Heißes Mexiko und Kalter Krieg

Leo und Rudolf Zuckermann – Tragödie in mehreren Akten

Am 22. Dezember 1952 empfängt Rudolf Z. in Mexiko-Stadt einen Hilferuf aus West-Berlin. Sein Bruder Leo telegrafiert ihm: »Ich musste mein Leben retten. Ich flehe Dich an, uns zu helfen. Ich habe noch nie etwas von Dir verlangt. Jetzt bist Du mein einziger Rückhalt. Ich bin verzweifelt und kopflos (…) Wir irren mit den Kindern durch die Straßen. Ich habe nur die Kleider am Leib. Ich will zu Dir nach Mexiko. Unterbrich Deine Arbeit. Nimm Schulden auf (…) Ich werde sie abarbeiten (…).«

Wer sind die Brüder Zuckermann? Was ist passiert?

Ihre Eltern, Samuel und Sophie Zuckermann, waren 1905 den Judenpogromen in Kongresspolen entflohen. Samuel Z. verkauft und repariert Nähmaschinen und Fahrräder im eigenen Geschäft in Wuppertal-Elberfeld und hier wachsen die Kinder des Paares auf: Leo (*1908), Rudolf (*1910) und die Nachzüglerin Dora (*1928). Auch wenn die Eltern nicht religiös sind und der Sozialdemokratie nahestehen, besuchen die Söhne den Religionsunterricht bei Rabbiner Joseph Norden (Vater des späteren SED-Politbüromitglieds Albert N.). Beide studieren in Bonn und Berlin – Leo Rechts- und Staatswissenschaften, Rudolf Medizin. Anders als der künstlerisch begabte Rudolf interessiert sich der ältere Leo schon als Schüler für Politik. 1924 tritt er der Sozialistischen Arbeiterjugend bei, 1927 der SPD, engagiert sich in der Leitung der Kommunistischen Studentenfraktion und wechselt dann zur KPD über. 1932 kehrt Leo als frischgebackener Dr. jur. nach Wuppertal zurück, um sein Referendariat bei der Staatsanwaltschaft anzutreten. Daneben übernimmt er die politische Leitung des Jüdischen Arbeiterkulturvereins. Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 warnt ein dankbarer Klient den jungen Referendar, dass er auf einer Liste des SA-Sturms stehe, um in ein KZ verschleppt zu werden. Leo flieht nach Paris.

Dort erfährt er, dass auch sein Bruder Rudolf alles hat stehen und liegen lassen und sich ebenfalls in Paris aufhält, um hier weiter Medizin zu studieren. Nebenbei lässt er sich an der Abendschule zum Radiomechaniker ausbilden. Durch Leo, der inzwischen unter dem Decknamen Leo Lambert beim »Verteidigungskomitee für die Angeklagten im Reichstagsbrandprozeß« und später als Sekretär beim »Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus« arbeitet, kommt Rudolf in Kontakt mit dessen politischen Kreisen. Doch lässt man ihn nicht zur Abschlussprüfung zu und er geht, inzwischen aus Deutschland ausgebürgert, nach Basel, und promoviert dort 1937 zum Dr. med. Nach Frankreich, wo Mutter und Schwester Z. inzwischen leben, kann Rudolf ohne Aufenthaltserlaubnis nicht mehr legal zurück. Er schließt sich als einer von 7000 jüdischen Freiwilligen den Internationalen Brigaden in Spanien an. Erst ist er Regimentsarzt der Brigade »Garibaldi«, überlebt die Kämpfe am Ebro und wird später Mitarbeiter des Sanatoriums der Interbrigadisten in Madrid. Nach der endgültigen Niederlage der Interbrigaden zieht er im Februar 1939 mit den von Ludwig Renn befehligten Truppen nach Frankreich, wird interniert, kommt dank einer Aufenthaltserlaubnis, die seine Mutter besorgt, frei und arbeitet als Volontär-Arzt… 

