Sigmunds Traum

„glaubst du eigentlich, daß an dem hause dereinst eine marmortafel zu lesen sein wird: ‚hier enthüllte sich am 24. juli 1895 dem dr. sigm. freud das geheimnis des traumes?‘ die aussichten sind bis jetzt hieführ gering“ – schreibt freud 1896 an den berliner hno-arzt wilhelm fließ und meint seinen traum von „irmas injektion“ auf schloss bellevue bei wien, der heute als der initialtraum der psychoanalyse und bekannteste traum der psychotherapie-geschichte gilt.
als freud diesen traum veröffentlicht, erklärt er in einem vorbericht, sein traum habe von einer befreundete junge frau namens irma gehandelt, die er von ihren „hysterischen symptomen“ befreien wollte, was ihm aber nur teilweise gelungen sei. sie habe zwar die psychosomatischen, aber nicht die körperlichen symptome verloren, was ihm umso unangenehmer wäre, weil er um die alte freundschaft zu ihrer familie fürchte. außerdem habe er sich über seinen kollegen und freund otto [= oskar rie] geärgert, der irma besucht und ihm berichtet hatte: „es geht ihr besser, aber nicht gut“. er, freud, habe nicht auf diesen affront gegen ihn reagiert, sondern noch am selben abend irmas krankengeschichte niedergeschrieben, um sie einem gemeinsamen freund [im traum dr. m = joseph breuer, die bis dahin unangefochtene autorität] vorzulegen. dann folgt die beschreibung des traums:
„eine große halle – viele gäste, die wir empfangen. – unter ihnen irma, die ich sofort beiseite nehme, um gleichsam ihren brief zu beantworten, ihr vorwürfe zu machen, daß sie die „lösung“ noch nicht akzeptiert. ich sage ihr: wenn du noch schmerzen hast, so ist es wirklich nur deine schuld. – sie antwortet: wenn du wüßtest, was ich für schmerzen jetzt habe im hals, magen und leib, es schnürt mich zusammen. – ich erschrecke und sehe sie an. sie sieht bleich und gedunsen aus; ich denke, am ende übersehe ich da doch etwas organisches. ich nehme sie zum fenster und schaue ihr in den hals. dabei zeigt sie etwas sträuben wie die frauen, die ein künstliches gebiß tragen. ich denke mir, sie hat es doch nicht nötig. – der mund geht dann auch gut auf, und ich finde rechts einen großen weißen fleck, und anderwärts sehe ich an merkwürdigen krausen gebilden, die offenbar den nasenmuscheln nachgebildet sind, ausgedehnte weißgraue schorfe. – ich rufe schnell dr. m. hinzu, der die untersuchung wiederholt und bestätigt… dr. m. sieht ganz anders aus als sonst; er ist sehr bleich, hinkt, ist am kinn bartlos… mein freund otto steht jetzt auch neben ihr, und freund leopold perkutiert sie über dem leibchen und sagt: sie hat eine dämpfung links unten, weist auch auf eine infiltrierte hautpartie an der linken schulter hin (was ich trotz des kleides wie er spüre)… m. sagt: kein zweifel, es ist eine infektion, aber es macht nichts; es wird noch dysenterie hinzukommen und das gift sich ausscheiden… wir wissen auch unmittelbar, woher die infektion rührt. freund otto hat ihr unlängst, als sie sich unwohl fühlte, eine injektion gegeben mit einem propylpräparat, propylen… propionsäure… trimethylamin (dessen formel ich fettgedruckt vor mir sehe)… man macht solche injektionen nicht so leichtfertig… wahrscheinlich war auch die spritze nicht rein.“
