In der Welt des »weder-noch«

15.3.1391: die hasstiraden des geistlichen ferran martinez sind auslöser für antijüdische ausschreitungen in sevilla und eine gewaltwelle auf der iberischen halbinsel, die innerhalb eines jahres 50000 menschen das leben kostet, und den beginn des marranentums markiert – der gruppe von etwa 200000 juden und muslimen (morisken), die der verfolgung durch übertritt zum christentum entkamen, aber heimlich ihre alte religion weiterpraktizierten. 
die wortherkunft ist nicht gänzlich geklärt. marrão bedeutet im portugiesischen schwein, mahram ist im arabischen etwas verbotenes, maran atha im arämischen etwas verfluchtes; im hebräischen wird auch von anussim, gezwungenen, gesprochen. und in der tat waren die iberischen conversos im besten fall außenseiter, im schlechtesten wurden sie von der inquisition verfolgt. ein teil verließ das land und siedelte sich in antwerpen, london oder hamburg an, andere blieben heimlich dem judentum treu oder re-konvertierten sogar wie der kabbalist schlomo molcho, der als diego perez geboren und 1532 von der inquisition auf dem scheiterhaufen verbrannt wurde… 
auch für das spätere deutsch-jüdische bürgertum war das »heimliche judentum« identitätsstiftend: gerade berlin war ja im 19. jh. schauplatz zunehmender übertritte von juden zum christentum. die kleine oberschicht, in der diese konversionen stattfanden, waren persönlich und geschäftlich eng miteinander verbunden und man heiratete in der regel über generationen hinweg untereinander. schließlich hatten alle das gleiche problem und blieben so lieber »unter sich«. damit grenzte sich diese schicht auch wiederum selbst von anderen bevölkerungsteilen ab und stand dauerhaft am rande der gesellschaft, eine »form des modernen marranentums« eben. misstraut wurde den konvertiten von der christlichen mehrheitsgesellschaft in jedem fall. so wie spanische conversos und juden bei pogromen gleichermaßen betroffen waren, da das »blutrecht« am ende schwerer wog als die taufe, wurden auch die getauften mendelssohns oder friedländers spätestens mit den ns-rassegesetzen wieder zu juden. 
die eltern und großeltern dieser konvertiten hatten noch die hoffnung gehegt, durch den übertritt das entrébillet in die gesellschaft zu besitzen. anhand der weitverzweigten familie mendelssohn lässt sich die vielzahl der motive ablesen: hier ein heirat, dort der beruf, die erhöhung der zukunftschancen für die kinder, sinnsuche, pragmatismus, preußentum, eine erbschaft. oft wussten die eltern nicht einmal, dass die kinder sich taufen ließen oder es kam zum streit – wie zwischen abraham mendelssohn bartholdy und seinem sohn felix, der das verdächtige »mendelssohn« im namen loswerden wollte. trotzdem hatte auch papa abraham seinen zweiten namen »moses« gegen »ernst« getauscht und die religion der »zivilisierten majorität« angenommen. auch wenn es dabei immer um gesellschaftliche sicherheit, die wertekoordinaten der aufklärung und vernunftentscheidungen ging, die mit religion wenig zu tun hatten, ist doch jede dieser biografien ein einzelfall. ein anderes beispiel sind die berliner literarischen salons um 1800, die mehrheitlich von getauften jüdinnen betrieben wurden. saloninterne briefwechsel zeigen auch hier, dass das thema konversion nur beiläufig und wenn, dann ironisch behandelt wurde (»die wasserscheuen schreien«, schreibt lea mendelssohn). 
es gibt untersuchungen zb. von wiener archivmaterial aus der zeit zwischen 1868 und 1914, das 16 000 austrittserklärungen aus dem judentum bezeugt. hier findet sich jedoch nicht marranentum im engeren sinne (außer bei dienstmädchen, deren uneheliche kinder zwangsgetauft worden waren), sondern eher doppel-identitäten (wie beim mendelssohn-clan häufige eheschließungen unter konvertiten) oder umgekehrte vorzeichen (jüdische eltern ließen ihre kinder heimlich taufen und katholisch erziehen, lebten selbst aber weiter als juden). meist waren auch diese taufen eher mit einem zweck als mit der religion verbunden – etwa dem wunsch zu heiraten oder den namen zu wechseln. war der zweck erfüllt, trat so mancher auch wieder ein ins judentum (teilweise ohne dies öffentlich zu machen).
