
1988 brachten mir Freunde Kartons mit Papieren aus dem Nachlass meiner Mutter, die kurz zuvor in Ostberlin gestorben war, nach München mit. Ich war lange nicht in der Lage, mir diese Dinge anzusehen. Ich habe die Kartons bei jedem Umzug mitgeschleppt, sie aber ansonsten nicht angefasst. Jahre später, vielleicht um 1995, fasste ich mir ein Herz und sah die Papiere zumindest durch – Ausweise, Urkunden, Postkarten, Zettel, Fotos, ganz offensichtlich auch Dinge, die nicht von ihr stammten, sondern möglicherweise von älteren Freundinnen, die vor ihr gestorben waren, oder vom Flohmarkt. Vielleicht konnte sie, wie ich, überkommene Zeugnisse jüdischer Existenz nicht in »falschen« Händen ertragen. Ich weiß es nicht. Einiges, was mir gänzlich unwichtig erschien, warf ich weg, anderes, was ich nicht zuordnen konnte, ließ ich einfach liegen, und vergaß es irgendwann – darunter auch ein schwarzes Heft.
2005 sah ich mir in der Topographie des Terrors eine Ausstellung über das »Hausgefängnis« der Gestapo in der damaligen Prinz-Albrecht-Straße an. Hier waren Regimegegner von Georgi Dimitrow bis Georg Elser inhaftiert und verhört worden. Mir aber sprang ein anderer Name ins Auge. Ich kannte ihn, wusste aber nicht mehr woher. Die erkennungsdienstlichen Fotos sagten mir nichts – eine nicht mehr ganz junge Frau, sie trägt eine dunkle Strickjacke über einer hellen Bluse und auf einem der Fotos ein Barett, die Augen scheinbar braun, die Lippen zusammengepresst, die kurzen Haare nach hinten gekämmt und etwas derangiert. Aber der Name, der Name …
Irgendwann hatte ich es dann doch. Ich sah das schwarze Heft aus den Sachen meiner Mutter vor mir – hatte nicht auf dem Umschlag ein Zettel mit diesem Namen geklebt?
Ich sah in den alten Kisten nach. Der Zettel musste abgefallen sein, aber auf der 1. Heftseite stand Alt-Moabit, Winter 1935–36. Nachdem ich den Namen aus der Ausstellung im Internet eingegeben und die Daten verglichen hatte, war ich sicher, dass ich mich richtig erinnerte. Ich hatte Aufzeichnungen der Ärztin und Psychoanalytikerin Dr. Edith Jacobssohn vor mir.
Jacobson war 1935 wegen ihrer Mitarbeit in der sozialistischen Widerstandsgruppe Neu Beginnen von der Gestapo verhaftet und wegen Hochverrats zu zwei Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt worden. Nachdem sie schwer erkrankt war und vom Zuchthaus Jauer zur Behandlung in das Israelitische Krankenhaus Leipzig kam, konnte sie mit Hilfe von Freunden fliehen und gelangte über Prag 1938 nach New York, wo sie eine Praxis eröffnete. Sie starb 1978 und gilt heute – mit Arbeiten über Depressionen, über das weibliche Über-Ich und zur Affekttheorie – als eine der wichtigsten Psychoanalytikerinnen des 20. Jahrhunderts.
Im Internet stieß ich auf Veröffentlichungen über sie. Hier war auch von Gedichten und Aufsätzen aus der Haft die Rede, die aus dem Gefängnis geschmuggelt worden waren – so automatisch wie unbedacht ging ich davon aus, dass der Inhalt »meines« Heftes längst bekannt oder eine Abschrift war, legte es zum dritten Mal »zu den Akten« und vergaß es wieder … Der nächste Fauxpas.
Fast zehn Jahre später. Heute. Ich unterhalte mich mit meinem späteren Co-Herausgeber R.K., der über emigrierte jüdische Psychologen und Analytiker arbeitet. Kurz bevor wir »Gott und die Welt« durch haben, fällt mir das Heft und der Name wieder ein. Ich frage ihn: Kennst Du die? Und natürlich kennt er sie! Und schickt mir sofort einige Artikel und Links.
Ich »wache auf«, google wieder einmal den Namen, und sehe, dass es seit bald zehn Jahren sogar eine Gedenktafel für sie in Berlin geben muss. Als ich die entsprechende Internetseite öffne, trifft mich fast der Schlag. Jacobson hat bis zur ihrer Verhaftung im selben Haus gewohnt, in dem seit über zwanzig Jahren mein Vater wohnt. Emser Straße 39 in Wilmersdorf. Ich habe die Tafel nie bemerkt, es ist der Nebenaufgang. Von dort sieht man auf den Ludwig-Kirch-Platz und die Kirche. Damals fuhren noch Straßenbahnen um den Platz.
Das Eckhaus Emser Straße 39 a–d hat der Gesellschaft für Wohnbauten Berlin gehört, so steht es im Berliner Adressbuch; Jacobson finde ich hier bis 1935 eingetragen, also bis zu ihrer Verhaftung, wenngleich sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr hier, sondern in der Zähringer Straße wohnte, fünf Minuten Fußweg von hier.
Ich habe ein richtig schlechtes Gewissen. Ohne die Frau zu kennen oder je zuvor von ihr gehört zu haben, ist meine ganze Mischpoche durch eine Verkettung von Zufällen mit ihr verbunden: Meine Mutter hat aus irgendeinem Grund, den ich nicht mehr erfahren werde dieses Heft besessen, mein Vater wohnt in ihrem Haus und ich sitze seit einem Vierteljahrhundert auf ihren Notizen, während andere sich seit Jahrzehnten mit der Frau beschäftigen. Zudem befasse ich mich selbst mit jüdischer Familienforschung für »Hinz & Kunz«, besser »Cohn & Rosenberg«, und grabe hartnäckig in allen möglichen Geschichten herum, die manchmal im Sande verlaufen und manchmal zu überraschenden Ergebnissen führen. Jedenfalls habe ich sie nie, wie hier, komplett ignoriert. Doch das ist jetzt sogar für mich ein Zufall zu viel, »das Fass« ist übergelaufen – jetzt will ich es wissen.
