Der Jäger der Schellackplatten

Den Anblick werde ich nie vergessen: Die sich biegenden Regale in Rays Wohnung, die immer und jeden Moment zusammenzubrechen drohten unter den Stapeln von Postkarten, Noten, Schellackplatten, Schellackplatten und noch mehr Schellackplatten; und ihn werde ich nie vergessen, den „meschuggenen“ Ray, mit seinen rot gefärbten paar Haaren und dem Schalk, der ihm aus jeder Pore hervorblitzte.

1946 in New York geboren und in New Jersey aufgewachsen, kam Raymond Henry Wolff 1971 nach New Kölln, Berlin. Er hatte Musikwissenschaften und Germanistik studiert, war 24 und wollte nicht in den Vietnam-Krieg ziehen. Hier nun wurde er zum Jäger und Sammler – seine Spezialität, histo­rische Dokumente und Tonträger, die zumeist vom jüdischen Beitrag zur deutschen Un­terhaltungskunst zeugten, erstöbert auf Flohmärkten, Auktionen und Dach­böden. 
Ray war ein wandelndes Lexikon und Anekdotenbuch, er hielt historische Vorträge wie den über „Antisemitismus in Badeorten“, bestückte Filme mit Musik aus seinem Fundus (so den Ulrike-Ottinger-Film über die Exilju­den in Schanghai) und gestaltete Ausstel­lungen, beispielsweise über „Juden in Neukölln“ oder „Türken in Berlin“, zu denen auch aus seiner Sammlung zusammenge­stellte CD’s erschienen. Zwei Drittel der Aufnahmen auf der „türkischen“ CD stammen von Juden, wie jene von 1908 mit dem verheißungsvollen Titel „Ein Be­such im Harem (Nur für Herren)!“. Denn auch Juden bedienten, ohne jemals den Fuß in die Türkei gesetzt zu ha­ben, alle Klischees vom Pascha bis zum Schleier, erklärte mir Wolff einmal, kurbelte den Edinson-Phono­graphen an und legte die nächste komi­sche Ton-Walze von 1903 auf. 

Nur auf den ersten Blick komisch waren die zahlreiche Abstrusitäten des „Zeitgeistes“, die er ausfin­dig gemacht hatte, wie die Werbeschallplatte, mit der eine Uhrenfabrik 1934 für ihren „Deutschen Gong“ nach Melodie eines Naziliedes warb, um mit ihm einen, dem deutschen Wesen fremden „Bim­ Bam“-Klang zu ersetzen. Solche Ton­dokumente mit anderen Zeitzeug­nissen wie ein Mosaik zu einem Bild zusammenzusetzen, gehörten zu der Art, wie Ray Geschichte recherchierte, rekonstruierte und erzählte.
Dass er dabei enorm engagiert und hart­näckig (zuweil auch nervötend) sein konnte, wußten die Bewohner von Staudernheim in Rheinland-Pfalz am besten. Es war der Geburtsort sei­ner Mutter und seiner Großeltern. Und auch die Familie seines Vaters kam aus der Gegend, aus Nackenheim. Diese Großeltern, bei denen er aufgewach­sen ist, hat er sehr geliebt und es ih­nen zu Ehren auf sich genommen, die kleine Staudernheimer Synagoge ihrem Schicksal als private Müllde­ponie zu entreißen. Ray hat es über die Jahre und mit Gleichgesinnten geschafft, hier einen Museumsverein zu gründen und harte Kämpfe ausgefochten, bis das Gebäude end­lich die Besitzer wechseln und die Instandsetzung beginnen konnte (da­bei entdeckten die Restauratoren In­schriften aus der Zeit, als die Synagoge ein Wehrmachtscasino war: „Wallensteins Lager“ – Schiller-Verse als Durchhalte­parolen, links und rechts der Tora­-Nische, in der die Soldaten ihren Schnaps lagerten). 

Inzwischen finden Kulturveranstaltungen in der ehemaligen Synagoge statt, der Verein sammelte Geld für die Restaurierung, die Mitglieder schoben viele ehrenamtliche Arbeitseinsätze und Ray Wolff stellte sein Privatarchiv zur Geschichte der Landjuden in der Region zur Verfügung und produzierte eigens für das Projekt eine CD mit Raritäten Berliner Synagogalmusik. Selbstre­dend stammten auch diese Platten aus dem eigenen Archiv: aufgenommen unter ande­rem in den Synagogen Heidereuter­gasse und Fasanenstraße, gesungen von berühmten Chasanim wie Jo­seph Schwarz oder Siegmund Pe­truschka. Der eine war auch als Opernsänger erfolgreich, der andere spielte nebenbei in einer Jazzband. Kantoren wie sie, die zugleich weltliche Musik san­gen, hatten es Wolff besonders ange­tan. Und Skurriles: so die ulkige Soiree bei Tannenbaum nach Liszts Rhapsodie No.2, eine Par­odie auf die feinen Wiener Juden, vorgetragen von Hermann Leopoldi. Der Klavierhumorist wurde 1938 via Dachau nach Buchenwald depor­tiert. Der KZ-Kommandant, so er­zählte Wolff, wollte eine Lagerhymne haben und veranstaltete einen Wett­bewerb. Da Juden nicht teilnehmen durften, benutzten Leopoldi und der Texter Fritz Beda Pseudonyme – und gewannen. So kam es, daß die offi­zielle KZ-Hymne, bekannt geworden als Buchenwald-Lied, von zwei Wiener Juden stammt: „Oh Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, weil du mein Schicksal bist“. Beda starb in Auschwitz. Leopoldi wurde freigekauft. Nach dem Krieg schrieb er „Die Nowaks aus Prag“ – das war für Raymond Wolff das Lied der deutschen Exil­juden schlechthin. Es handelt von einer „ordent­lichen“ Familie (die Wohnung immer aufgeräumt), die nur einen Fehler hat­te: „sie war so schrecklich verträumt. Tan­te Anna träumt von Havanna und Leo von Montevideo…“ Doch plötzlich wecken „ein Volk, ein Führer“ die No­waks aus allen Träumen. Dann sitzen sie wirklich in Montevideo und Ha­vanna und „träumen von:  Prag“… 

…Oder eben von Staudernheim – so jedenfalls habe er seine Großeltern Zeit ihres Lebens erlebt, wunderba­re und tieftraurige Menschen, die sich, wie er selbst, nie als Amerikaner gefühlt hätten und „displaced persons“ im wahrsten Sinne des Wortes waren.
Auch bei den Wolffs wurde deutsch gesprochen, deutsch gekocht und in der Vergangenheit gelebt, in einer Geschichte, die Ray seit der Kindheit mit sich herumgeschleppt hat. Den großen Schrankkoffer, mit dem seine Familie emigriert ist, hatte er hierher zurückgebracht. Und ihn gehütet wie die über 180 Briefe, die in der Nazizeit zwischen seinen Großeltern und den Familienmit­gliedern in Deutschland und Amerika hin und her gegangen waren – zensierte, codierte Hilferufe, die im Ver­lauf der Ereignisse immer eindring­licher, zugleich hoffnungsloser wer­den und mit der Deportation seiner Großeltern abbrechen. 

Raymond Wolff ist am 27. April 2021 unerwartet gestorben. „Schillernd, charmant, streitbar. Historiker, Musikforscher, begnadeter Sammler und Erzähler“ haben Freunde eine Traueranzeige für ihn überschrieben, und dass sie ihn vermissen. Ich auch.

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