Bruder Leo hat in der gleichen Zeit zig Funktionen als Jurist inne, so im Hilfskomitee für deutsche Emigranten in Paris und als Sekretär des Internationalen Asylrechtsbüros. Nach Kriegsbeginn werden alle deutschen Männer in Frankreich interniert. Leo, weil er inzwischen mit der russischstämmigen Französin Lydia Staloff verheiratet ist, kommt wieder frei und schlägt sich mit seiner Familie in das unbesetzte Marseille durch. Rudolf gelingt es, sich während eines Hafturlaubs mit Hilfe seiner Freundin Henriette Schönstedt nach Casablanca abzusetzen. »Henny«, die als Krankenschwester in Paris arbeitet, kennt er schon aus Berlin vom Medizinstudium. Sie heiraten in Marokko, halten sich mit »unerlaubter ärztlicher Tätigkeit«, Radioreparaturen und unterstützt von der dortigen jüdischen Gemeinde über Wasser und im Juli 1941 kommt in Marrakesch ihr Sohn George André zur Welt.

Währenddessen versuchen die KPD-Beauftragten Lex Ende und Leo Zuckermann besonders gefährdete Genossen aus den französischen Lagern frei- und aus Frankreich herauszubekommen. Ihre größte Hilfe in Marseille ist – neben Noel Haviland Field vom Bostoner Unitarian Service Committee – der mexikanische Generalkonsul Gilberto Bosques. Der umgeht die sonst nötige Zustimmung seines Innenministeriums, stellt in Südfrankreich Internierten Visa aus und verhindert so ihre Auslieferung an die Nazis. Wenngleich die Mexikaner bis 1941 offiziell nur 1200 deutschsprachige Flüchtlinge aufnahmen, also deutlich weniger als andere lateinamerikanische Länder, hatte Mexiko anders als diese keine politische Einwanderungsklausel und so kamen hier nun überdurchschnittlich viele den Kommunisten Nahestehende ins Land. Auch weil sie dort einen weiteren einflussreichen Fürsprecher hatten, Vicente Lombardo Toledano, den Vorsitzenden des Gewerkschaftsverbandes CTM.  

Und endlich kann Leo auch für Rudolf und seine kleine Familie über Bosques Einreisevisa für Mexiko besorgen. Im November 1941 treten alle in Casablanca auf der »Serpa Pinto« die Überfahrt nach Veracruz an. Ausgelegt ist der Ozeandampfer für 350 Personen, doch befinden sich 900 Menschen an Bord, außer den Zuckermanns unter anderem Alexander und Hilde Abusch, Walter und Lotte Janka, Steffie Spira. Und viele Bekannte sind bereits in Mexiko: Ludwig Renn, Anna Seghers, Egon Erwin Kisch, Bodo Uhse.

Während Leo in Mexiko zum »Anwalt des deutschen Exils« wird, ist sein Bruder der »Hausarzt des Exils«. Rudolf nimmt kein Honorar von den Genossen, er verdient sein Geld als Assistenzarzt bei einem exilierten Urologen, dann als Stipendiat, schließlich als anerkannter Forschungsarzt bei Ignacio Chávez Sánchez, der 1944 das Instituto Nacional de Cardiología in Mexico-Stadt gründet, die damals erste und modernste Herzklinik der Welt. Rudolf beschäftigt sich intensiv mit Elektrokardiografie und veröffentlicht über 20 Lehrbücher und Forschungsberichte. Nebenbei hält er Sprechstunden für Juden aus Mitteleuropa und deutsche Genossen ab und betreut als Herzspezialist prominente mexikanische und spanische Kommunisten wie Frida Kahlo und ihren Mann Diego Riviera. In seiner Freizeit studiert der Arzt aztekische Kunst und mexikanische Wandmalerei und beteiligt sich am Kulturleben der jüdischen und linken Exilgruppen, wie im Verein »Menorah« und im »Heinrich-Heine-Klub«. Ein Amt übernimmt er nicht.

Leo hingegen gehört zu den führenden Kommunisten um Paul Merker, er leitet die juristische Kommission der »Bewegung Freies Deutschland«, berät Flüchtlinge in ausländerrechtlichen Fragen (u.a. verhilft er Anna Seghers zur mexikanischen Staatsbürgerschaft) und organisiert Aufklärungsveranstaltungen. Während er seine fachliche Expertise in der Pariser Zeit noch ganz in den Dienst der KPD gestellt hatte, entwickelt er nun – konfrontiert mit den Nachrichten vom Holocaust und sich seines Judentums wieder bewusst werdend – zusammen mit Merker die Grundlagen zur Formulierung von Rechtsansprüchen für das so beispiellos verfolgte jüdische »Kollektiv«. 