Ich lese: Jacobson wurde am 18. September 1897 in Haynau in Schlesien geboren, ihre Mutter war Musikerin, ihr Vater und ihr zwei Jahre älterer Bruder waren Ärzte und wie viele deutsche Juden Weltkriegsteilnehmer. Sie studierte in Jena, Heidelberg, München, wurde 1923 in Kinderheilkunde promoviert und arbeitete seit 1926 in Berlin unter anderem bei Bonhoeffer, dann an der Charité. Sie ließ sich am Berliner Psychoanalytischen Institut ausbilden, hatte mit Lehrern und Kollegen wie Jossmann, Kronfeld, Fromm oder Fenichel (der auch ihr Lehranalytiker war) zu tun und war Teil der Diskussionsrunden des Kinderseminars. Seit Ende der 1920er-Jahre engagierte sie sich politisch – so beim Verein sozialistischer Ärzte, in der Arbeitsgemeinschaft marxistischer Analytiker und in Wilhelm Reichs Beratungsstelle des Einheitsverbandes für proletarische Sexualreform und Mutterschutz in Charlottenburg. Seit 1933 betätigte sie sich in Neu Beginnen, einer Widerstandsgruppe linker Analytiker, die politisch gefährdete Patienten aus dem kommunistischen Widerstand behandelte und ins Ausland brachte. Jacobson lebte über zehn Jahre in Berlin – die längste Zeit wohnte sie mit ihrer Mutter in eben jener Emser Straße 39d.
Verhaftet wurde sie, so lese ich, am späten Vormittag des 24. Oktober 1935, nach dem das Archiv der Gruppe entdeckt und unter anderem auch ihr Name darin gefunden worden war.
Jetzt krame ich das schwarze Din-A5-Heft heraus – um es nicht mehr beiseite zu legen. Es hat 64 S., enthält Gedichte mit vielen Korrekturen in verschiedenen Tinten sowie einen kleinen Text. Zwischen den Seiten liegen drei lose Blätter und eine Art Aufsatz.
Keine Datumsangaben. Zwei der losen Blätter sehen jedoch aus wie Tagebuchnotizen, sie beginnen mit den Initialen E.J. und einer Tagesangabe! …
Ich finde im Internet, was ich suche. Alles passt! Der 24. Oktober 1935 war nicht nur der Tag, an dem das Propagandaministerium es verbot, Namen jüdischer Gefallener auf Gedächtnistafeln und Kriegsdenkmälern anzubringen und der Tag, an dem die UFA-Komödie April, April mit Carola Höhn und Werner Finck in Berlin uraufgeführt wurde. Nein, es war auch ein Donnerstag. Donn. 1. Tag – der Tag ihrer Verhaftung. Der Zettel stammt aus den allerersten Tagen ihrer Odyssee durch die Nazigefängnisse. Mir sträuben sich die Haare. Jetzt muss ich das Blatt zu Ende entziffern:
…Unwirklichkeitsgefühl, alles klingt entfernt, eigene Sprache ist fremd. Steigerung des Depersonalitätsempfindens mit schwerer Angst verbunden. Ich fasse Gesicht, Körper, Glieder an, erlebe sie als fremd (Empfinden ist völlig auf die tastende Hand verschoben), während die bestastete Körperzone fast unästhetisch ist.
Fr 2. Tag: Fast völliger Verlust des Zeitgefühls – räumlich und zeitlich – bei Orientiertheit. Traumhaftes Stadium, Lähmungsgefühl in den Gliedern, stundenlanges Liegen tags u. nachts, fürchterliche Ängste, Verzweifelungsgefühle, Selbstbeschimpfungen, Anrennen mit dem Kopf, dann wieder Wut, aber vorwiegend Angst, Verzweiflung u. Selbstvernichtungswünsche. Suizidgedanken!
Sa 3. Tag: Transport nach Mo. Völlige Erschöpfung. Seit 2 Tagen nichts gegessen bzw. das Gegessene erbrochen. Abends derartiger Angstausbruch, daß die Wachtmeisterin durch Läuten geholt wird. Heulend wird sie angefleht, kurz zu bleiben, man sehe Gestalten (in Klammern: hyst. Erfindung, mit Bewußtsein des Simulierens, um die Wärterin zum Bleiben zu bewegen). Wärterin lacht grob: Die sieht schon Männchen, haha! In dem Moment erster Umschwung. Angst geht etwas zurück…
An den Rand schreibt sie gleich auch diagnostizierend: ausgezeichnete Therapie bei grober Hysterie!
Und ähnlich, mit vermeintlichem professionellen Abstand, geht es weiter bis zum 12. Tag:
Innere Umwandlung: Aus dem narzistischen Trauma (mir kann so etwas geschehen? unmöglich) wird ein narzistisches Erhöhungserlebnis: heroische Empfindungen! Ausmalen von Phantasien für »nachher«. Sublimierung, Aufgreifen alter christlicher Ideologien, Gefängnis, Zuchthaus als »Studium«. Dazwischen quälende Angst u. Depressionen…
Zunehmende Einstellung auf die Realität: Beobachtung der Umgebung, der Sträflinge, Gemeinsamkeitsgefühl mit diesen, sofern ähnlich angenommen… Tiefe Sorge um Mutter u. die nächsten Menschen… Trotziges Widerstandsgefühl: nun grade laß ich mich nicht unterkriegen. Innerer Schwur durchzuhalten um jeden Preis.
Jacobson ist 38 Jahre alt. Sie hat Angst, macht sich schreckliche Sorgen, mehr um ihre Familie, ihre Freunde und Patienten als um sich selbst, sie grübelt, was sie falsch gemacht haben könnte, aber auch, ob es überhaupt falsch war, beschimpft sich selbst, wird aber sofort wieder »Profi« und schreibt, als würde sie sich von außen beobachten…
Die beiden Notizzettel lagen im »schwarzen Heft«. Das Heft selbst ist auf der Umschlagseite mit einem Gedicht von Georg Herwegh beschrieben. Es beginnt:
Ich möchte hingehn wie das Abendrot / Und wie der Tag in seinen letzten Gluten – /
o leichter, sanfter, ungefühlter Tod! – / Mich in den Schoß des Ewigen verbluten. /
Ich möchte hingehn wie der heitre Stern, / Im vollsten Glanz, in ungeschwächtem Blinken
Das Gedicht endet:
Wohl wirst du hingehn, hingehn ohne Spur, / Doch wird das Elend deine Kraft erst schwächen; / Sanft stirbt es einzig sich in der Natur, / Das arme Menschenherz muß stückweis brechen.
