
Eine Biografie über James Simon zu schreiben sei einem Einzelnen unmöglich, befanden Zeitgenossen des »edelsten Kunstmäzenen unserer Zeit«, wie das 8-Uhr-Abendblatt zu seinem 80. Geburtstag titelte. Zu vielfältig war das Lebenswerk dieses Mannes, dessen sicherer Geschmack – gepaart mit Bürgersinn und Philanthropie – seinem Berlin mit dazu verholfen hatte, von der Hauptstadt auf dem Papier zu einer tatsächlichen (Kultur-)Metropole zu werden.
Nicht viel später, am 23. Mai 1932, starb James Simon. Die Beerdigung auf dem Jüdischen Friedhof Schönhauser Allee (Feld L3, G3) ging ohne Rabbiner vonstatten und ohne Aufsehen – ganz Simon. Wilhelm II. ließ es sich dennoch nicht nehmen, seinem (neben Albert Ballin und den Brüdern Rathenau) höchstgeschätztesten »Kaiserjuden« aus dem niederländischen Exil einen Kranz ans Grab zu schicken. Der liberale Unternehmer war jahrzehntelang Wilhelms Berater gewesen, in Kunstfragen und in allen jüdischen Angelegenheiten. (Anders als der Vorstand der Jüdischen Gemeinde hatte er den nicht eben als Judenfreund bekannten Kaiser 1912 sogar zu einem Besuch der neuen Synagoge in der Fasanenstraße überreden können.)
Henri James Simon war am 17. September 1851 als Sohn des wohlhabenden Textilhändlers Isaak Simon und seiner Frau Adolphine, einer Rabbinertochter, in Berlin geboren worden. Obwohl sich der Junge mehr für Alte Sprachen und die Antike interessierte, er besuchte das humanistische Gymnasium zum »Grauen Kloster«, entsprach er dem väterlichen Wunsch in das Familienunternehmen einzusteigen. Mit 25 war er Teilhaber bei »Gebrüder Simon« in der Klosterstraße und heiratete drei Jahre später in die angesehene jüdische Bürgerfamilie Reichheim ein.
Vor dem 1. Weltkrieg hatte sich »Gebrüder Simon« zum wichtigsten Baumwollunternehmen auf dem Kontinent gemausert und machte 50 Mio. Umsatz im Jahr; mit einem Vermögen von 35 Mio. Mark stand »Bauwollkönig« James Simon an siebter Stelle der reichsten Berliner. Bis zum Ruin der Firma, herbeigeführt durch hohe Verluste im Krieg (Simon lieferte u.a. nicht ans Heer), die Weltwirtschaftskrise und Fehlinvestitionen, spendete der Kaufmann in jedem Jahr ein Drittel seines Einkommens für soziale Zwecke.
Auch wenn Simon kein sonderlich gesetzestreuer Jude war, so hatte er doch die maimonidischen Prinzipien der Zedaka verinnerlicht. Hinzu kam die Erfahrung der Krankheit und des frühen Todes eines seiner drei Kinder, der geistig behinderten Marie-Luise. Wie andere Juden in der Berliner Geschäftswelt gründete oder unterstützte Simon diverse jüdische und konfessionsübergreifende Stiftungen oder Vereine – für verwahrloste Jugendliche und Waisen, für »Berliner Ferienkolonien« (dank ihrer konnten sich jedes Jahr 5000 Arbeiterkinder an der Ostsee erholen), für (kulturelle) »Volksunterhaltung«. Er hatte unzählige Ehrenämter inne, richtete für seine Mitarbeiter eine firmeneigene Pensionskasse ein, stiftete die erste Berliner »Volksbadeanstalt« (heute Stadtbad Mitte) und war in rund 60 wohltätigen Vereinen aktiv, Mitglied der Armenkommission der Jüdischen Gemeinde und Mitinitiator des »Hilfsverein der deutschen Juden«, der das Erziehungswesen in Osteuropa und Palästina förderte. Bei vielen seiner Aktivitäten blieb er im Hintergrund. Ein »Tue Gutes und rede darüber« wäre Simon wesensfremd gewesen; von ihm ist der Satz überliefert: »Dankbarkeit ist eine Last, die man niemandem aufbürden sollte«.
