser Barbarossa, über Bernhard von Clairvaux bis Papst Alexander III., korrespondieren, die ihren Rat allesamt offenbar schätzten.
Hildegard setzte ihre Interessen mit starkem Selbstbewusstsein durch, mehrte die Güter ihres Klosters (was ihr den Neid einiger männlicher Geistlicher einbrachte), und schrieb liturgische Gesänge und Melodien, die wegen ihrer weiträumigen Tonumfänge und großen Intervalle eine Sonderstellung in der Gregorianik einnehmen. Vor allem aber sind es drei theologische Werke, die ihren Ruhm begründeten. Ihr Hauptwerk – „Scivias“ (Wisse die Wege) – ist eine in 26 Visionen dargestellte Glaubenslehre, in der Welt- und Menschenbild untrennbar mit dem Gottesbild verwoben werden. In „Liber vitae meritorum“ (Buch der Lebensverdienste) stellt sie 35 Laster und Tugenden einander gegenüber. Und „Liber divinorum operum“ (Buch der göttlichen Werke) beschreibt die Schöpfungsordnung gemäß der mittelalterlichen Vorstellung als etwas, in dem Leib und Seele, Welt und Kirche, Natur und Gnade in die Verantwortung des Menschen gestellt sind.
Der Gedanke der Einheit und Ganzheit findet sich auch elementar in ihren natur- und heilkundlichen Schriften wieder: „Drei Pfade hat der Mensch in sich, in denen sich sein Leben tätigt: die Seele, den Leib und die Sinne“. Nur wenn diese Aspekte ausgewogen beachtet werden, bleibe oder werde der Mensch gesund. In „Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum“ (Das Buch von den Geheimnissen der verschiedenen Naturen der Geschöpfe) und in „Causae et curae“ (Ursachen und Behandlungen) beschreibt Hildegard die Eigenschaften und Wirkungen von Kräutern, Bäumen, Edelsteinen, Tieren und Metallen sowie Krankheiten und ihre Behandlung, indem sie das damalige Wissen aus der griechisch-lateinischen Tradition mit dem der Volksmedizin und eigenen Ansichten zusammenbringt…
Bereits zu Lebzeiten wurde Hildegard wie eine Heilige verehrt. 1228 wurde ein erstes Heiligsprechungsverfahren eingeleitet, aber aufgrund von Widerständen Mainzer Bischöfe nicht abgeschlossen; aufgenommen in den Kanon der Heiligen wurde sie 1584. Ihr Gedenktag in der katholischen wie evangelischen Liturgie ist der 17. September – ihr Todestag (sie ist 1179 mit 82 Jahren im Kloster Rupertsberg gestorben).
In den 1970er-Jahren wurde Hildegard wiederentdeckt. Vor allem ihre Gesundheits- und Ernährungslehre erfreut sich zahlreicher Anhänger, denen sie als Urmutter der europäischen Alternativmedizin gilt. Unter dem (Marketing-)Begriff „Hildegard-Medizin“ wird alles Mögliche verkauft – vom Kräuterlikör über Kosmetika bis zu heilenden Edelsteinen. Einiges (wie die Empfehlung von Dinkel-Produkten) stammt tatsächlich von ihr, anderes gab es zu ihren Lebzeiten noch gar nicht, oder es dürfte der Gesundheit bzw. Gesundung eher abträglich sein.
Wer es trotzdem versuchen möchte – hier ein paar Tipps aus ihrem Werk „Heilwissen“:
_Gegen Haarschwund: Wenn einem jungen Menschen die Haare ausfallen, so mische er Bärenfett und Staub von Weizenkleie und salbe damit das ganze Haupt, besonders da, wo der Haarschwund ist. Diese Salbe muss er lange auf dem Kopfe lassen…
_Gegen Impotenz: Ein Mann, dem der Samen abgeht, so dass er nicht zeugen kann, nimmt Haselkätzchen und zum dritten Theil davon Mauerpfeffer und zum vierten oder fünften Theil von Mauerpfeffer Winde und etwas gewöhnlichen Pfeffer und kocht dies zusammen mit der Leber eines jungen Hirsches, der schon reif ist zur Fortpflanzung, fügt auch etwas frisches, fettes Schweinefleisch hinzu. Die Kräuter wirft man weg, das Fleisch isst man, taucht auch Brot in die Brühe und isst es, und dieses Essen wiederholt man häufig …
_Gegen Trunkenheit: Um einen Trunkenen wieder zu sich zu bringen, nehme man Hundszunge, lege sie in kaltes Wasser und befeuchte damit Stirn, Schläfen und Kehle des Trunkenen… Im Herbst kann man von einem frischen Weinstock den Rebschoss mit frischen Blättern nehmen und auf Stirn, Schläfen und Kehle legen…
_Gegen Verrücktheit: Wenn einer erkältetes Gehirn hat und verrückt wird, nehme man Lorbeerfrüchte, pulverisiere sie, mische und knete das Pulver mit Weizenmehl und schmiere diesen Teig, nachdem die Haare abrasiert sind, auf dem Kopf und lege einen Verband von Filz darüber, damit das Gehirn wieder warm werde… und er wird wieder zu Sinnen kommen.
_Gegen unmäßiges Lachen: Wer durch unmäßiges Lachen erschüttert Schmerzen hat, pulverisiere Muscatnuss, füge die Hälfte Zucker hinzu und tue dies in erwärmten Wein und trinke ihn nüchtern und nach dem Frühstück.
_Gegen Fieber: Wer an täglichen Fiebern leidet… soll zuerst essen, damit seine Adern Speisesaft aufnehmen und erwärmen; dann trinke er Wein, und er wird ihm nicht schaden. Wenn er Wein nicht hat, trinke er Bier, wenn auch dies nicht da ist, Meth, wenn er auch den nicht hat, koche er Wasser, lasse es abkühlen und trinke es… Beim Frühstück aber trinke er Wein; der ist ihm zuträglicher als Wasser. (sic!) ***
_Hildegard von Bingen empfängt eine göttliche Inspiration und gibt sie an ihren Schreiber, den Mönch Vollmar, weiter, Frontispiz des „Liber Scivias“ aus dem Rupertsberger Codex (um 1180)