Traum und Trauma! Diesen resignativen Versen steht auf der gegenüberliegenden Seite jedoch ein ganz anderes, kämpferisches Motto gegenüber – die erste Strophe des Herder-Gedichtes Die wiedergefundenen Söhne:
Was die Schickung schickt, ertrage; / Wer ausharret, wird gekrönt. /
Reichlich weiß sie zu vergelten, / Herrlich lohnt sie stillen Sinn. /
Tapfer ist der Löwensieger, / Tapfer ist der Weltbezwinger, /
Tapfrer, wer sich selbst bezwang.
Schon diese ersten beiden Heftseiten verraten viel von dieser Frau, die sich selbst und andere, so scheint es, in fast aussichtsloser Situation immer wieder aufbaut, sich diszipliniert, analysiert, reflektiert – auch mit ihren Versen. Sie hat insgesamt 48 eigene Gedichte notiert, fünf davon in leicht geänderter Form doppelt.
Ich blättere die Seiten durch, denke mir, nun gut, Hazim Hikmet ist es vielleicht nicht, wenngleich im Subtext viel über ihr Fühlen und Denken durchscheint. Sie zeigt sich als fantasiebegabt, belesen, musikalisch, sportbegeistert, mitfühlend, ein Mensch, der dennoch recht wenig von sich verrät, was ihrer Persönlichkeit und den Haftumständen, dem möglichen Entdecken ihrer Aufzeichnungen geschuldet sein mag.
Doch ich suche erst einmal weiter nach »ungefilterten« Hinweisen, die mehr über die »reale« Frau verraten könnten. Es gab ja noch ein Stück »Hardware« im Heft, einen Text zwischen zwei Gedichten, der sich über etwas mehr als vier Seiten erstreckt. Sie hat ihn Einige Betrachtungen über physische u. psychische Hafteinwirkung überschrieben.
Dort beschreibt sie stichpunktartig, wie sich die Haft bei weiblichen Untersuchungs- und bei Strafgefangenen körperlich und mental unterschiedlich bemerkbar macht, etwa durch wochenlanges Fortbleiben der Menses, was sie bei bereits verurteilten Gefangenen eben nicht beobachtet; sie nimmt einen Zusammenhang mit der psychischen Verfassung der Untersuchungshäftlinge an, die sich in einem chronischen Angstzustand befänden und vor Verhören, Terminen usw. häufig nervös … seien.
Weiter notiert sie: Bei längerer Kontaktlosigkeit mit Außenwelt (Schreib- u. Buchverbot!) Ansteigen d. Depressionen, nach jedem Wiedersehen oder Gespräch, auch mit gleichgültigeren Menschen (z.B. der Wachtmeisterin) Entspannung u. gehobener Gemütszustand.
Sie beobachtet die Zunahme von Depressionen in Abhängigkeit vom Wetter und auffällige Gedächtnisstörungen sowie diverse nervöse Symptome:
auf kleine Reize hin sehr schwere u. kaum zu hemmende Reaktionen, Losweinen, aber auch Lachkrämpfe, von allen als hysterisch empfunden. Pubertistische Zustände, anscheinend durch die schwere Libidostauung verursacht. Ekstasen u. religiöse Neigungen, Dichtwut, Übererregbarkeit erinnern aber an Pubertätssymptome.
In diesem ersten Teil schreibt und schlussfolgert sie in wissenschaftlicher Manier über die Häftlinge oder man, wobei ihr eigenes Erleben in die Wahrnehmungen stark eingeflossen sein dürfte.
Unter der Zwischenüberschrift Depersonalitätserscheinungen notiert sie:
Unwirklichkeitsgefühle; unmöglich, daß man das hier ist, traumartiges Empfinden! Gesteigert zu körperlichen Sensationen! Anfangs: Zwang den Körper zu berühren, dabei Gefühl, fremden Körper anzufassen! Später abends… die Hände werden größer u. seltsam, im Gesicht, Mundgegend schlecht beschreibbare Parästhesien, Verlust des Körpergefühls. Auch psychische Fremdheitsgefühle, spürbare Entfremdung dem Ich gegenüber…
Der letzte Teil, Stimmungsüberblick überschrieben, ist eine Zusammenfassung ihrer ureigenen Situation:
Durch Zellgemeinschaft (nach 6 Wochen) sehr viel gesunde Extroversion.
Nach I’s Fortgang: erster Tag schwere Depression, danach rasche Herstellung des Gleichgewichts. / Während durch I’s Kommen das Arbeitsbedürfnis herabgesetzt, ja gestört war (kaum Fachbuch gelesen!), jetzt zunächst ungeheurer Drang zu schreiben. Verse fließen nicht leicht aus der Feder sondern werden langsam geformt, viel umgeschrieben. Sind aber die einzig mögliche Konzentration. »Zauberberg« fesselt, wird kaum gelesen, keine Arbeit! Stundenlang Grübelei über den Fall, Ausmalen des Termins, Verhörs usw.
Bewältigungsmöglichkeiten:
1. durch das Gemeinschaftsleben (…)
2. Identifizierung im Leiden,
3. aktive Verkehrung (psychotherapeutische Haltung gegenüber der labilen, etwas infantil impulsiven, zu Suicid neigenden Gefährtin).
4. Narzistische Befriedigungen durch Überlegenheitsgefühle u. dergl.
5. geistige Befriedigungen durch Diskussionen u. didaktische Gespräche,
6. Anreiz durch die praktisch-nüchterne Realitätsgerechtheit der I. zu verschärftem Studium des Milieus, zu regelmäßigeren Körperübungen u. dergl.
Dieser Part ist für mich, die ich versuche, ein wenig »hinter« diese Frau zu kommen und mir ihr Überleben in der Haft vorzustellen, mit am wertvollsten. Wir erfahren, dass sie eine Zellengenossin (I.) bekommt, die ihr gut tut, sie aber auch vom Arbeiten abhält (und dass sie Zugriff auf Fachbücher hat), es ihr aber selbst beim Alleinsein nicht gelingt, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, weil sie über ihren Fall grübelt und Angst hat; wir erfahren, dass sie sich zu Körperübungen zwingt und wie sie ihre Verse formt, und vor allem, dass sie es schafft, ihren »Bauch« auszuschalten, ihre Situation genau zu analysieren und Überlebensstrategien zu entwickeln: 1, 2, 3, 4, 5, 6.
