A jiddische mame

Sofia Kalisch, 1887 in Tultschyn/Ukraine geboren, wurde unter dem Namen Sophie Tucker eine der berühmtesten Entertainerinnen der USA… Nach ihrer Flucht vor den Pogromen im damaligen Russischen Reich betrieb die Familie Kalisch ein koscheres Restaurant in Connecticut. Sophie bediente hier, heiratete mit 16 einen Lieferanten namens Louis Tuck, um »mehr Spaß« zu haben und änderte ihren namen in Tucker. Der Spaß hielt sich aber offenbar in Grenzen, die Ehe scheiterte (wie auch zwei späteren Ehen), sophie ließ ihren Sohn bei ihrer Schwester zurück und verschwand nach New York, um ein Star zu werden. 

Ihre ersten Auftritte hatte sie 1906 mit Burlesken im German Village Club, und, nachdem sie ein Theatermanager davon überzeugt hatte, dass sie für seriöse Auftritte zu fett und zu hässlich war, widerwillig als Schwarze geschminkt. Tucker tingelte durch die USA mochte das Blackfacing aber nicht und begann eines Tages auf der Bühne, plötzlich ihre Handschuhe, die Perücke usw abzulegen. Die Zuschauer waren begeistert. Und so »verlor« Tucker auf dem Weg zur nächsten Show unterwegs ihr gesamtes Gepäck samt Make-up und ging ungeschminkt auf die Bühne. Der Beginn ihrer Karriere. 

Es folgten erste Plattenaufnahmen, dann engagierte sie den Pianisten Ted Shapiro, der sie über viele Jahre begleitete, spielte in x Filmen mit, bestritt große Europatourneen und trat in Berlin und London auf, 1934 sogar vor dem englischen Königspaar (sie begrüßte George V. mit »Hiya King!«).

Tony Bennett schrieb einmal, Sophie Tucker sei »die am meisten unterschätzte Jazzsängerin, die je gelebt hat«. Doch das Publikum liebte sie vor allem wegen ihres komödiantischen Talents. Sie war urkomisch, aggressiv und umwerfend selbstsicher, rauchte so viel, dass ein Papagei, der einem ihrer Freunde gehörte, jedes mal hustete, wenn ihr Name fiel, und trat in Metern Seide, Pailletten und Qualm gehüllt als »The last of the red hot mamas« auf (ein Spitzname aus einem ihrer beliebtesten Songs). Die heiße Mama jonglierte gekonnt mit Sterotypen von Sex, Alter und Gewicht, und sie regte die Moralapostel auf – mit Songs wie »I may be getting older every day, but getting younger every night« und »I’m bigger and better than ever« oder der Zeile »Mr. Siegel, please make it legal« in einem Lied über einen Boss, der seine Angestellte geschwängert hat.

Tucker war eine Ikone, die von vielen kopiert wurde und die Judy Garland, Frank Sinatra und Mae West »gepusht« hat. Sie war mit Gangstern und Präsidenten befreundet, mit Al Capone und Edgar Hoover, Einstein, Eisenhower und Golda Meir, umgab sich aber auch mit »Normalos«, mit Afroamerikanern, assimilierten Juden und Frauen, die wie sie alle Konventionen über Bord geworfen hatten. Tucker hatte ein großes Herz, spendete und sammelte ihr ganz Leben lang für wohltätige Zwecke, für Synagogen, Krankenhäuser, die »Negro Actors Guild« und Jugendcenter in Israel  – Mama für alle und Mutter von niemanden. Noch 1962 antworteten bei einer Umfrage 95% der Amerikaner auf die Frage, was ihnen bei dem Namen »Sophie« einfällt, mit: »Tucker«. – Aber auch wem ihr Name nichts sagt, kennt sicher das Lied »A jiddische mame«, das auf keinem jüdisch gemeinten Folkloreabend fehlen darf. Jack Yellen und Lew Pollack haben den Song 1925 für Sophie Tucker geschrieben, nachdem ihre Mutter gestorben war. Sie nahm ihn englisch auf der A- und jiddisch auf der B-Seite auf und die Platte wurde ein Welthit.

In einem Brief, der sich in Tuckers Nachlass befindet, berichtete ihr ein Ex-Soldat von seinem Kameraden Al, einem jungen Juden, der Tuckers Aufnahme der »jiddischen Mame« den ganzen Krieg mit sich herumgeschleppt und davon geträumt hatte, sie in den Straßen Berlins abzuspielen (in Nazi-Deutschland war das Lied verboten). Unglücklicherweise fiel dieser Al, bevor er die Gelegenheit dazu bekam; aber der Briefschreiber besorgte einen Plattenspieler und einen Elektriker, der das Gerät samt Lautsprecher an die Batterie eines LKW am Brandenburger Tor anschloss, und ließ das Lied zu Ehren des toten Al im Frühjahr 1945 stundenlang durch die ausgebombte Straßen schallen. 
Am meisten an Tuckers Ur-Version der „jiddischen mame“ gefällt mir, dass sie noch nichts von der schmalzigtränigen Süßlichkeit hat, die mir bei späteren Interpretationen so auf den Senkel geht: https://youtu.be/I_98biceGjc

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