Dass mehr als 15 Verwandte und ihre eigenen Eltern Opfer der Schoa geworden waren, erfahren die Zuckermann-Brüder erst später: Der Vater wird im Oktober 1941 von Wuppertal nach Lodz deportiert und im Mai 1942 im Vernichtungslager Kulmhof vergast, die Mutter wird in Drancy inhaftiert und im November 1942 in Auschwitz ermordet. Allein die Schwester Dora erlebt im Versteck den Tag der Befreiung.  

Nach dem Ende des Krieges wollen die meisten Emigranten so schnell wie möglich zurück in die Heimat. Unter den neuen Akteuren in der Sowjetischen Besatzungszone sind überdurchschnittlich viele Juden – Hermann Axen, Alfred Kantorowicz, Hans Mayer, Stephan Hermlin, Jürgen Kuczynski, Paul Dessau usw. Sie alle – genau wie Alexander Abusch und der nichtjüdische Paul Merker, die sich im Mai 1946 mit der ersten kleinen KPD-Gruppe auf dem sowjetischen Handelsschiff »Gogol« auf den Rückweg nach Deutschland machen – haben die Hoffnung, hier einen demokratischen deutschen Staat aufbauen zu können.  

Am 27. Mai 1946, einen Tag nachdem die mexikanische Post begonnen hat, wieder Briefe nach Deutschland anzunehmen, schreibt auch Leo nach Berlin – an Franz Dahlem, dem er 1941 versucht hatte, zur Flucht zu verhelfen und der nun zur Führung der aus KPD und SPD fusionierten neuen Einheitspartei SED gehört: »Lieber Franz! (…) Fast alle Freunde, die hier nach Mexiko gekommen sind, brennen darauf, möglichst bald zurückzukommen und an der Aufbauarbeit teilzunehmen…«. Paul Merker, inzwischen wieder in Berlin, drängt den für Personalfragen zuständigen Dahlem seinerseits, Leo die Rückreise zu ermöglichen, er möchte ihn als Juristen in der Parteizentrale haben. Dahlem wendet sich also an Wilhelm Pieck und der an die »Freunde« in Moskau.

Doch es dauert noch ein Jahr – die Westalliierten haben kein Interesse daran, exilierte KPD-Kader in die sowjetische Zone gelangen zu lassen und in Moskau zieht man erst einmal Erkundigungen über ihn ein – bis Leo nach Deutschland zurückkehren kann. Im Mai 1947 signalisiert ihm die sowjetische Botschaft endlich, er solle sich reisefertig machen, aber niemanden informieren. Er verabschiedet sich nur von seinem Bruder (seine Frau Lydia hatte sich als französische Staatsbürgerin mit den Söhnen Marc-Michel und Jean-Claude schon im April nach Paris auf den Weg gemacht) und geht zusammen mit anderen Rückkehrern an Bord eines sowjetischen Frachters. Am 1. Juli, einen Tag nach seiner Ankunft in Ost-Berlin, dann das Wiedersehen mit Paul Merker. Leo soll Hauptreferent der Abteilungen Landespolitik bzw. staatliche Verwaltungen im SED-Parteivorstand werden und untersteht damit Max Fechner und Walter Ulbricht. Aber Ulbricht ist begeistert von dem laut Kaderakte »hervorragenden Staatsrechtler«, und so avanciert der in nur zwei Jahren zum Leiter des Sekretariats der außenpolitischen Kommission beim Politbüro und Mitglied der provisorischen Volkskammer. Leo Zuckermann ist mit den ebenfalls jüdischen Juristen Polak, Steiniger und Schiffer einer der vier Väter der DDR-Verfassung, deren Entwurf im März 1949 vom Deutschen Volksrat gebilligt wird, und er leitet die Kommission, die die Schaffung der DDR vorbereiten soll. Unmittelbar nach deren Gründung wird er Staatssekretär und Leiter der Kanzlei des ersten Präsidenten, Wilhelm Pieck. Das neue Amt ist der Höhepunkt seiner Karriere und der Anfang vom Ende.