Dass Schreiben eine rettende Kulturtechnik sein kann, ist gewiss nicht neu. Dennoch berührt es mich, Wort für Wort zu entziffern, wie Jacobson in ihren Notizen und Versen immer wieder quasi das eigene Ich des gestrigen Tages liest, mit ihm »spricht« und sich selbst und ihre Position dabei neu bestimmt. Ein Versuch, die Haft zu überleben, indem sie ihre Erlebnisse psychoanalytisch durchdringt…
Gut. Die Heftseiten habe ich nun weitestgehend entziffert. Und bin mit meinem Latein am Ende. Das kenntnisreichste Buch über Jacobson haben 2005 Ulrike May und Elke Mühlleitner herausgegeben: Edith Jacobson. Sie selbst und die Welt ihrer Objekte. Das besorge ich mir. Es beleuchtet ihr gesamtes Schaffen und ihr Umfeld. Und auch hier sind Gefängnisgedichte und Tagebuchnotizen abgedruckt. Diese Notizen sind jedoch aus der dritten Woche nach ihrer Verhaftung, beginnen also wenige Tage nach dem Entstehen unserer Einzelblätter.
Die Autoren des Buches diskutieren u.a. auch verschiedene Momente der Eigen- und Fremdbeobachtung, die in Jacobsons Arbeit eingegangen sind. Denn die wird später über Depressionen und auch über psychosomatische Reaktionen bei weiblichen Strafgefangenen schreiben. Eine komplette Arbeit konnte gar aus dem Gefängnis geschmuggelt werden und wurde anonym 1937 in der Schweiz auf dem Psychoanalytikerkongress verlesen. All diese später veröffentlichten Momente treffen wir auch schon in »unseren« Notizen an, als Beobachtungen, die sie eben nicht nur an Anderen, sondern vor allem an sich selbst macht. Sie sind zum Teil auch fast wörtlich wiederzufinden in dem 1974 in deutscher Übersetzung erschienen Aufsatz »Depersonalisierung«.
Aber dann – oups! – lese ich plötzlich: »schwarzes Heft«. May & Mühlleitner schreiben über ein schwarzes Wachstuchheft, das 90 Gedichte enthält und sich in Jacobsons Nachlass in der Washingtoner Congress Bibliothek befand. Ok, denke ich, das kann dann natürlich nicht »meins« sein; das Heft scheint auch später angelegt worden zu sein, es enthält Gedichte, die es im »schwarzen Heft« schon gibt, aber auch solche, die offenbar später entstanden sind.
Ich lese weiter und dann kommt es doch noch »dicke«; denn es ist ein weiteres Mal die Rede von einem Heft! Gertrud Voigt, eine Moabiter Mitgefangene, lese ich, erwähnt in ihren Erinnerungen ein Heft mit Versen, das aufbewahrt worden sei, und das man Jacobson zurückgeben solle, sobald ihr Aufenthalt bekannt sei und sofern sie noch lebe. Ist das etwa »mein« Heft? Aber warum wurde es ihr – sie hat nach dem Krieg noch über drei Jahrzehnte gelebt – dann nicht tatsächlich zurückgegeben?
Aber nun wird mir heiß und kalt! Denn hier steht auch, dass zu diesen aufbewahrten Papieren Beobachtungen über die Hafteinwirkung und ihre Arbeit über die Paranoia gehörten, und dass Jacobson, so Voigt, für diese zum Teil Reden Adolf Hitlers als Material benutzt habe.
Wie anfangs erwähnt, lag ja noch eine Art Aufsatz lose in dem Heft. Und der ist betitelt: Zur Technik der Analyse Paranoider. Jetzt bleibt mir nichts übrig, als mich auch da durchzuquälen: Ich suche Jacobsons pathologischen Fall. Ich suche Hitler!
Der Aufsatz steht auf 15 auf Din-A4 gefalteten Seiten und ist mit Korrekturen und Einschüben versehen. Es geht darum, wie neurotische Affekte innerhalb der Analyse aufgefangen werden können. Jacobson bezieht sich zunächst allgemein auf die Behandlung von Kindern und geht dann zur Analyse Erwachsener über, was sie an einem Fallbeispiel durchexerziert.
Andreas Peglau schreibt dazu: »Spürbar wird ihr ungebrochen positives Menschenbild ebenfalls in diesem Text. Eingangs beruft sie sich hier auf Wilhelm Reichs, auf die Ablehnung des Todestriebmythos basierende Vorstellung zum therapeutischen Umgang mit Aggression. Anders als zeitgleich Anna Freud und Melanie Klein hat Jacobson es auch nicht nötig, angeborene Destruktivität in die Kinder hinein zu phantasieren. Deren „paranoides Misstrauen“ sei „ziemlich berechtigt“, meint sie, aufgrund der meist negativen Erfahrungen mit Erwachsenen. Wenn ein Kind sich jedoch, Zitat: „verstanden und in seinem anlehnungsbedürftigen Ich gestützt fühlt, wird es rasch fähig, auch seine neurotischen Charakterzüge und verbotenen Strebungen zuzugeben. Gelingt es, quälende Symptome, Ängste, Zwänge u. dgl. aufzufinden, dem Kind als heilbare Krankheitszeichen zu erklären und wirksam anzugreifen, so ist das Kind bald gewonnen.“
Für mich als Laien ist der Text nicht großartig aufschlussreich; mir fällt allenfalls auf (ich weiß, keine seriöse Anmerkung), dass sie eben ausgerechnet Anna Freud erwähnt, die zur etwa selben Zeit, in der Jacobson im Gefängnis diesen Aufsatz schreibt, sie zusammen mit anderen Kollegen bezichtigt, mit ihrer politischen Tätigkeit der Analytischen Bewegung Schaden zuzufügen.
Aber, siehe Text, gibt es ja auch hier einen »zufälligen« Gegenpol: Wilhelm Reich – der Einzige, der sonst noch mit seiner Arbeit namentlich erwähnt ist und der sich, anders als Anna Freud, sofort um Hilfe für die verhaftete Freundin bemüht hatte.
Eines ist jedoch sicher. In dem ganzen Paranoia-Text kommt kein Hitler vor, weder direkt noch indirekt. »Meine« Paranoia ist allenfalls eine Vorarbeit, so wie die Beobachtungen zur Hafteinwirkung allenfalls Gedankensplitter zu einer größeren Arbeit sind. Immerhin zeigen die Skizzen, dass es ihr zeitweise gelang, sich soweit von ihren widrigen Lebensumständen abzuschotten, dass sie wissenschaftlich arbeiten konnte.
