
„An jenem Sonnabend, dem 27. Februar 1943, kam auch unser Vater, Abraham Pisarek, nicht von der Fabrik in der Frankfurter Allee, in der er als Heizer Zwangsarbeit leistete, nach Hause. Von dem Vater meiner Freundin Erika Hecht, der als Kriegsversehrter des Ersten Weltkriegs noch nicht deportiert worden war, erfuhren wir, dass die Männer aus den Mischehen möglicherweise im Haus der jüdischen Gemeinde, Rosenstraße 2-4, eingesperrt wären.
Tatsächlich war mein Vater am frühen Morgen auf einem offenen Lastwagen mit allen anderen jüdischen Zwangsarbeitern der Fabrik zunächst ins „Clou“ und dann hierher gebracht worden. Hier, vor dem Haus Rosenstraße Ecke Heidereutergasse trafen wir am Abend desselben Tages die ersten Schicksalsgenossen, wir, das waren unsere Mutter Berta Pisarek, mein damals 13-jähriger Bruder Georg und ich, ein 10-jähriges Kind.
Vor der Tür stand ein Mann in Zivil, offenbar ein jüdischer Ordner, der uns den Eintritt verwehrte, dem wir aber später am Abend ein Stullenpäckchen mit dem Namen aufdrängen konnten.
Die Litfasssäule, die damals hier stand, wurde für eine Woche mein strategisch wertvoller Stammplatz. Schon am Sonntag hatte ich hinter der Fensterscheibe im 3. Stock meinen Vater entdeckt, er winkte hinter der Scheibe vorsichtig mit der Hand, in der er ein kleines weißes Zettelchen hielt, das hieß er hatte unser Stullenpäckchen erhalten, in das wir ein Liebesbriefchen hereingelegt hatten. Natürlich war dieser Platz am Fenster begehrt, die Männer, die eingezwängt in den Zimmern standen, hofften ja alle, ihre Frauen draußen zu entdecken. Ich stand schon deshalb oft und lange da unten, um ihm jeden Tag wenigstens einmal zuwinken zu können.
Die Litfasssäule war zudem ein besonders günstiger Platz für mich, weil ich bei den Versuchen der Polizei, die Frauen zu vertreiben, nur langsam um die Litfasssäule herumzugehen brauchte, um nicht beachtet zu werden. Die Polizei kam nie mit einem großen Aufgebot. Die Frauen wichen widerstrebend in die umliegenden Straßen aus, um nach kurzer Zeit wieder zu erscheinen und ihren Posten einzunehmen.
Wann immer wir kamen, trafen wir auf Frauen, die einzeln oder in kleineren oder größeren Gruppen in einigem Abstand vor dem Haus standen oder auf und abgingen, Tag und Nacht.
In der Nacht vom 1. auf den 2. März gab es einen Luftangriff, bei dem große Teile der Innenstadt getroffen wurden. Als wir durch die Oranienburger Straße, in der wir wohnten, unter dem Bahnhof Börse hindurch hierher liefen, war der nächtliche Himmel über uns und um uns herum von vielen Feuern erleuchtet. Die Stadt brannte, doch das Gefängnis-Gebäude fanden wir dunkel und still, unversehrt.
Die Frauen, die wie wir nach der Entwarnung hierher geeilt waren, flüsterten untereinander von Sodom und Gomorra und einem Gottesgericht. Wir da auf der nächtlichen Straße, die wir wussten, dass in dem scheinbar friedlichen Haus in jedem Stockwerk Hunderte von schlaflosen Menschen saßen und standen, gequält von Hunger und Enge, waren wie sie umklammert von der tödlichen Angst vor dem nächsten Tag.
Am frühen Morgen des 6. März, wieder ein Sonnabend, kam unser Vater tatsächlich nach Hause, mit einem Entlassungszettelchen, völlig erschöpft, hungrig, müde, stoppelbärtig.
(…)
Die Woche vom 27. Februar bis zum 6. März 1943 war für meine Mutter und alle diese Frauen und Männer aus den sogenannten Mischehen, die sich hier unverabredet zusammenfanden, fraglos ein außerordentliches Ereignis, schon weil sie hier zum ersten und einzigen Mal in großer Zahl gemeinsam und öffentlich auftraten, es war dennoch nur eine Woche in zwölf Jahren, in denen sie jeden Tag von Anbeginn tapfer und standhaft sein mussten, jeden Tag und jede Nacht.
Sie mussten, um ihre Familien zu retten, das zum Gesetz erhobene Unrecht unterlaufen. Dazu brauchten sie nicht nur Mut, sondern die Courage auch zu Verstellung, Lüge und Betrug, Kaltschnäuzigkeit, Tricks und Winkelzügen, Camouflage.
Sie wurden öffentlich und privat diffamiert als „Judenhuren“, „Rasseschänder“ und „Volksverräter“, und sie wurden bedrängt, sich scheiden zu lassen. Dabei versuchte die Gestapo mit der ihr eigenen Infamie, den Frauen weiszumachen, mit einer Scheidung würden sie nicht nur sich, sondern vor allem ihre Kinder retten und ihnen ein normales unangefochtenes Leben sichern. Sie hätten entfliehen können. Eine Tür stand offen, aber nur sehr wenige sind durch sie hindurchgegangen.
Vielmehr versuchten sie ihre Männer und Kinder zu schützen und sie vor dem Schlimmsten, der Deportation zu bewahren, indem sie sich vor und neben sie stellten, in dieser Woche der unermüdlichen Patrouillen um das zum Gefängnis gewordene Haus
(…)
Die Frauen und Männer, die hier in diesen Tagen zu jener Zeit demonstrierten und protestierten, haben einige tausend jüdischer Männer und Kinder davor bewahrt, deportiert und ermordet zu werden. Sie haben uns etwas Kostbares hinterlassen, nämlich den Beweis dafür, dass Mut und Treue lebbar sind, Treue nicht nur zu geliebten Menschen, sondern auch zum eigenen Wort, zu Anstand und Würde.“
aus einem vortrag von ruth gross. das foto der rosenstraße mit der erwähnten litfaßsäule ist von ihrem vater, abraham pisarek.