zeitgleich mit dem versuch von juden, sich ihres judentums zu entledigen, ging die mehrheitsgesellschaft dazu über, juden wieder zu demaskieren. der »imaginäre, unsichtbare« jude war ein beliebter topos der ns-propaganda und gehört zum festen repertoire von 
verschwörungstheorien. nicht nur hier: bis heute behaupten türkische fundamentalisten beispielsweise, der islam wäre jüdisch unterwandert«. das marranen-bild ist ein ebenso »freischwebendes«, mit beliebigen mystifikationen füllbares vorurteilsbild wie das juden-bild selbst. 
literarisch gilt die biblische esther vielen als »ur-marranin«, denn um die frau des königs zu werden, hatte sie ihre jüdische herkunft verschwiegen. auch wenn sie so später ihr volk retten konnte, zahlte sie einen hohen preis: sie musste ihre identität verbergen, war außenseiterin und die beziehung zu ihrem mann war von vornherein auf dieser lüge aufgebaut. eine ambivalente position, die aber auch – wie bei den frauen der literarischen salons – die mittlerfunktion ermöglichte, die mit ihrer maskerade für männer nicht zumutbar war. das literarische modell taucht häufig auf, so bei balzac, bei dem die schöne exotin (und kurtisanin) zum christentum übertritt und sich am ende selbst tötet, aber auch in der jiddischen literatur, unter anderem in gedichten, die danach fragen, ob es nicht unter bestimmten bedingungen notwendig ist, marrano zu sein – wie in ahron zeitlins »dos jor 1492« oder abraham sutzkevers »maranen«, hier bezogen auf die situation der juden in der sowjetunion.
das marranentum war schon im 19.jh. auch ein thema der deutsch-jüdischen literatur, das sich anbot, um der forderung nach der wiederentdeckung des heldentums (zugleich ein moment der säkularisation) in der eigenen geschichte nachzukommen. das spanische spätmittelalter bot hier reichlich projektionsfläche und war als fortschritts- und leidensgeschichte zugleich schilderbar. beispiele sind berthold auerbachs spinoza-roman, heinrich heines »rabbi von bacharach«, aber auch sein drama »almansor« (1821), die erste deutsche dichtung, die das thema aufgriff. schon hier wird die camouflage, das verschleiern, das »stehen im freiraum« zwischen den fronten als unlösbares dilemma thematisiert. heines gern zitierter satz: »dort wo man bücher verbrennt, verbrennt man am ende auch menschen« (gemeint war der koran, der auf den scheiterhaufen der inquisition landete), stammt aus »almansor«; die morisken sind hier nur abstraktionen von marranen. 
um morisken – und auch hier eigentlich um marranen und die zeit der religionsfreiheit in cordoba – geht es auch schon in jan potockis roman »die handschrift von saragossa« (1805), in dem die liebesbeziehungen zwischen christen, juden und mauren eine aufklärerische antwort auf die christlichen reinheitsgesetze chateaubriands gewesen sein mögen. 
das phänomen des marranentums umreißt auch ein politisch-ideologisches dilemma und wirft fragen auf, die schon denker von spinoza bis rosenzweig bewegt haben: sollten sie eine neue identität außerhalb des judentums und der theologisierten politik der zeit annehmen oder sollten sie gerade ihr judentum nutzen, um dieser politik zu entgehen? ein beispiel ist der französische philosoph henri bergson, der zum katholizismus übertrat und 1937 widerrief, weil er an der seite der verfolgten juden stehen wollte.
im selben jahr 1937 entstand ernst sommers roman »botschaft aus granada«, der ebenfalls um die marranos im »goldenen zeitalter« kreist und als plädoyer für ein festhalten an der »vernunftreligion« und als metapher für die zeit des aufkommenden nationalsozialismus lesbar ist. sommers figuren gehen ganz verschieden an die herausforderung heran – von zweifelnd über heldenmütig bis altruistisch; eines ist jedoch allen gleich, dass sie, willentlich oder nicht, immer juden sind (»das brandmal bleibt ihnen«) und dass sie die taufe nicht aus überzeugung gewählt haben, sondern weil sie ein weg war, um am leben zu bleiben.
derart wurden die marranos zu einem symbol für die diaspora-geschichte des judentums, so wie bei fritz heymann, der sie 1937 in seiner »marranen-chronik« als typus jüdischer existenz und kulturell eigenständige »gruppe am rande der gesellschaft« zeichnete. heute gilt die krypto-jüdische identität manchem soziologen aber auch als gutes beispiel einer postmodernen identität…

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