Doch die Berg- und Talfahrt geht weiter. Denn dann bekomme ich neue Zweifel. Die vier Gedichte, die Gertrud Voigt, die Mitgefangene, in ihren eigenen Erinnerungen notiert hatte, befinden sich auch bei mir!
Obwohl ich bislang nicht weiß, ob die Gedichte in dem Buch von May & Mühlleitner aus dem Washingtoner Nachlass oder aus Gertrud Voigts Aufzeichnungen stammen oder aus weiteren Quellen, denn ganz identisch sind sie alle nicht mit denen im schwarzen Heft, so deutet doch vieles daraufhin, dass es sich bei »meinem« Heft um das von Voigt erwähnte Heft handelt. Andererseits jedoch sind »meine« Aufzeichnungen keinesfalls größere oder abgeschlossene Arbeiten – und es gibt keinen Hitler! Vielleicht meinte Gertrud Voigt auch eine andere Abhandlung oder sie hat sich nicht genau erinnert. Man kann sie nicht mehr fragen, genauso wenig wie meine Mutter nach der Herkunft des Heftes. Manche Dinge lassen sich nicht aufklären.
Andere aber doch! Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand teilt mir mit, dass sie leider kein Manuskript einer Gertrud Voigt im Bestand hätte… Aber »Kollege Zufall« hilft noch ein letztes Mal. Der Gedenkstättenmitarbeiter, den May & Mühlleitner als Quelle für Voigts Aufzeichnungen nennen, ist zwar inzwischen im Ruhestand, aber weiter ehrenamtlich tätig …
Als ich ihn treffe, braucht er ganze zehn Sekunden, um Voigts Manuskript für mich zu finden. Ich meinerseits kann ihn mit Details über Gertrud Voigt erfreuen, von der er, außer ihrem Namen, bislang nichts wusste. Denn ihre maschinegetippten Erinnerungen, die kurz nach dem Krieg entstanden sein müssen, waren ihm Anfang der 90er-Jahre ohne weitere Erklärung von einer ehemaligen Widerständlerin übergeben worden.
Schnell ist immerhin klar, dass die Gedichte in ihren Aufzeichnungen bis auf Kleinigkeiten tatsächlich identisch mit denen im »schwarzen Heft« sind! Genauso schnell ist mir bei der Durchsicht ihrer Erinnerungen aber auch klar, dass Voigt keine Mitgefangene von Jacobson gewesen sein kann. Sie berichtet über eine Zeitspanne von 1933 bis 1942 aus dem Untersuchungsgefängnis Moabit. Niemand war neun Jahre in U-Haft. Am wahrscheinlichsten ist, dass sie als Bibliothekarin oder Lehrerin beschäftigt war; für eine »Schließerin« ist ihr Schreibstil zu elaboriert und die Beurteilung der Häftlingsfrauen zu differenziert.
Kurz zu ihr: Gertrud Voigt, welche Aufgabe sie auch immer im Gefängnis hatte, gehörte vor 1933 der Zentrumspartei an. Ihre Aufzeichnungen legen nahe, dass sie aus christlichen Motiven gehandelt hat. Im Gefängnis soll sie wegen ihres Eintretens für politische Häftlinge »Engel von Moabit« genannt worden sein. Nach dem Krieg war sie Lehrerin und Landtagsabgeordnete der CDU in Heiligenstadt, wurde aber von den sowjetischen Machthabern verfolgt und starb 1987 in Würzburg.
Für den »Fall« Jacobson spielt es letztlich keine Rolle, dass Voigt Angestellte und nicht Gefangene war. Sie ist aber ein erneutes Beispiel dafür, dass (und wie) mitfühlendes, menschliches Handeln den Inhaftierten gegenüber auch in Terror-Regimen möglich war und in Einzelfällen auch stattgefunden hat.
Gut. Nachdem nun offensichtlich ist, dass Jacobson ihre von Voigt geretteten Gefängnisaufzeichnungen nicht zurückbekommen hat und wir es hier auch mit anderen Aufzeichnungen zu tun haben als denen im Washingtoner Archiv, möchte ich Sie noch ein Blick (oder ein Ohr) auf ihre Gedichte werfen lassen:
In ihrem Stimmungsüberblick schrieb Jacobson ja, wie sie ihren Haftalltag bewältigt und dass sie Verse schreibt, um ihre Konzentrationsfähigkeit zu verbessern, die durch das ständige Grübeln über ihren Fall leidet. Es sind lyrische Gedichte, die dabei entstehen, aber auch solche, die um ihr Dasein in Moabit kreisen und es in Kontrast zu ihrem Leben vor der Verhaftung setzen.
In einem Traum, den sie im Gedicht Hilfe beschreibt, geht es um ihren Alltag »davor« – die Freude, die sie an ihrer Arbeit hat, wie sie ihre Sorgenkinder aufzubauen versucht und bei Tee und Zigaretten plaudert, aber auch, wie sie selbst im Gedichtschreiben Trost findet, wenn die grausamen Wirklichkeiten sie jäh aus ihren Träumen schrecken. Dann sind es ihre armen Lieder, die ihren heißen Schmerz kühlen, ihren Kummer niedersingen, ihre Tränen löschen.
Etliche Gedichte schildern noch direkter ihren Haftalltag – etwa Gefängnisnacht. Hier beschreibt sie einen schönen nächtlichen Traum, der sich angesichts ihrer aussichtslos scheinenden Lage plötzlich in einen Albtraum verwandelt:
Die bitteren Fluten des Urteils wollten / mich ersticken / ich rang um Leben, Zukunft, um / mein armes Ich, / der Teufel flüsterte die Rettung: / töte dich – / da ward ich wach, der Tod entwich / den irren Blicken.