Wenige Monate zuvor hatte mit dem vom KGB initiierte Prozess gegen den Spanienkämpfer und Kommunisten László Rajk (wegen »Titoismus« und »Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten«) in Ungarn die Säuberungswelle gegen Westimmigranten im Ostblock begonnen und nahm nun Fahrt auf. Der schon erwähnte amerikanische KP-Sympathisant Noel Field war ohne jeden Beleg als Schlüsselfigur des US-Geheimdienstes »ausgewählt« und Listen von Personen erstellt worden, die Kontakt zu ihm hatten. Jeder Westimmigrant stand unter Generalverdacht und wurde »überprüft« und jeder Name, der in einer solchen Befragung fiel, brachte seinen Träger in höchste Gefahr. Alexander Abusch z.B. gab als Zeugen dafür, dass er keinen Kontakt zu Field gehabt hatte, u.a. Paul Merker, Lex Ende und Leo Z. an, die daraufhin ebenfalls in die Mühlen der stalinistischen Pseudojustiz geraten.  

Im Sommer 1950 wird Leo zum ersten Mal in der Sache Field vorgeladen. Auch er hatte ihn nie persönlich getroffen, ist beunruhigt und informiert seinen Chef. Pieck wiegelt ab und verweist auf die Unabhängigkeit und Notwendigkeit der Untersuchungskommission. Während Merker, Ende und etliche andere wegen ihrer angeblichen Hilfe für den Klassenfeind aus der Partei ausgeschlossen und zu demütigenden Arbeiten in die Provinz geschickt werden (bevor man sie später verhaftet), passiert Leo zunächst nichts. Doch im November wird er erneut vorgeladen. Inzwischen hat Moskau die »Zionisten« als Hauptfeinde ausgemacht und drängt die DDR, ihre »Säuberungen« ebenso antizionistisch/antisemitisch auszurichten. Leo wird nun zur »jüdischen Frage«, zu seiner Mitgliedschaft in der Jüdischen Gemeinde und zu Paul Merker befragt.  

Merker war als einziger Westremigrant in das ZK der SED gewählt worden und setzte sich mit Julius Meyer und Leo Z. für eine Gleichstellung der jüdischen Opfer und ein Wiedergutmachungsgesetz ein. Merker wie Zuckermann unterstützten nicht aus religiösen Gründen, sondern als Akt der Solidarität den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden und empfahlen jüdischen SED-Genossen den Beitritt. Beide hatten schon in Mexiko eine deutlich andere Haltung als die KPD zur Judenverfolgung und zur Politik eines künftigen antifaschistischen Deutschlands vertreten. Merker sprach in seinen Aufsätzen von der Beispiellosigkeit der Verbrechen an den Juden, von Rassenideologie und Antisemitismus als Kern aller nationalsozialistischen Theorie und von der Mitschuld/verantwortung der deutschen Bevölkerung. Und auch Leo hatte 1948 in der »Weltbühne« das Recht aller Opfergruppen – politisch Verfolgter und Juden – auf Wiedergutmachung betont. Und, da der Nazistaat dem gesamten jüdischen Volk den Krieg erklärt hatte, hätte das jüdischen Volk die gleichen Ansprüche auf Wiedergutmachung wie allen anderen überfallenen Völker; und während die Juden im Ausland einen Kollektivanspruch auf Restitution hätten, besäßen die in Deutschland einen auf Rückgabe des ihnen von den Nazis geraubten Eigentums und auf Entschädigung.

