Alice Salomon

alice salomon *19.4.1872 berlin – nationalökonomin, dr. phil., sozialreformerin, pazifistin, frauenrechtlerin, eine der begründerinnen der sozialen arbeit als beruf, (konvertierte) jüdin, von den nazis vertrieben. seit ihrer wiederentdeckung in den 1980er-jahren ist viel über alice salomon geschrieben worden, lassen wir sie selber sprechen: 
ein früher text (1906) über einen streik sächsischer textilarbeiter*innen aus dem „correspondenzblatt des bundes deutscher frauenvereine“:

Crimmitschau!
Aussperrung – Streik! Es gibt Dinge, die so grausig sind, daß man sie erleben muß, um sie zu begreifen. Selbst die schöpferische Phantasie eines begnadeten Künstlers kann uns, die wir im Warmen sitzen, nicht die Schrecken durchleben lassen, die die letzten Monate über die Crimmitschauer Arbeiterschaft gebracht haben. Die „Not der Arbeiter“, ihre „Selbstbeherrschung“, ihre „Solidarität“ – das alles sind Worte, die uns nicht ahnen lassen, was es für Tausende von Menschen aus Fleisch und Blut – Menschen mit dem tiefen Hoffen auf Glück, mit dem Streben nach einem menschenwürdigen Schicksal, mit dem Verlangen nach besseren Entwicklungsmöglichkeiten für ihre Kinder – bedeutet, alles zu Grabe zu tragen, was sie besessen. Hunger, Kälte, Armut, vielleicht auch Krankheit ziehen ein.
Das Ersparte ist verloren, Zukunftshoffnungen sind vernichtet, und Tag für Tag, Woche für Woche geht dahin – über vier Monate wütet der Kampf – und keine Aussicht auf ein Ende dieser Qual. Ein monatelanges, hoffnungsloses Dulden und Tragen, das alle mit fürcherlicher Wucht getroffen hat.
Und an dieser Aussperrung sind etwa 4.000 Frauen beteiligt, von denen fast die Hälfte verheiratete Frauen, Mütter sind. Diese Frauen haben einen Heroismus, ein Solidaritätsgefühl bewiesen, das den Frauen der bürgerlichen Klasse als Beispiel dienen sollte. Sie haben zusammengehalten und Seite an Seite mit dem Mann um bessere Arbeitsbedingungen gekämpft. Wären sie zu Streikbrechern geworden, so war von vorherein alles verloren, und sie wären für immer als gefügige Werkzeuge der Unternehmer, als willige und billige Arbeitskräfte zum Medium für eine weitere Verschlechterung der Arbeitsbedingungen geworden. Wie jetzt auch der Kampf ausgehen mag, auf jeden Fall haben die Frauen bewiesen, daß sie tapfere Bundesgenossen für die Männer sind, daß sie das Schmutzkonkurrentum abgestreift haben, das noch so vielfach der Frauenarbeit anhaftet.
In England sind die hoffnungslosesten Arbeitskämpfe, die der unorganisierten und ungelernten Arbeiter, durch die Sympathie des Publikums zu einem für die Arbeiter glücklichen Ausgang geführt worden. Unparteiische Sozialreformer haben die Initiative ergriffen und für die Beilegung der Kämpfe gewirkt. Die Crimmitschauer Arbeiterinnen verdienen die Sympathie der gesamten deutschen Frauenwelt und ihre Hilfe. Es hat von jeher als Sache der Frauen gegolten, Wunden zu heilen, die der Krieg geschlagen. Man darf dabei nicht fragen, ob der Kampf notwendig gewesen, ob es ein gerechter oder ungerechter Krieg war. In Crimmitschau kämpft ein tapferes Heer von Frauen, und das Schlachtfeld ist von Verwundeten bedeckt. Sie kämpfen wie die Buren bis zur Kampfunfähigkeit, und sie kämpfen mit ehrlichen Waffen. Ob klug oder unklug, ob gerecht oder ungerecht (und meine Ansicht geht dahin, daß kein gerechterer Krieg geführt werden kann!) es sind unsere Geschlechtsgenossinnen und sie brauchen unsere Hilfe. Wir haben Wunden zu heilen, die ein unheilvoller Krieg geschlagen hat.“ (1906)

„Es ist vielleicht die schwerste Krise, die man in der sozialen Arbeit zu durchleben hat, die tiefste Enttäuschung, durch die man hindurch muß, wenn man nach dem ersten großen Enthusiasmus den Glauben verliert, daß alles radikal geändert werden kann; wenn man (…)  einsieht, daß (…) nur durch ein Hand-in Hand-Gehen von wirtschaftlichen Maßnahmen mit Erziehungsarbeit (…), nicht durch eine mechanische Güter- und Arbeitsteilung die Zustände gebessert werden können. (1916)

„Die Welt ist kleiner geworden. (…) Menschen und Völker sind einander näher gerückt, im Guten wie im Bösen. Sie können einander in neuen Ausmaßen Zerstörung und Vernichtung bringen oder gegenseitige Hilfe für gemeinsames Aufbauen. Sie können gegeneinander kämpfen oder gemeinsam Armut, Unwissenheit, Krankheit und Tod bekämpfen. (…) Denn die Ursachen der Not liegen oft außerhalb der Grenzen und Länder, in denen sie auftreten, wie auch die Wirkung der Not über die Landesgrenzen hinausreicht. (…) deshalb sind gemeinsame internationale Maßnahmen zur Bekämpfung von Notständen unentbehrlich“. (1930)

„Ich gehe in ein Leben des Kampfes um Brot – aber guten Mutes in froher Zuversicht – völlig ungebrochen in geistiger und sittlicher Kraft, in meinem Wertgefühl, das nicht von außen beeinträchtigt werden kann. Das Eine, wozu meine Kraft nicht reicht, ist zum persönlichen Abschiednehmen.” (abschiedsbrief vor der emigration 1937)

_

bild: links alice salomon, rechts eine zeichnung von käthe kollwitz für das buch „was frauen erdulden“, für das salomon 1910 das geleitwort geschrieben hat.

Hinterlasse einen Kommentar