Ein anderes Gedicht thematisiert die Aufseherinnen: Wachtmeisterin. Mir scheint es außergewöhnlich, wie Jacobson selbst als machtloses Gegenüber dieser Frauen immer noch fähig ist, soviel Empathie aufzubringen, dass sie die versteckten »guten Seiten« und die Zwänge ihrer Bewacherinnen wahrnimmt und sie »menschlich« wirken lässt. Denn nachdem sie in den ersten Strophen beschreibt, wie der gehetzte Aufsichts-Alteweiber-Reigen auf den Gängen trabt und schimpft und ruft, und Feldwebeltöne den Gefangenen die hohen Werte der Beamtenkluft demonstrieren sollen, versetzt sie sich in der dritten Strophe in die von ihren Arbeitspflichten zermürbten Wärterinnen und honoriert deren Bemühen, die Gefangenen unermüdlich pünktlich abzufüttern. Und die letzte Strophe lautet gar: mit uns zu fühlen – das erlaubt man nicht; / Doch heißts: »entlassen«, zieht ein freudig erschüttern / durch ihr zerfurchtes hartes Angesicht.
Auch Gefangene sind Gegenstand mehrerer Gedichte. War sie anfangs in Einzelhaft, hatte Jacobson nach den ersten sechs Wochen zumindest zeitweise eine Zellengenossin. Vielleicht hat sie der bereits erwähnten I. auch das Gedicht Der Zellengefährtin zu Weihnacht gewidmet, in dem sie sich mit ihrer Gefährtin vergleicht und dieser und sich selbst Mut macht.
Bei I. oder Ilschen handelt es sich möglicherweise um Ilse Kassel, eine ebenfalls jüdische Ärztin aus dem Widerstand, die zeitgleich und dann nochmals 1937 in Moabit einsaß. Sie hat eine Zeit lang die Zelle mit Jacobson geteilt. Beide Frauen waren befreundet; Ilse Kassel nannte ihre in der U-Haft geborene Tochter »Edith« und
Jacobson war auch deren Patentante. Ilse Kassel ertrank bei einem Suizidversuch, nachdem die Gestapo den Bauernhof ihren früheren Patientin entdeckt hatte, auf dem sie sich mit ihrer Tochter versteckt hatte; die Tochter wurde gerettet, aber 1944 in Auschwitz ermordet.
Jacobson hat jedenfalls mehrere Gedichte über und für andere Frauen geschrieben, sie sozusagen mit guten Worten unterstützt. Ein Gedicht heißt Trost:
Sei tapfer Kind, wenn dunkle Nacht / Dich rings umkreist u. halte still, / ein Licht bricht auf, eh du es gedacht, / das trösten will …
usw. Es endet:
Trag tapfer, Kind, ein unabwendbar Los / erduld es, so still du kannst / u. wisse Kind: Du bist so groß, / wie schwer das Schicksal, das du überwandst.
In diesem einzigen Fall verrät ein Eintrag über den Versen, warum Jacobsons Mitgefangene besonderen Zuspruch braucht: Unter mildernden Umständen zu 5 Jh. Z. verurteilt. Fünf Jahre Zuchthaus! Sie selbst wird später zwei Jahre und drei Monate bekommen.
Während Jacobson andere immer wieder aufzubauen versucht und ihnen Mut zuspricht, hadert sie mit ihrem eigenen Schicksal und ist sie selbst voller Ängste und Zweifel:
Es sank ein Reif wohl über Nacht … / hat Knosp’ u. Blüt zuschand gemacht. / O sagt, warum? / Es sprüht ein Blitz vom Himmel fahl / erschlug ein Vögelein im Tal / O sagt, warum? / Ein Sturm sprang auf, ein Wetterwehn, / knickt Bäume im Vorübergehen / O sagt, warum? / Es schrie ein Kind aus tiefster Nacht / Was habe ich o Gott gemacht? / Warum, warum?
Das Gedicht beziehe ich auch auf ihre Situation, ihren »Fall«, den Grund, warum sie in Moabit sitzt. In den Versen sind es sinnlose Naturgewalten, die Verderben von »Außen« bringen, und auch Jacobson kann kaum wahrhaben, was ihr hier passiert und welchen Anteil sie selbst daran hat, hatte sie doch am Anfang der Haft ungläubig auf einen Zettel geschrieben: mir kann so etwas geschehen? unmöglich. Wo war der Fehler? War da ein Fehler?
Auch in der Parabel Die Rettung geht es um Naturgewalten und die Sinnhaftigkeit spontanen Tuns. Jacobson beschreibt in zehn Strophen, wie eine Mutter von neun Kindern hoch gepriesen wird, weil sie ihren kleinen Sohn unter Einsatz ihres Lebens aus einem reißenden Fluss rettet, um dann aber zu fragen:
Wie geht man zu Gerichte, wenn nun die Mutter mit dem Kind ertrinkt?
Schließlich hätte sie acht unmündige Waisen zurückgelassen, denn das Spiel gewinnen war Zufall hier, – gewisser war das Grab.
Und so ist die Moral von der Geschichte dann auch:
Halt, – doch die Wahrheit! Wenn sie gestorben, / man hätt sie – ob wohl zu Recht? – geschmäht, / der Mann, die Kinder wären mitverdorben, / sie hätte keinen Heldenkranz erworben. / – nur die gelungene Opfertat besteht !!!
Sie setzt drei Ausrufezeichen. Wer will, kann auch hier Parallelen zu Jacobsons eigener Geschichte sehen – auch ihre Freunde, Patienten, die Familie sind mitverdorben, ihre Opfertat ist misslungen, von einem Teil ihrer Kollegen wird sie ob ihres politischen Leichtsinns geschmäht.
In der Literatur über Jacobson und die Geschichte der Psychoanalyse dieser Zeit wird das Engagement linker Analytiker und die Haltung ihrer Kollegen dazu sowie die Rolle Jacobsons im Widerstand und ihre Unbedachtsamkeit oder Nicht-Unbedachtsamkeit bis heute heiß diskutiert.
Nochmal zum Hintergrund: Jacobson hat zwei kommunistische Patientinnen behandelt, als ihr gleichgeschaltetes Berliner Institut seinen Mitgliedern längst verboten hatte, politisch Oppositionelle zu betreuen; die Beiden mussten fliehen, eine von ihnen beging Selbstmord oder soll Selbstmord begangen haben. Jacobson weigerte sich, der Gestapo die Namen der verfolgten Patienten preiszugeben und berief sich konsequent auf ihre ärztliche Schweigepflicht. Für ihr Engagement wurde der vermeintlich unpolitischen und neutralen Person daraufhin von Kollegen Täuschung, Verrat und Illoyalität vorgeworfen und ihr Name aus der Mitgliederliste der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft gestrichen. Und sie wurde für völlig banal anmutende Delikte zu Zuchthaus verurteilt.
