Benjamins Klasse

„schwerer ist es, das gedächtnis der namenlosen zu ehren als das der berühmten. dem gedächtnis der namenlosen ist die historische konstruktion geweiht“ – schreibt walter benjamin. ein buchtipp: momme brodersens „klassenbild mit walter benjamin“, an dessen entstehung ich mich mit recherchen beteiligen durfte.

momme ging von dem angehängten foto aus, benjamins abiturklasse 1912 an der kaiser-friedrich-schule in charlottenburg („ich habe keine einzige heitere erinnerung an die schulzeit“), und rekonstruierte die lebenswege der 22 schüler – ein panoptikum späterer täter und opfer und ein längsschnitt durch das 20.jh. (trotz teilweise miserabler quellenlage dank der vielen „namenlosen“, 100 jahre zurückliegenden ereignissen und reichlich erkenntnissen – etwa welche art bänke wann in der schule zum einsatz kam und wann welcher schüler bei der abi-prüfung aufs klo gegangen ist – die dabei nicht wirklich hilfreich waren:)
etliche von benjamins mitschülern sind aus der provinz in das boomende berlin gezogen. die meisten stammen aus der mittel- und oberschicht, ihre väter sind leute wie der zoodirektor heck oder der philosoph simmel; aber wir haben auch ein paar freischüler, die kein schulgeld zahlen müssen (charlottenburg gibt damals 30% des kommunalen haushalts für bildung aus). zwei jahre, nachdem die jungs das abitur in der tasche haben, beginnt der erste weltkrieg und ändert den lebenslauf der meisten grundsätzlich. fünf schüler werden schwer verwundet, fünf sterben „fürs vaterland“, die meisten überlebenden ziehen sich in sprachlosigkeit und distanz zur politik zurück und entwickeln sich dann in der weimarer zeit – von linkssozialistisch bis deutschnational – sehr unterschiedlich.
hier nur kurz: ab 1933 sind die nichtjuden durch die bank weg in ns-organisationen involviert und ihre jüdischen einstigen klassenkameraden erwartungsgemäß verfolgt. einige fliehen, andere können oder wollen nicht (richard salomon: „meine familie hat seit 1735 nur einmal den wohnsitz gewechselt“), werden ermordet oder töten sich wie walter benjamin selbst. neben ihm werden später auch einige andere relativ bekannt: alfred brauer als harvard-mathematiker, ernst marcus als zoologe, werner frauenstädter als armenanwalt und der zum „sir francis“ geadelte nukelarphysiker franz simon. zwei der nichtjuden aus der klasse wiederum machen am rechten rand karriere. lothar nerger hält als protestantischer pastor die gottesdienste in seiner friedenauer gemeinde am liebstem im offenen talar mit sa-uniform und militärstiefeln ab; der chemiker und „schädlingsbekämpfer“ bruno tesch wird der hauptlieferant für zyklon b in den konzentrationslagern…

foto: schwierige zuordnung, sogar was benjamin selbst betrifft. gershom scholem meinte, „1.v.l., 1.reihe“, ließ sich aber von einem mitschüler überreden, dass benjamin der 2.v.l., 2.reihe sei. wir hingegen glauben, dass er in der letzten oder vorletzten reihe links zur gangmitte hin sitzt. aber: möglicherweise ist er gar nicht abgebildet, denn am tag der aufnahme fehlten zwei schüler. bingo:)

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