Masl tow, Dr. Sex!

Die Frau ist ein Gesamtkunstwerk, schlagfertig, offenherzig, ohne obszön zu wirken und streckenweise freiwillig oder auch mal unfreiwillig komisch. Eine „Kreuzung zwischen Henry Kissinger und Minni Maus“ nannte sie das Wall Street Journal einmal, in An­spielung auf seinen ebenfalls deutschen Akzent und ihre Körpergröße – so wie sie selbst sich gern als „1 Meter 40 konzentrierten Sex“ bezeichnet. Die Rede ist von Dr. Ruth Westheimer, die heute 90 wird.
Dass sie eines Tages den Ruf einer Sex-Päpstin genießen würde, war ihr nicht in die Wiege gelegt. Geboren wurde Westheimer (der Name ihres dritten Ehemannes und Vaters ihrer zwei Kinder) als Ruth Karola Siegel am 4. Juni 1928 in einem orthodoxen Elternhaus in Wiesenfeld bei Frankfurt. Nach den Novemberpogromen konnte sie Deutschland mit einem Kindertransport verlassen und überlebte den Krieg in der Schweiz in einem Kinderheim, das allmählich zum Waisenhaus wurde – auch ihre Eltern und die meisten ihrer Verwandten wurden in Auschwitz ermordet. Geblieben ist ihr nur der hessische Dialekt, wenn Sie Deutsch spricht.
1945 ging die damals 17jährige nach Palästina in einen Kibbutz, wurde bei der Haganah zur Scharfschützin ausgebildet (dass sie bis heute treffsicher ist, erzählt sie gern und oft) und kämpfte im Unabhängigkeitskrieg. Bis sich an ihrem 20. Geburtstag Schrapnelle einer Granate durch beide ihrer Füße bohrten. Von der schweren Verletzung genesen, studierte sie zunächst an der Pariser Sorbonne Psychologie und promovierte später – in Europa hatte sie keine Familie mehr – an der Columbia University in Sexualwissenschaften. Seitdem lebt und therapiert sie in Washington Heights, New York, dort, wo sich nach dem Krieg viele deutsch-jüdische Emigranten niedergelassen hatten.
Schlagartig amerikaweit bekannt wurde Westheimer 1980 durch ihre 15-minütige Radiosendung „Sexually Speaking“, in der sie den Anrufern unverblümte Ratschläge für guten Sex erteilte. Seitdem ist die kleine rundliche Frau mit der ulkigen Stimme nur noch „Dr. Ruth“, hat über 450 TV-Sendungen bestritten, in Yale, Harvard und Princeton gelehrt, tausende Fragen ihrer weltweiten Kundschaft beantwortet und ganze 44 Ratgeberbücher für einen freudvollen, neugierigen Umgang mit der körperlichen Liebe verfasst.
Viele ihrer Bestseller wurden auch ins Deutsche übertragen so „Sex für Dummies“, ihre Autobiographie „und alles in einem Leben“ oder „Himmlische Lust. Liebe und Sex in der jüdischen Kultur“. Spätestens dieses Buch hat sie in den 1990ern auch in Deutschland bekannt gemacht. Seitdem ist sie auch hierzulande ein gern gesehener, unterhaltsamer Gast in Talk-Shows und als Referentin.
Vermutlich hat Ruth Westheimer ihre Wirkung und ihren Ruhm nicht einmal sonderlich bahnbrechenden Neuigkeiten über Sexualität zu verdanken, sondern ihrer Menschen- und Sachkenntnis aus tausenden Therapiesitzungen, gepaart mit dem Talent und der Chuzpe, die Dinge beim Namen zu nennen und sie in einer unnachahmlichen direkten, sprachwitzigen Art auszusprechen.
Zudem ist sie nicht nur ein Energiebündel und Arbeitstier, sondern auch eine begnadete Selbstvermarkterin. Im Internet kursieren Hunderte Westheimer-Selfies mit anderen Promis von Shimon Peres bis Barack Obama, Werbespots für Pepsi Cola bis Honda, Sex-Beratungsclips im israelischen und britischen Fernsehen, es gibt ein Brettspiel, „Dr. Ruth’s Game of Good Sex“, und ein Broadway-Theaterstück über sie.
Sie selbst verweigert sich der Computerwelt, lässt aber selbstverständlich einen Youtube-Kanal und eine Webseite betreiben und kann sich über 91000 Follower ihres Twitter-Accounts @AskDrRuth freuen. Hier gibt sie Tipps für Sex bei Schneesturm an der Ostküste oder fragt ihre Fans: „Wenn Nord- und Südkorea sich versöhnen können, ist das nicht der richtige Moment für Euch, alle Eure Fehden zu begraben?“ (und statt dessen guten Sex zu haben, und den Liebsten etwas ins Ohr zu flüstern, was den Vorteil gegenüber Textnachrichten hätte, dass die Russen die Kommunikation nicht hacken könnten).