1948 bringen Merker und Leo Z. angesichts der (noch) pro-jüdischen und pro-israelischen Haltung im Ostblock (immerhin hatte die UdSSR den UN-Teilungsplan 1947 noch laut begrüßt) Wiedergutmachungszahlungen an Israel ins Gespräch und zusammen mit dem Auschwitz-Überlebenden Julius Meyer einen Gesetzesentwurf über eine kollektive Wiedergutmachung für jüdische Opfer im Politbüro ein. Überraschenderweise wird er vom höchsten Parteiorgan genehmigt. Doch kurz darauf ändert sich die Stimmung, beginnt der Kalte Krieg, ergreift der sowjetische antizionistischen Kurs auch die SED-Führung und von Rückerstattung ist keine Rede mehr. Die DDR wird auch jede Wiedergutmachung mit der Begründung ablehnen, diese würde allein »zionistischen Monopolkapitalisten« zu Gute kommen, und Leo Z. wird vorgeworfen werden, dass er die Erklärung, die er Ende 1947 im Auftrag Wilhelm Piecks für die Colombia Broadcasting New York verfasst hatte, eigentlich im Auftrag der »Zionisten« geschrieben habe – nämlich, dass die SED den Beschluss begrüßt, »Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu teilen« und es »jedem Einzelnen freigestellt sein muss, hier in Deutschland am demokratischen Aufbau teilzunehmen oder in den neuen jüdischen Staat oder sonstwo auszuwandern«.

Doch noch ist es nicht soweit. Leo Z. gibt sich (oder ist) nach dieser »Befragung« zerknirscht, es sei ein Fehler gewesen, schreibt er, der Jüdischen Gemeinde beizutreten, und bittet Walter Ulbricht um Demission. Während der stärkste Mann der SED Paul Merker fallen lässt, demonstriert er bei Leo seine Macht und hält die Hand schützend über ihn. Der Jurist ist ihm nützlich und so beschäftigt Ulbricht ihn weiterhin als Völkerrechtsexperten und Redenschreiber und lässt ihn noch im November 1952 zum Direktor des Instituts für Rechtswissenschaft berufen. Doch Ulbricht hat die Rechnung ohne den russischen Geheimdienst gemacht. Der KGB hat längst einen eigenen Steckbrief des »zweifelhaften Juden« zusammenfantasiert und dem Ministerium für Staatssicherheit nahegelegt, seinen Telefon- und Postverkehr zu überwachen. Solange das Politbüro und Moskau keine anderen Befehle geben, begnügt sich die Stasi damit, Informationen über Leo Z., seine Mitarbeiter und Hausbewohner zu sammeln: Vorgang »Mexiko«.

Inzwischen hat in Prag der Slánský-Prozess, der nach dem Willen der sowjetischen Organe analoge Tribunale in der DDR und Polen vorbereiten soll, begonnen. Die CSSR hatte unter KP-Generalsekretär Rudolf Slánský auf russischen Wunsch Waffen und Munition für Israel geliefert. Nun, vier Jahre später, wird einem Teil der Führung, elf der 14 Angeklagten sind Juden, deswegen und wegen angeblicher Putschversuche der Prozess gemacht. Er endet mit elf Todesurteilen, darunter gegen André Simone, der mit Leo und Rudolf in Mexiko gewesen war. Kurz darauf wird der »Judenknecht« und »Trotzkist« Paul Merker verhaftet, weil er die »DDR an die Juden verschachern« wollte, das MfS durchsucht die Büros der Jüdischen Gemeinden, lässt die Akten aller »Genossen jüdischer Abstammung« überprüfen und jeden Zehnten verhaften. 

Die Angst geht um (am Ende wird die DDR durch dieses Vorgehen mehr als die Hälfte ihrer staatstreuen jüdischen Bürger verloren haben; allein im Januar 1953 flüchten 400 Juden wie Julius Meyer, Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, in den Westen). Auch die anderen »Mexikaner« werden nun als »zionistische Agenten« diffamiert und dem neuen Direktor des Instituts für Rechtswissenschaft Leo Zuckermann folgt auf Schritt und Tritt ein Wagen der Stasi. Er gerät in Panik, er muss weg! Am 15. Dezember 1952 gelingt es ihm, seine Verfolger auf dem Ost-Berliner Weihnachtsmarkt abzuschütteln und mit der S-Bahn nach West-Berlin zu entkommen; Frau und Kinder hatte er ein paar Stunden zuvor allein losgeschickt.

