Petersburg im Jahr 1913

anna achmatova | aнна aхматова *23.6.1886


Petersburg im Jahr 1913. Ein lyrisches Intermezzo: die letzte Erinnerung an Zarskoje Selo. Halb gedenkend, halb prophezeiend murmelt der Wind:

Heiße Brände an Weihnachtstagen, 
von den Brücken fielen die Wagen,
und die Stadt trieb im Trauerkleid
auf der Newa – dem Strom entgegen –
auf unbestimmbaren Wegen –
von den Toten … In Dunkelheit
das Galernaja-Tor. Es knarrten 
Wetterfahnen im Sommergarten.
Und ein silberner Mond erstarrte
über der Silbernen Zeit.
Da von allen erdenklichen Stellen
und zu allen erdenklichen Schwellen
ein schleichender Schatten kroch,
rupfte der Wind an Plakaten,
ließ hüpfen die Rauchschwaden,
und nach Friedhof der Flieder roch.
Verflucht von Awdotja, der Zarin,
ist dahin – in den Dunst – gefahren 
Dostojewskijs besessene Stadt,
und die Trommeln zur Hinrichtung schlugen,
und man sah aus dem Finstern lugen 
einen Flaneur von Format.
Fernes Gedröhn durchrauschte
die bedrohliche und berauschte,
stickige Winterluft,
doch es brauchte keinen zu stören,
war auch nur schwach zu hören
und schon bald in der Kühle verpufft. 
So wie die tobenden Menschen
ihr eigenes Bild verwünschen, 
das sie auf einmal sahn
im Spiegel der furchtbaren Nächte,
fühlte man langsam das echte 
Neue Jahrhundert nahn.

aus: „poem ohne held“ (1949-1962)

Mein Schatten ist dort geblieben und ist angstvoll,
In diesem blauen Zimmer lebt sie bis heute,
Sie wartet auf Gäste aus der Stadt jenseits von Mitternacht Und dem Emaillebild gibt sie einen Kuss.
Und die Dinge sind nicht ganz gut im Haus:
Es ist immer noch dunkel, obwohl sie die Flamme entzünden.
Nicht von all dem ist die Gastgeberin voll Langeweile,
Nicht von all dem trinkt der Gastgeber gleich
Und hört, wie auf der anderen Seite der dünnen Wand
Der angekommene Gast spricht mit mir.

*

Trink meine Seele aus mit einem Strohhalm,
Ich weiß, es ist ein bittrer berauschender Geschmack. Ich werde die Strafe nicht stören mit Bitten,
Oh, seit Wochen leb ich in Frieden.
Sag, wenn du fertig bist. Keine Trauer, Meine Seele ist nicht mehr von dieser Welt… Ich werde in der Nähe diesen Weg gehen Und sehen, wie die Kinder spielen…
Die Stachelbeeren sind in der Blüte
Und sie karren Steine durch den Zaun, Wer bist du: Mein Bruder, mein Geliebter?

Ich weiß es nicht, und müsste es wissen.
Wie hell es hier ist, und nackt Mein Körper ruht müde… Die Passanten denken vage: Sie ist verwitwet seit gestern.

*

Er liebte drei Dinge im Leben:
Weiße Pfauen, Songs am Vorabend
Und antike Karten von Amerika.
Er hasste es, wenn Kinder weinten,
Und hasste Himbeermarmelade zum Tee, Und hasste weibliche Hysterie.
Und – er hat mich geheiratet.

*

Für Alexander Blok
Ich kam zum Dichter als Gast. Genau zu Mittag. Am Sonntag. Hinter dem Fenster Frost, Ruhe in dem Raum.
Und eine himbeerrote Sonne
Vor Verwicklungen blauen Rauches… Wie deutlich der schweigsame Meister stellt sich mir dar, sein Blick!
Seine Augen sind von dieser Art: Er erinnert sich an alles:
Besser kümmere dich, o Geist: Auf mich schaust du gar nicht.
Aber ich erinnere mich an unsere Worte, Rauchiger Mittag, An einem Sonntag,
In diesem hohen grauen Haus
An der Newa Meeres-Weg.