Für ihr Wirken hat die Ikone des Sex-Talk im Laufe der Zeit alle denkbaren Preise, Ehren-Titel und -Doktorwürden abgeräumt – wie die „Mutter des Jahres“, die Freiheitsmedaille der Stadt New York, den Israel Cultural Award, eine Goldmedaille des Internationalen Film- und Fernsehfestivals, die Leo-Baeck- und die Magnus-Hirschfeld-Medaille. Das People Magazine hat sie in seine Liste der faszinierendsten Menschen des Jahrhunderts aufgenommen.
Man weiß nicht so genau, was zu erst da war, ihr Ruhm oder ihr Selbstbewusstsein. Jedenfalls scheint Dr. Ruth mit sich im Reinen zu sein, wenn sie beispielsweise sagt: „Freud war in Bezug auf die Sexualität der Frau sehr ignorant. Er hat vermutlich meine Bücher nicht gelesen!“. Und nein, nicht Juden hätten den besseren Sex, sondern alle, die von ihr gelernt hätten. Ob in Kairo, Delhi oder Berlin.
Denn in ihren Vorträgen wird Westheimer nicht müde, die positiven Seiten der Sexualität im Judentum zu betonen. Anders als in anderen Religionen sei Sex für Juden eben keine Sünde, sondern göttliches Gebot, und zu mehr gut als zur Fortpflanzung. Sie zitiert gern die Anweisungen der alten Weisen zu Lust förderndem Sex aller Art, die Verpflichtung des Mannes seine Ehefrau zu befriedigen (aber nur diese) oder das Gebot zu sprechen – vor, über, beim Sex.
Auch deshalb könne sie selbst so offen über Sexualität sprechen, weil sie (zwar nicht mehr orthodox und religiös, aber) sehr jüdisch sei. Schließlich schöpfe sie ihre Weisheiten aus dem Talmud und der Bibel, der „ältesten und noch immer klügsten Anleitung zum Sex“, denn, so Dr. Ruth: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war Sex.“
Zweifellos hat die Therapeutin selbst einen großen Anteil daran, dass heute offener über Sexualität, Praktiken oder Probleme im Bett gesprochen werden kann, dass dem Thema das Schambehaftete, tabuisierte genommen ist, wenngleich sie die allgegenwärtige Übersexualisierung und pornographische Bilderflut beklagt – da sei sie altmodisch, sagt sie. Doch die Phantasie sei etwas wunderbares, man müsse sie immer wieder anregen: „Langeweile ist der Tod der Lust“. Und egal, worum es geht – Orgasmen, Analsex, Blow Jobs, Vibratoren, Penisgrößen, Schamhaar-Rasuren, Viagra oder Sex im Alter – Dr. Ruth nimmt alles in den Mund und hat auf alles eine Antwort.
Ganz genau dürfe man da aber nicht hinschauen, ließ Henryk Broder einmal in der „Jüdischen Allgemeinen“ wissen, Ruth Westheimer hätte „ein Verhältnis zur Sexualität wie Erich von Däniken zu den Ufos“, auch sie verbinde das Phantastische mit dem irgendwie Möglichen (aber wahrscheinlich war Broder damals nur beleidigt, weil sie ihm als Moderator bei der Vorstellung ihres Buches über Sex im Judentum in der Berliner Gemeinde komplett die Show gestohlen hat).
Nun, einige „Fakten“ sind tatsächlich wohl eher banal oder schlicht Mythen, etwa dass Männer, die Frauen den Vortritt beim Orgasmus lassen, Söhne zeugen würden; einige Einstellungen, so zu außerehelichem Sex oder zur Homosexualität sind antiquiert oder absurd (wie die, dass der Sex bei Orthodoxen am Schabbatabend besonders erotisch wäre, schließlich würden die vorher aus dem Hohelied rezitieren, oder dass Männer, die auf Männer stehen, halt die Augen beim Sex mit der Gattin schließen sollen). Sicher gibt es nicht „den“ jüdischen Sex, pickt sich auch die „Päbstin“ ein paar Rosinen aus der Literatur, um ihre Thesen bestätigen zu lassen und lässt sich über einige ihrer Positionen streiten, aber nicht mit ihr:) und schon gar nicht an ihrem 90. Masl tow, bis 120 und einen Mittwoch, Dr. Sex! {Erstveröffentlicht 2018}

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