Leo kommt bei jüdischen Freunden unter und schickt seinem Bruder in Mexiko den eingangs zitierten flehentlichen Hilferuf. Und Rudolf – weiß nicht, was er tun soll. Er weiß nicht, warum sein Bruder geflohen ist, nur, dass er sich die Rückkehr in die DDR abschminken kann, wenn er ihm hilft. Rudolf Zuckermann hatte 1947 eine erste Einladung aus Ostberlin zur Rückkehr und ein Angebot für einen Lehrstuhl erhalten. Damals war er dem Ruf noch nicht gefolgt, er hatte wichtige Forschungsarbeiten, seine Frau einen guten Job bei der Exilzeitschrift »Demokratische Post« und er wollte abwarten, welche Erfahrungen Leo macht. Jetzt, fünf Jahre später und nach einem neuerlichen Angebot aus Ostberlin, hatte er längst entschieden zurückzugehen und seine Frau mit dem Sohn sogar schon in die DDR vorgeschickt. Und nun das!

Rudolf berät sich mit zwei befreundeten spanischen KP-Funktionären. Die meinen, Leo hätte wohl »Kontakte zu der in Prag verurteilten Verbrecherbande« gehabt, Rudolf müsse unbedingt vermeiden, mit ihm zusammenzutreffen und solle sofort losfahren. Mit seiner Rückkehr würde er der SED am besten beweisen, dass er mit der Flucht seines Bruders nichts zu tun habe. Er solle Leo telegrafieren, dass er ihn nicht mehr belästigen soll. Tatsächlich kabelt Rudolf nach West-Berlin: »Wegen Schwere der Krankheit ärztliche Hilfe unmöglich«. Am 3. Januar kommt die Antwort, es ist der letzte Brief von Leo: »Dein Telegramm war für mich der Todesstoß. Ich habe es nicht verdient. Ich bin unschuldig. Die Politik hat sich geändert, und ich stehe jetzt als jüdischer Nationalist da. (…) Du tust mir bitteres Unrecht. L.«

Trotz der Flucht, der Bitten und Erklärungen seines Bruders, trotz aller Warnungen von Freunden, in »Sippenhaft« genommen zu werden, trotz der Verhaftung Merkers, fliegt Rudolf Mitte Januar 1953 nach Prag. Es ist der Tag, an dem die TASS erstmals über die »Entlarvung einer terroristischen Ärztegruppe« berichtet, die angeblich im Auftrag fremder (jüdischer) Mächte hohe Sowjetfunktionäre umbringen wollte. Doch davon bekommt Rudolf nichts mit. Er wird schon am Flughafen in »Schutzhaft« genommen und, mit verbundenen Augen, in ein »Gästehaus« in Lehnitz bei Oranienburg gebracht. Anfangs ist man freundlich. Rudolf meint, beim MfS »zu Besuch« zu sein. Er soll sein bisheriges Leben reflektieren, erklären, was er in der DDR zu tun beabsichtige und was er über Leo denke. Er wisse nicht, schreibt er, was Leo sich habe zu Schulden kommen lassen, aber »allein durch die Flucht hat sich mein Bruder gebrandmarkt. Ich muss mich damit abfinden, meinen Bruder, den ich sehr verehre, verloren zu haben. Ich befinde mich heute in der Situation des Bruders eines Verräters (…) ich will der Partei dienen (…) Ich habe versucht, mir Fachkenntnisse anzueignen, um sie nach der Heimkehr in den Dienst unserer Sache zu stellen.« Dann zählt er seine Pläne auf: 1. Schaffung eines Herzinstituts, 2. eines Lehrbetriebs, 3. Forschung. Gründlicher kann Rudolf Z. seine Lage nicht verkennen.