anschließend erklärt freud: „dieser traum hat vor vielen anderen eines voraus. es ist sofort klar, an welche ereignisse des letzten tages er anknüpft und welches thema er behandelt. der vorbericht gibt hierüber auskunft. die nachricht, die ich von otto über irmas befinden erhalten, die krankengeschichte, an der ich bis tief in die nacht geschrieben, haben meine seelentätigkeit auch während des schlafes beschäftigt. trotzdem dürfte niemand, der den vorbericht und den inhalt des traumes zur kenntnis genommen hat, ahnen können, was der traum bedeutet. ich selbst weiß es auch nicht. ich wundere mich über die krankheitssymptome, welche irma im traum mir klagt, da es nicht dieselben sind, wegen welcher ich sie behandelt habe. ich lächle über die unsinnige idee einer injektion mit propionsäure und über den trost, den dr. m. ausspricht. der traum scheint mir gegen sein ende hin dunkler und gedrängter, als er zu beginn ist. um die bedeutung von alledem zu erfahren, muß ich mich zu einer eingehenden analyse entschließen.“
legionen von wissenschaftlern nach freud, der sich selbst hier ja nur kurz darüber auslässt, bevor er mit seiner analyse und der schilderung weiterer träume fortsetzt, haben deutungen von „irmas injektion“ abgeliefert. was man in ihm aber auch als laie leicht erkennt, ist schuldbefreiung und rachelust: für „organisches“ fühlt sich freud nicht zuständig, irma ist selbst schuld an ihrem zustand, samt aller kollegen, mit denen er ein problem hat: dr. m. (der konkurrent breuer), der ganz anders aussieht (nämlich wie freuds bruder, mit dem er gerade zoff hatte), wie irma die lösung des hysterie-problems nicht akzeptiert und eine schwachsinnige prognose abgibt; otto (oskar rie), der ärgernis-grund vom vortag, der hier leichtfertig und womöglich gar mit einer unsauberen spritze hantiert hat und schließlich wilhelm fließ, der kenner der nasenmuscheln und ihrer beziehungen zur sexualität, der irma auch schon untersucht hatte (heute wird mehrheitlich davon ausgegangen, dass es sich bei irma um die junge witwe anna hammerschlag-lichtheim handelt, die tochter von freuds religions­lehrer samuel h., und dass sich in seine traum-figur außerdem züge von emma eckstein eingeschlichen haben, einer patientin, der freud im selben jaht zu einer nasenoperation geraten hatte, die sein freund fließ dann gründlich vermasselt hat).
verallgemeinert (und im weiteren buch ausgeführt) träumt freud also den eigenen prozess der erkenntnisbildung, er dechiffriert den traum als unbewusstes beziehungsgeschehen, deutet die übertragung als grundfigur an und beschreibt, wie sich der trauminhalt durch verdichtung bildet – wenn scheinbar sinnlose bilder und diverse alte erlebnisfetzten sich mit bildern von gestern mischen, personen aus verschiedenen zeiten miteinander verschmelzen usw. – und postuliert, dass man mit der entschlüsselung der grammatik dieses destillats auch die gesetzmäßigkeit des unbewussten entziffern könne; träume unterlägen denselben bildungsgesetzen wie psychosen oder neurosen. das im traum erstehende verdrängte sei das, was früher abgespalten wurde: eifersucht, neid, perversion, verborgene sehnsüchte, mordgelüste…
„die traumdeutung“, das buch, in dem auch der irma-traum schließlich erscheint, hat freud auf 1900 vorausdatiert, obgleich es schon im november 1899 gedruckt vorlag – quasi als symbolische eröffnung eines neuen jahrhunderts. irgendwie war ihm klar, dass die entschlüsselung der gesetzmäßigkeiten des traums die lösung eines großen menschheitsrätsels bedeuten würde, wenngleich ihr siegeszug erst zehn jahre später einsetzte und die enträtselung der träume bekanntlich noch lange nicht abgeschlossen ist. aber die gedenktafel am bellevue hat er 1977 schließlich bekommen:)

Ein Kommentar zu „Sigmunds Traum

  1. Der Traum redet in seiner paradoxen Bildersprache
    wovon der Träumer eine Nebenrolle zu spielen hat
    in einer Gegenübertragung meldet er dem Träumer
    sein Spiegelbild vor Augen
    zu neuer Einsicht vor Ort

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