Auch sein Engagement für die Kunst begann früh. Ließ er sich anfangs noch vom Direktor der Berliner Museen Wilhelm Bode beraten, dessen wichtigster Privatsammler er war, wurde Simon schnell zu einer eigenständigen Sammlerpersönlichkeit. Mit 34 kaufte er seinen ersten Rembrandt, und schenkte den Berliner Museen zum ersten Mal ein Kunstwerk, ein kostbares Gemälde Francesco di Vanuccios aus dem Jahre 1380. 1898 gründete er am Geburtstag Friedrichs des Großen mit Gleichgesinnten die Deutsche Orient-Gesellschaft, um Grabungsexpeditionen nach Syrien, Mesopotamien und Ägypten finanzieren und der englisch-französischen Konkurrenz trotzen zu können. Der rührige Simon gab nicht nur selbst große Summen, sondern beteiligte sich auch sonst aktiv – er warb im ganzen Reich neue finanzkräftige Mitglieder, hielt Vorträge über Archäologie, betrieb professionelle PR, begeisterte den Kaiser und erreichte die Beteiligung des Staates an den Grabungskosten. Somit konnte die Gesellschaft in Babylon graben lassen, wo das Ischtar-Tor entdeckt wurde, in Galiläa waren es Synagogenruinen, in Tell-el-Amarna antike Bildhauerateliers und mit ihnen 1912 auch der »Große Kopf Echnatons« und die spektakuläre Porträtbüste seiner Gattin Nofretete. Der Ägyptologe Hermann Ranke, der den Kopf gefunden hatte, schrieb damals begeistert in sein Grabungstagebuch: »Beschreiben nützt nichts, ansehen!«. Auch Wilhelm Zwo kam sofort – in Simons Villa in der Tiergartenstraße 15a (heute Landesvertreteung BaWü), wo »die bunte Königin« in ihren ersten Berliner Jahren stand, denn Simon war Alleinfinanzier der Grabung gewesen, und der Kaiser erschien auch sonst regelmäßig hier, um die neuesten Schätze des Sammlers zu bewundern (Simons letzte öffentliche Handlung kurz vor seinem Tod war es im Übrigen sich für die Rückgabe der Nofretete zu verwenden, wenngleich ihm die ägyptische Regierung die Besitzrechte an dem Kopf vertraglich attestiert hatte).
Zur Eröffnung des Kaiser-Friedrich-Museums 1904 (heute Bodemuseum) hatte der Liebhaber italienischer Malerei bereits seine berühmte Renaissance-Sammlung gestiftet, mit Werken wie Giovanni Bellinis »Porträt eines jungen Mannes« und Andrea Mantegnas »Maria mit dem Kinde«, insgesamt 450 Bilder. Später folgten unzählige weitere Schenkungen an die Berliner Museen – Gemälde, Münzen, Plastiken, Möbel, Holzschnitte. Allein das Ägyptische Museum erhielt die unglaubliche Anzahl von 5000 Exponaten von Simon. Heute sind die Skulpturen der Nofretete und Teje oder das Ischtar-Tor mit der löwenverzierten Prozessionsstraße Publikumsmagnete und Aushängeschilder Berlins.
Der omnipotente Wilhelm von Bode hat es zum Adelstitel und posthum zu seinem »eigenen« Museum – dem Bodemuseum – gebracht. Den Mann, dem er einen Großteil seiner Exponate zu verdanken hatte, haben die Nazis (sie ließen 1939 das »Gestiftet von James Simon« auf den Objektschildern sämtlicher Exponate durch »Geschenk« ersetzen) erfolgreich aus dem Berliner Gedächtnis verdrängt. Erst in den letzten Jahren erinnert man sich hier des bedeutetendsten Mäzens, den die Berliner Museen je hatten. Nun trägt ein Park und das neue Besucherzentrum der Museumsinsel seinen Namen. Ob ihm das gefallen würde? Man weiß es nicht. Orden und Auszeichnungen ließ der weltscheue Weltbürger sich von Boten nach Hause schicken – sie bedeuteten ihm nichts.