Nach zwei Wochen sind seine »Gastgeber« zum Rapport bei Stasi-Chef Mielke bestellt. Da Rudolfs Aufzeichnungen nichts hergeben, »dichten« sie ihr eigenes Epos. In perfider Umkehr all seiner Angaben wird sein mexikanisches Milieu zu einem Hort von »zionistischen Großschiebern« und Geheimdienstleuten, seine Bindung zur Partei »fraglich«, die Unkenntnis von »der verbrecherischen Rolle« seines Bruders »unglaubhaft« und liege die Vermutung nahe, dass er gekommen sei, um dessen Werk fortzusetzen. Die sowjetischen »Freunde« sind begeistert. War schon Leo ein geeigneter Kandidat für die Anklagebank, ist sein Bruder ein fast noch besserer und auch noch so naiv, sich selbst auf dem Präsentierteller zu servieren, samt seinem Arztköfferchen voller Medikamente, Ampullen und Injektionsnadeln – für den KGB-Vernehmer der »Beweis«, dass der Herzspezialist nur zurückgekommen war, um im Auftrag der Amis (schließlich waren die Apparaturen in seinem Institut in Mexiko von der Rockefeller-Stiftung bezahlt worden) hohe Parteifunktionäre zu ermorden. Rudolf ist fassungslos, glaubt an einen makabren Scherz und wird über die »Ärzteverschwörung« in Moskau »aufgeklärt«. Und dass er Gelegenheit bekomme werde, ein umfassendes Geständnis abzulegen.

MfS-Vizechef Erich Mielke bestätigt den Haftbefehl »(…) Rudolf Z. steht im dringenden Verdacht, als Agent einer imperialistischen Macht in die DDR gekommen zu sein, um die Agententätigkeit seines geflüchteten Bruders Leo fortzusetzen«. Der Arzt wird, wieder mit verbundenen Augen, in die U-Haftanstalt des MfS in Hohenschönhausen überstellt und ist weiter unauffindbar für Familie und Freunde; seine eigene Frau glaubt, er sei noch in Mexiko. Aber »Häftling 905, Nationalität: Jude« sitzt in Einzelhaft und wird wieder und wieder verhört. Anfangs beharrt er auf seinen Angaben. Dann wird die Gangart härter, sein KGB-Befrager Boris verkündet, »bei ihm hätte noch jeder gestanden.«

Allmählich treibt der KGB-Mann ihn an den Rand des Wahnsinns: »Tagsüber durfte ich nicht sitzen (…) Die Verhöre waren zumeist nachts. Ich saß auf einem Schemel, angestrahlt von grellem Lampenlicht. Aus dem Dunkel kam die Stimme. (…) Ich wurde angeschrien. Man drohte mir mit dem Bunker. Einmal kam ich dorthin. Wie viele Tage, weiß ich nicht. Es gab keinen Sinn für die Zeit mehr. Ich war wie in einem Tresor, hörte nur noch das eigene Herz und das Rauschen in den Ohren. Es war das Gefängnis im Gefängnis. Ich verlor jede Orientierung. Ich stand auf Holzplanken, der Boden stand unter Wasser. Drei Monate wehrte ich mich verzweifelt. Dann unterschrieb ich alles, was Boris mir vorlegte«.

Boris hat sein Ziel erreicht. Zeitgleich aber wird nach Stalins Tod und Berijas Ende der Machtkampf im Kreml entschieden. Und plötzlich sind die Moskauer Ärzte »zu Unrecht beschuldigt« worden und auch an Rudolf Z. haben die Sowjets das Interesse verloren. Die MfS-Verhörer versuchen es nun mit anderen Vorwürfen – den illegalen Abtreibungen, die er in Frankreich im Auftrag der Genossen durchgeführt hatte, weiteren Kontakten zu »imperialistischen Geheimdiensten« und der Frage, ob er überhaupt Parteimitglied war oder ist. Aber die Luft ist raus und mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953 bekommt das MfS neue Kundschaft und gewichtigere Probleme als einen »bockigen« Mediziner. Die Tonart der Verhöre ändert sich und im August beginnt man mit ihm über seine Freilassung zu verhandeln. Er soll eine »freiwillige Schweigeverpflichtung« über seine Haft unterschreiben und sich als Geheiminformant »Juan« verpflichten. Häftling 905 weiß, dass er dem Albtraum nur entkommt, wenn er auf den Pakt mit dem Teufel eingeht. Er hatte die Mordabsichten »gestanden«, was konnte schlimmer sein?! Er unterschreibt. Und Mielke unterschreibt – den Entlassungsbeschluss. Offiziell reist Rudolf Zuckermann erst am 1. September 1953, seinem Entlassungstag aus der Haft, in die DDR ein. Die sieben Monate, in denen er nicht einmal wusste, wo man ihn festhielt, fehlen in seiner Biografie. Sie bleiben sein lebenslanges Trauma, auch wenn dies seinem weiteren Lebenslauf nicht gleich anzusehen ist.

