
eine freundin wunderte sich etwas, auf einem foto aus dem 30er-jahre-berlin ein vegetarisches restaurant zu entdecken. nachgelesen: die bewegung kam in den 1860er in deutschland in schwung. der heilpraktiker theodor hahn pries hier als erster massiv den vegetarismus an, 1867 wurde in nordhausen der verein für natürliche lebensweise gegründet, 1892 der deutsche vegetarierbund (bei der gründung gab’s „grünkernsuppe, blumenkohl mit linsenkottelets, schoten mit karotten und schmorkartoffeln, makkaroni mit butter und parmesankäse, nußspieße, quark mit butter, feines obst“) und 1908 fand in dresden der erste internationale vegetarierkongress statt, aus dem die international vegetarian union entstand, die es bis heute gibt.
die einen sahen fleischkonsum für krankheiten verantwortlich sei, anderen ging es um tierschutz und naturverbundenheit oder sie nahmen eine veredelung des menschen durch fleischverzicht an (richard wagner zb., der fleischkonsum und kochen zugleich als semitisches, nichtarisches erbe denunzierte). die neue lebensweise war auch eine reaktion auf die umbrüche durch industrialisierung und verstädterung am ende des 18. jh., siehe die diversen lebensreformbewegungen, die wie pilze aus der erde schossen und meist mit oberschicht/intellektuellen in zusammenhang gebracht wird. die national-soziale vegetarier-union schaffte es 1903 sogar mit zwei sitzen in den reichstag.
zugleich zeitigte die dauerkrise alle möglichen wanderheiligen- und naturprophetenbewegungen, die christliche vision mit sozialrevolutionären ideen verbanden und deren anhänger als „kohlrabiheilige“ verspottet wurden. in der weimarer republik, nach dem furchtbaren krieg, war dann aber auch wieder völlerei angesagt und die vegetarier verloren viele anhänger.
aber zurück nach berlin: hier gründete sich in oranienburg 1893 die „eden gemeinnützige obstbau-siedlung eg“, die vegetarismus und reformkleidung, seit dem ersten weltkrieg aber auch völkisches denken und antisemitismus propagierte (zum siedeln zb. sei nur das deutsche ariertum fähig). die genossenschaft verkaufte ihre produkte nach berlin (eden-pflanzenbutter etc) und durfte auch im nationalsozialismus bestehen bleiben, während sich der dachverband der vegetarier 1935 auflöste, um der gleichschaltung zuvorzukommen. vegetarische restaurants gab es zu der zeit jedenfalls etliche, unter anderem friedrich meinungs vegetarisches speisehaus in der neuen schönhauser str. 10, das original vegetarische restaurant am kudamm 34, das speisehaus mangold in der bülowstr. 19, das stein in der prinzenstr. 88, steinhoff in der alexander str. 50, paul götze in der bismarckstr. 9, kronberg in der prinz-louis-ferdinand-str. 2, das speisehaus adolf weber in der mauerstr. 66 oder karl homann in der potsdamer str. 26.
das foto mit der „vegetarischen küche“ im 1. stock stammt, wie man sieht, von 1932, als neben hindenburg und hitler auch ernst thälmann zur wahl als reichspräsident antrat – vielleicht weiß jemand, der hier mitliest, wo genau das ist.
für dieses jahr, 1932, hab ich im adressbuch 25 „vegetarische speisenanstalten“ im stadtzentrum gefunden (es waren aber garantiert mehr). deswegen hier noch erich kästner, der viel schöner zählen kann:)
Berlin in Zahlen
Laßt uns Berlin statistisch erfassen!
Berlin ist eine ausführliche Stadt,
die 190 Krankenkassen
und 916 ha Friedhöfe hat.
53.000 Berliner sterben im Jahr,
und nur 43.000 kommen zur Welt.
Die Differenz bringt der Stadt aber keine Gefahr,
weil sie 60.000 Berliner durch Zuzug erhält.
Hurra!
Berlin besitzt ziemlich 900 Brücken
und verbraucht an Fleisch 303.000.000 Kilogramm.
Berlin hat pro Jahr rund 40 Morde, die glücken.
Und seine breiteste Straße heißt Kurfürstendamm.
Berlin hat jährlich 27.600 Unfälle.
Und 57.600 Bewohner verlassen Kirche und Glauben.
Berlin hat 606 Konkurse, reelle und unreelle,
und 700.000 Hühner, Gänse und Tauben.
Halleluja!
Berlin hat 20.100 Schank- und Gaststätten,
6.300 Ärzte und 8.400 Damenschneider
und 117.000 Familien, die gerne eine Wohnung hätten.
Aber sie haben keine. Leider.
Ob sich das Lesen solcher Zahlen auch lohnt?
Oder ob sie nicht aufschlußreich sind und nur scheinen?
Berlin wird von 4½.000.000 Menschen bewohnt
und nur, laut Statistik, von 32.600 Schweinen.
Wie meinen?