*

Einsamkeit
So viele Steine auf mich geworfen,
Dass ich mich nicht mehr ducken kann,
Die Revolver sind formschön,
Hohe unter hohen Türmen.
Meinen Dank an die Erbauer,
Mögen sie entschwinden lassen Schmerz und Leid! Hier sehe ich Sonnen früher steigen,
Hier leuchtet die letzte Pracht.
Und oft windet es sich aus nördlichem Meere, Füllst du die Fenster meines Heiligtums,
Und eine Taube frisst Korn aus meiner Hand.
Und Gott ist Licht und Ruhe –
Der Muse sonnige Hand ist im Spiel,
Vollendend meine unfertige Seite.

*

Meine Stimme ist schwach, aber nicht mein Wille, Es ist auch ohne Liebe besser.
Hoher Himmel und Bergwinde,
Und meine Gedanken sind unschuldig.
Die Schlaflosigkeit, meine Schwester, ist anderswo. Ich brüte nicht über kalter Asche.
Und die gekrümmte Hand auf der Turmuhr
Ist nicht mehr ein tödlicher Pfeil.
Wie die Vergangenheit die Macht über die Herzen verliert! Freiheit ist in der Nähe. Alles ist einfach,
Sieh, wie das Sonnenlicht fällt
Auf den feuchten Efeu in diesem Frühjahr.

*

Ich weiß nicht, ob du lebst oder tot bist –
Kann man auf der Erde so gefunden werden? Oder nur in dämmernden Gedanken
Betrauert werden, in diesem friedlichen Schein?
Alles für dich: das Gebet am Tag,
Die heiße Schlaflosigkeit in der Nacht, Die weiße Herde der Poesie
Und das blaue Feuer meiner Augen.
Niemand wurde mehr geschätzt
Oder hat mich mehr leiden gemacht: nein, nicht Er, der mich zu quälen kam,
Auch er nicht, der mich gestreichelt und vergessen.

*

Ich wurde nicht zu früh oder zu spät geboren, Ich wurde eindeutig gesegnet,
Nur der Herr ließ nicht zu
Meinem Herzen, ohne Illusionen zu leben.
Das ist es, warum es dunkel ist im Wohnzimmer,
Das ist es, warum meine Freunde meine Freunde sind, Wie trauriger Dämmerung Vögel,
Singend in der Vergangenheit nicht vorhandene Liebe…

*

Ich bin nicht eine von denen, die ihr Land verlassen Für die Gnade des Feindes.
Ich war taub ihrer brutalen Schmeichelei.
Ich werde ihnen nicht gewähren meine Lieder.
Aber für mich ist das Exil immer elend, Wie ein Sträfling oder ein Patient. Wanderer, deine Straße ist dunkel,
Und das Brot der Fremde schmeckt bitter.
Aber in dem blendenden Rauch die Flammen,

Die Zerstörung der Überreste der Jugend, Wir haben es abgelehnt, zu umgehen Einen einzigen Schlag gegen uns.
Und wir wissen, dass in der endgültigen Abrechnung Jede Stunde wird gerechtfertigt stehen…
Kein Mensch auf der Erde vergoss mehr Tränen,
War einfacher oder mehr mit Stolz erfüllt.

*

Ja, ich liebte diese nächtlichen Versammlungen,
Die vereiste Brille auf dem kleinen Tisch,
Ein feiner Dampf vom schwarzen duftenden Kaffee, Das rote Feuer brüllte, des Winters Wärme,
Das Lachen bei ätzenden literarischen Witzen,
Und eines Fremden Blick, hilflos und schrecklich.
Inschrift in ein Buch
Von einem Nachwelt-Schatten
In dieser Stunde, in der Welten zusammenbrechen, Nimm dieses Geschenk der Feder
Als Gegenleistung für die besten Geschenke,
Also dass man über die Jahreszeiten
Die eine dauerhafte und wahre
Hohe Freiheit der Seele bewahrt,
Sie nennen es Freundschaft.
Könnte ich so sanft lächeln
Wie vor dreißig Jahren…
Und die Gitter um den Sommer-Garten
Und das verschneite Leningrad
Könnte steigen, wie in diesem Text,
Aus dem Nebel des magischen Spiegels,
Und über der nachdenklichen Lethe
Das Blatt könnte wieder singen.

*

REQUIEM
Nein, nicht unter einem fremden Himmel, Nein, nicht von ausländischem Flügel gewiegt, Denn mit meinem Volk war ich,
Mit meinem Volke trauernd.


bild: anna achmatowa, gemalt von nathan altman 1914

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