Nasen-Ikonografie

„die jüdische nase“, gegenstand zahlloser flachwitze und karikaturen, ist ein mythos. es gibt sie nicht.
bereits 1911 hat der anthropologe maurice fishberg beim vermessen von 4000 jüdischen nasen in new york keinen signifikanten unterschied zur gesamtbevölkerung finden können. auch die statistiken aus russland und galizien, die er und der anthropologe joseph jacobs ausgewertet haben, zeigten, dass die „jüdische“ oder hakennase bei menschen mit jüdischer abstammung mit gleicher häufigkeit von 20 bis 30% vorkam wie bei nichtjuden aus dem mittelmeerraum allgemein, und dass die überwiegende mehrheit eine gerade (im volksmund „griechische“) nase hatte; unter den juden in warschau fanden sich gar nur 6,5% „semitische“ nasen; in südrussland 10%. (der anteil der „stupsnasen“ lag bei nur 6%, was mich zb. tatsächlich zu einer rarität macht, ha:)
anthropologen haben also zwar klassen von nasen kreiert und eine davon als „jüdisch“ oder „semitisch“ bezeichnet, weil solche vorstehenden und gebogenen nasen schon in altägyptischen reliefen auftauchen. doch haben andere autoren dem widersprochen, u.a. weil nichtjüdische semiten der neuzeit, insbesondere beduinen-araber, die genetisch relativ unvermixt geblieben sind, mehrheitlich kurze, gerade und „stumpfe“ nasen haben und andere nichtsemitische völker, zb. armenier, hingegen häufiger mit hakennasen ausgerüstet sind. die „jüdische“ nase ist also weder „jüdisch“, noch ist eine nase, die einer person jüdischer herkunft gehört, statistisch gesehen diejenige, die hervorsteht, hakenförmig oder gewölbt ist.
neuere forschungen zeigen, dass es zwar gene gibt, die die nasenform beeinflussen, diese jedoch weitgehend von der geografischen herkunft abhängt und dass sie eine evolutionäre anpassung durchgemacht hat. europäer haben tendenziell schmalere nasen, um mit der luft eines kalten, trockenen klimas fertig zu werden, afrikaner breitere, die sich einer feuchteren und wärmeren umgebung angepasst haben. und so haben auch juden aus verschiedenen regionen historisch gesehen unterschiedliche nasen, wie alle anderen.
doch mythen sind mächtig und die juden zugeschriebenen großen, gern auch krummen und abstoßenden nasen ein idealer trick, eine ansonsten „unsichtbare“ gruppe von anderen abzusondern. die antijüdische nasen-ikonografie begann etwa am ende des 12. jahrhunderts, nachdem man in den jahrzehnten zuvor schon dazu übergegangen war, juden auf bildern u.a. durch spitze hüte kenntlich zu machen. davor waren sie allein durch den kontext identifizierbar gewesen und unterschieden sich optisch in keiner weise von anderen abgebildeten figuren. nach sander gilman gab es im mittelalter zwar auch darstellungen von juden mit extra kleinen nasen, hier, um sie mit der syphilis in verbindung zu bringen (die die nasenknorpel angreift), die sie angeblich – bei eigener immunität gegen die krankheit – übertragen haben sollen.
aber als stereotyp durchgesetzt hat sich die grotesk große hakennase – in medizinischen schriften, wo nach dem platonischen prinzip der kalokagathia (die moralisch besten sind die schönsten, die moralisch schlechtesten sind die entstelltesten) die hässlichen jüdischen nasen einen hässlichen jüdischen charakter beweisen sollten, genauso wie in karikaturen und in der literatur, siehe shakespeares shylock, siehe der arzt sammet, dessen nase in thomas manns „königliche hoheit“ die „herkunft verrät“, siehe robert cohn in hemingways „the sun also rises“, so der sich beim boxen die nase bricht, was „seine nase sicherlich verbessert“, und siehe die „jüdische“ hakennase als zentraler topos der ns-propaganda.
das hartnäckige klischee hat natürlich auch vor juden bzw. ihrem selbstbild nicht halt gemacht. verbreiteten die einen es weiter oder erfanden selbstironische witze zum thema nase, versuchten die anderen, ihren zinken zu „assimilieren“. 1898 führte der „vater der plastischen chirurgie“, der berliner arzt jacques joseph, die erste nasenverkleinerung durch, und konnte sich, nachdem er den eingriff perfektioniert hatte, vor patientinnen mit vermeintlich oder tatsächlich auffälliger nase kaum noch retten und ging mit dem kosenamen „nasen-joseph“ in die geschichte ein. aber auch in den usa war ab den 1920er-jahren (wie die annahme eines nichtjüdisch klingenden namens für männer) die nasenkorrektur, der „nose job“, quasi ein muss für jüdische schauspielerinnen, denen bald scharen anderer jüdinnen folgten, ein trend, der sich erst ab ende der 70er-jahre umkehrte, als barbra streisand ihre un-operierte nase zu einem selbstbewußten markenzeichen werden ließ.


abbildungen, im uhrzeigersinn: zeichnung und tabelle aus der jacobs- bzw. fishberg-studie 1914; andy warhol, „vorher und nachher“, 1962; ns-plakat „der ewige jude“, 1940; illustration aus dem antisemitischen kinderbuch „der giftige pilz“ von julius streicher, 1938 (der junge zeigt auf eine „jüdische“ nase an die tafel, die bildunterschrift lautet: „die judennase ist an ihrer spitze gebogen. sie sieht aus wie ein sechser.“

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