11 Scharfrichter

13.april 1901. geburt des deutschen kabaretts. die „elf scharfrichter“ präsentieren ihr erstes programm im hinterzimmer der gaststätte „zum goldenen hirschen“ in der münchner türkenstraße. um die kontrolle durch die zensurbehörde zu umgehen, hatten sie sich als geschlossener verein eintragen lassen, durften als solcher aber keinen eintritt verlangen und verkauften stattdessen garderobenscheine (wie rechts auf dem bild). die etwa hundert zuschauer erwartete ein bühne mit rot gedämpftem licht, nette requisiten wie folterwerkzeuge, totenkopf mit perücke und pranger und natürlich die rotgewandeten „scharfrichter“ (u.a. otto falckenberg, leo greiner und frank wedekind) sowie ihre „henkersknechte“ (unter ihnen die chansonniere marya delvard, die einzige frau der truppe, hier abgebildet auf dem plakat von t.t.heine). das programm: satirische „exekutionen“ von anstand und moral, zensur und obrigkeitshörigkeit mittels gesang, gedichtrezitationen, tanz, puppenspiel und sketchen. publikum und presse waren begeistert. die melange (inkl. des begriffs „kabarett“) war bis dahin einmalig auf deutschen bühnen und sollte stilbildend für die kommende deutsche kabarettszene sein, auch wenn die elf pioniere selbst wegen dauernder probleme mit ihren finanzen und den zensurbehörden schon 1904 wieder aufgaben.

drei der ersten gesänge:


Mein Lieschen
Mein Lieschen trägt keine Hosen 
Schon seit dem ersten April, 
Weil sie von der grenzenlosen 
Hitze nicht leiden will.
Das gibt mir manches zu denken, 
So dacht ich auch schon daran, 
Ihr ein Paar Hosen zu schenken 
Aus duftigstem Tarlatan.
Wie leicht kann sie sich beim Hupfen 
Erkälten, eh sie’s gedacht;
Und bleibt ihr auch nichts als ein Schnupfen,
Man nimmt sich doch lieber in acht.
(frank wedekind 1864-1918)

Proleta sum
Ich bin ein Prolet, vom Menschengetier 
bin ich bei der untersten Klasse!
Ich bin ein Prolet! was kann ich dafür, 
wenn ich keine Zier eurer Gasse?
Ich lebe stets von der Hand in den Mund, 
trag, was ich verdien, in der Tasche:
Ich darf nicht denken, das macht mich gesund – 
zur Betäubung dient mir die Flasche.
Ich bin ein Prolet, was kann ich dafür? 
Doch gibt es gleich mir Millionen:
das tröstet mich, wenn die Not vor der Tür, 
das tröstet mich beim Fronen!
Wir haben kein Haus, wir haben kein Gut, 
wir haben nichts als Fäuste,
mit Schwielen bedeckt, zum Frondienst gut –
wir wissen nicht viel vom Geiste.
Wir sind vielleicht ein erbärmlich Geschlecht, 
geboren den Nacken zu beugen –
Wir führen auch unseren Namen zu Recht: 
Wir sind nur da, um zu zeugen.
Mit Samensträngen sind wir begabt, 
millionenfach uns zu vermehren, 
daß ihr, ihr Obern, die Hände habt, 
die euch gemächlich ernähren.
Wir denken, denken nicht mehr daran, 
daß wir euch könnten erschlagen:
Still ziehen wir unsere Lasten bergan – 
wir können ja Lasten tragen.
Wir sind ein erbärmliches, ekles Geschlecht 
und werden uns nie ermannen:
Ihr könnt uns getrost an den Wagen der Zeit 
Als Zugvieh der Zukunft spannen.
(ludwig scharf 1864–1938)

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