Andreas Peglau schreibt: »Die Psychoanalyse wurde keinesfalls in dem Maße vom NS-Staat verfolgt, wie oft behauptet. Stattdessen muss von einer hochgradigen Integration analytischer Erkenntnisse und Therapeuten in das NS-Gesundheitssystem gesprochen werden. Umso wichtiger sind jene Wenigen, die aktiv Widerstand leisteten.« Edith Jacobson war eine von ihnen.
Roland Kaufhold geht in unserem Band in einer biografischen Skizze zu Jacobson ausführlich darauf ein, wie auch auf den Anpassungskurs der deutschen und internationalen psychoanalytischen Gesellschaften oder Sigmund und Anna Freuds gegenüber dem NS-System, der beinhaltete, „linke“ und widerständische Aktivitäten in den eigenen Reihen zu unterdrücken und verächtlich zu machen. Kaufhold befasst sich so auch mit den Antipoden dieser sich seit 1933 immer „unpolitischer“ gebärdenden Psychoanalyse (wie Edith Buxbaum, Marie Langer oder Käthe Draeger) und verweist auf ein längst überfälliges Forschungsprojekt: Psychoanalyse gegen den Faschismus.
Jacobsons Gedicht Den Freunden dunkler Zeit sollte, wenn es das nicht ohnehin schon war, postum diesen Antipoden und Freunden gewidmet sein:
Euch zur Freud / Freud gestalten / die ihr Treue / mir gehalten / klingt mein Lied.
Eure lieben / Schritte sangen / Melodien / in die bangen / Nächte mir.
Eure schmalen / Trösterhände / löschten Qualen / kühlten Brände / zärtlich aus.
Nur für eine / Herzensstunde / wär’s als weine / meine Wunde / still sich aus.
Besonders intensiv hatte Otto Fenichel seiner Kollegin von Prag aus in dunkler Zeit die Treue gehalten und versucht, ihr umgehend zu helfen. Fenichel und seine Freunde waren es auch, die später entscheidend zur Organisation ihrer Flucht beitrugen.
Aber auch Wilhelm Reich, von Jacobson Willy genannt, hat sich bereits vier Tage nach Jacobsons Verhaftung von Oslo aus in einem dringlichen Brief an die norwegische Analytikerin Nic Hoel in London gewandt, in dem er schreibt, dass man versuche einen guten Rechtsanwalt für Jacobson zu finden, dass sie in die ganze Sache (nur) als Ärztin verwickelt sei und er hoffe, dass man sie bald freilasse. Wenn aber nicht, sei es notwendig, unbedingt notwendig, vom Ausland her Sorge zu tragen, dass ihr nichts geschieht und dass sie freigelassen wird. Hoel solle verschiedene Personen in England mobilisieren, die, wenn notwendig, Öffentlichkeit schaffen sollten.
Das hat Nic Hoel auch getan. Sie ist sofort nach Berlin gereist und berichtet Reich, dass Jacobsons Mutter sie besuchen durfte und dass die Berliner Kollegen furchtbare Angst davor hätten, dass der Gestapo ihre Verbindung mit der Psychoanalyse klar und dies der Vereinigung schaden würde.
Einer dieser Berliner Kollegen war Felix Boehm, seit November 1933 Vorsitzender der DPV. Er wiederum warnt in einem ellenlangen vor Selbstmitleid triefenden Brief eindringlich davor, sich vom Ausland her einzumischen, um ihn und seine (arischen) Kollegen nicht zu gefährden. Die Konsequenzen, die sie ohnehin zu befürchten hätten, sind dem grenzenlosen Leichtsinn einer jüdischen Kollegin zu Last zu legen, und das Kultusministerium, so fürchtet er, würde ihn bestenfalls für einen Idioten halten, daß er dem Ehrenwort einer Jüdin geglaubt hat.
Außerdem schreibt er: Die Verhaftete ist nur wenige Stunden in einer berüchtigten Untersuchungsstelle gewesen, hat hier aber den Besuch ihrer Mutter empfangen dürfen und ist dann sofort in ein als gemütlich bekanntes Untersuchungsgefängnis gebracht worden.
Wie wir wissen, war Jacobson nicht nur wenige Stunden in der Untersuchungsstelle und der Verweis auf das als gemütlich bekannte Untersuchungsgefängnis bedarf keines weiteren Kommentars.
Soviel nur aus der fast unüberschaubaren Korrespondenz, die nach ihrer Verhaftung zwischen Berlin, Prag, Wien, Oslo und London hin und her ging. Während ihre deutschen Kollegen »mauern« und sich winden, sitzt Jacobson weiter in ihrer »gemütlichen« U-Haft, versucht zu arbeiten und zu dichten…
Trotz der Todesangst und Verzweiflung, die sie immer wieder überfallen, gelingen ihr dabei – neben all den ernsten und traurigen Versen – auch recht witzig anmutende Gedichte, die an »draußen« erinnern. // Die können Sie im Anhang des Buches lesen.
Das einzige Gedicht, das einer realen Person jenseits der Gefängnismauern gewidmet ist, gilt ihrem Vater, der acht Jahre zuvor unerwartet verstorben war und den sie immer noch schmerzlich vermisste, wie die sehr emotionalen Verse an ihn vermuten lassen.
Weder ihr Vater noch Jacobson selbst hatten offenbar nennenswerte äußere Bindungen zum Judentum. Weder sie noch sonst jemand von den zeitweilig in Berlin lebenden Verwandten scheint Mitglied der Jüdischen Gemeinde gewesen zu sein, im Jüdischen Adressbuch tauchen sie nicht auf, im Archiv des Centrum Judaicum sind sie nicht zu finden. Ob ihr Vater Jacques in Haynau auf dem Jüdischen Friedhof begraben ist, ist nicht festzustellen, der Friedhof existiert nicht mehr; ihre Mutter Pelagia, ihr Bruder Erich und Edith Jacobson selbst sind in den USA gestorben und nicht jüdisch beerdigt.
Nicht ungewöhnlich für das assimilierte deutsch-jüdische Bildungsbürgertum, finden sich hingegen auch in Jacobsons Aufzeichnungen reichlich christliche Motive – sie spricht von religiösen Neigungen, bei den Versen sind es Gott,Weihnachten oder auch die Jungfrau Maria, Jesus und der Kreuzweg im ersten Gedicht San Marco. Florenz. Hier verwandelt sich Jacobsons nackte Zelle im Traum in die von Fra Angelico ausgemalten Behausungen des Klosters San Marco und sein meisterliches Werk gibt nun auch ihr Trost und Zuversicht.