Da die »Mordabsichtserklärung« gegen ihn nicht verworfen wird, tritt Rudolf 1956 aus der SED aus und teilt dem ZK schriftlich mit, dass er keine höheren Funktionäre behandeln werde (auch »Juan« hat nie berichtet, es forderte ihn auch niemand dazu auf; 1958 erreicht er, dass diese Verpflichtung in seiner Gegenwart vernichtet wird). Das MfS überwacht ihn weiter: »Z. ist ein Einzelgänger und kümmert sich nur noch um seine Forschungen und die Arbeit in der Klinik«. Die uninteressante Stelle als Bäderarzt in Bad Liebenstein, die man ihm zuteilt, verlässt er frustriert, ist arbeitslos, wird dann aber 1955 Oberarzt und Leiter der Kardiologie in der Uni-Kinderklinik Halle und bekommt 1957 endlich eine Professur mit Lehrauftrag. Allerdings lässt man den Professor im Keller der Klinik sitzen und die altgediente Garde der Fakultät beäugt den Juden mit der »linken« Vergangenheit argwöhnisch. Trotz der widrigen Bedingungen diagnostiziert er viele angeborene Herzfehler bei Kindern und regt, um Operationen am offenen Herzen zu ermöglichen, den Bau der ersten Herz-Lungen-Maschine an (die Anschaffung einer amerikanischen Maschine konnte sich die DDR mangels Devisen nicht leisten). Nach 66 Versuchen an Hunden wird 1962 das erste Kind erfolgreich operiert. Er und die anderen beteiligten Wissenschaftler erhalten den Rudolf-Virchow-Preis der DDR und Rudolf Z. den ersten Lehrstuhl für Kardiologie in Gesamtdeutschland. Trotz aller Erfolge (Patienten und Hospitanten reisen aus der ganzen Republik nach Halle an) kämpft der Kardiologe aus seinen Kellerräumen heraus zehn weitere Jahre vergeblich für ein eigenständiges Forschungsinstitut. Dann gibt er verbittert auf. Fachlich isoliert, mag er auch keine Kongresse mehr besuchen. Er emigriert innerlich und bleibt dennoch über 24 Jahre lang, bis zu seinem letzten Arbeitstag 1979 auf seinem Posten als Arzt.  

Rudolf Zuckermann stirbt 1995 und wird in aller Stille neben seiner Frau Henny auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt. Seinen Bruder hat er nie wiedergesehen. Leo Zuckermann wird nach seiner Flucht aus Ost-Berlin noch im Januar 1953 mit Hilfe französischer Stellen nach Frankreich ausgeflogen und kehrt nach Mexiko zurück. Er arbeitet wieder als Anwalt, lehrt zeitweise Soziologie an der Universität, betreibt einen Buchladen und eine kleine Plattenfirma und stirbt 1985.

Wir wissen nicht, wie die Beiden mit der Tragödie und dem »Krimi« ihres Lebens umgegangen sind, wie sie den vielfachen Verrat an ihnen und ihrer Sache verkraftet haben, die Demütigungen, die Enttäuschungen, den Selbstbetrug, die Scham, den Verlust ihrer politischen Heimat und ihr fast spurloses Verschwinden aus der »Geschichte«. Wir wissen nicht, ob Leo seinem Bruder je verzeihen und ob Rudolf je wieder gut schlafen konnte, nur, dass ihm sein damaliger Biograf Wolfgang Kießling versprechen musste, Zeit seines Lebens »nichts über seinen Absturz in den Kalten Krieg« zu veröffentlichen.

Erschienen auch im Sammelband »Juden in der DDR. Jüdisch sein zwischen Anpassung, Dissidenz, IIlusion und Repression« (Hg. Martin Jander, Anetta Kahane c/o Hentrich & Hentrich, 2022) 

Hinterlasse einen Kommentar