Dass sie ansonsten der Institution Kirche skeptisch gegenübersteht, verrät das Gedicht Sonntagsglocken, die sie heuchlerisch nennt und das mit einer kämpferischen politischen Vision endet:
Ein heilger Zorn ob eurer Lügensendung! / Bald werden neue Glocken Wahrheit künden, / noch sind wir klein und schwach, doch, – kommt die Wendung, / wird echter Klang den leeren Schall ertöten, / der Funke, glimmend heut, wird morgen zünden / und Siegesfeuer wird die freie Erde röten.
Kritik an einer überkommenen Gesellschaftsordnung zeigt auch ein Gedicht, das Jung-Sickingen heißt. In ihm geht es um prassende Fürsten und Ritter, die ihre Bauern ausbeuten und darum, dass diese sich erheben und den Fürsten den Garaus machen werden. Letztlich stehen auch diese Verse für das »Jüdische« der Jacobson, sind sie doch Ausdruck sozialutopischer Ideen, denen gerade Juden anhingen und die zutiefst in jüdischen Werten wurzeln.
Zum Schluss das Gedicht, das mich am stärksten beeindruckt hat, auch, weil es ihr Judentum dann eben doch deutlich thematisiert. Sie hat es Bekenntnis genannt.
Wir schreiben das Jahr 1935. Juden sind längst aus ihren Ämtern und Berufen verdrängt, einen Monat vor Jacobsons Verhaftung werden die Nürnberger Gesetze erlassen, seit November dürfen Juden auch nicht mehr wählen und ihre Kinder nicht mehr denselben Sportplatz oder dieselbe Umkleidekabine mit »arischen« Kindern teilen…
Jacobson wollte – wie so viele Andere – Deutschland nicht verlassen, aus Sorge um die Familie, um die Patienten, um die Freunde, aus Liebe zu ihrer Heimat, ihrer Sprache, aus dem guten Glauben, dass es »schon nicht so schlimm werden und vorbei gehen« würde, wenn man sich nur etwas unauffällig verhielte, oder weil sie den richtigen Zeitpunkt einfach verpasst hatte. Bei den meisten, die nicht wollten oder konnten, war es eine Mischung aus all dem. Ohnehin halte ich die Frage »Warum ist (oder sind) die nicht einfach gegangen?« aus heutiger Sicht für ahnungslos vermessen.
Ihr Gedicht Bekenntnis hat Jacobson jedenfalls sowohl im Heft als auch auf dem Einzelblatt notiert, wobei sich beiden Versionen in einigen Worten und in der Abfolge der Strophen unterscheiden. Einmal beginnt das Gedicht mit der StropheIch bin ein Jude, im anderen Fall beginnt es mit Ich bin ein Deutscher – ein Unterschied, der verschiedene Deutungen zulässt.
Dass Ich bin ein Jude eine »(aufgezwungene) Antithese« zu »Ich bin Deutscher sei, wie
Michael Schröter meint, erscheint mir fragwürdig, ebenso wie die Begründung, sie sei (schließlich) keine praktizierende Jüdin gewesen und hätte die jüdischen Speisegesetze nicht befolgt. Denn damit ist sie in guter Gesellschaft mit einem erheblichen Teil der (damaligen wie heutigen) deutschen Juden. Sie selbst definiert sich im Gedicht auch nicht über die Religion, sondern über das Blut, ihren Stamm, ihre Abstammung und bezieht sich auf ihre Wurzeln, eine gemeinsame soziokulturelle Erfahrung, die sie auch gar nicht verleugnen will.
Bekenntnis
Ich bin ein Jude, – seht Ihr meine Züge?
Von Jüden Blut, an Jüdinn’ Herz gesäugt
Ich bin ein Jude, – und ich scheu’ die Lüge,
Die feig den Judenstamm verbirgt, der ihn gezeugt.
Nicht Zittern hilft, nicht Zagen
nicht jammern, – still entsagen,
und warten, bis der Rassen Zwietracht weicht,
der deutsche Freund dem Jud die Hände reicht.
Ich bin ein Deutscher, – hört Ihr meine Sprache?
Von deutschem Geist, in deutschem Land geborn.
Ich bin ein Deutscher, – und ich halte Wache,
noch ist mein deutsches Land mir nicht verlor’n.
Nicht Weinen hilft, nicht klagen,
nicht wüten – standhaft tragen
und warten bis der Jude leidgestählt
vom deutschen Volk als Bruder ausgewählt.
Ich bin ein Mensch – spürt Ihr denn nicht mein Fühlen,
von Menschenwillen, Menschenwunsch geformt
Ich bin ein Mensch, – und menschlich Triebe wühlen
in mir zu Euch, – durch menschlich Maß genormt.
Nicht Hassen hilft, nicht Schlagen –
Mit Menschenwürde tragen
und warten, bis der Mensch zu Liebe gereift
und furchtlos fremde Menschenhand ergreift.
Das ist für mich das Programm der Edith Jacobson! Während die meisten ihrer jüdischen oder linken Kollegen und Freunde längst das Land verlassen haben, steht sie hier, bewusste Jüdin, bewusste Deutsche, Mensch. Während andere ihrer deutschen Kollegen sie zerreißen und denunzieren, hegt sie noch immer Hoffnung für ihren Stamm und für ihr Landund sorgt sie sich um die Maßstäbe menschlichen Handelns …
Dass sie zu einer langen Zuchthausstrafe verurteilt werden wird, weiß sie da noch nicht, vielleicht hätte aber auch das nichts an ihren Utopien, ihrem Glauben an die Vernunft und das Gute im Menschen geändert. Denn zugleich zeigt das Gedicht – ein wenig Shylock, ein wenig Nathan, der Weise – eine gewisse Weltfremdheit oder Naivität.
Vielleicht erscheint uns das aber auch nur aus der Retrospektive so, uns, die wir wissen, dass Warten, ein Wort, das in jeder Strophe vorkommt, katastrophale Folgen hatte und dass das deutsche Volk den Juden nicht als Bruder ausgewählt oder ihm die Hände gereicht, sondern ihn in die Gaskammer geschickt hat. ©yupedia
