
Gestern hatte ich eine Begegnung der dritten Art. Die euphorisiert mich immer noch so, dass ich die Geschichte loswerden muss.
Rückblende I, vor zehn Jahren:
Bei einem Kongress in Italien spricht mich eine Frau an, weil sie gehört hatte, dass ich mich in Berlin mit jüdischen Biografien beschäftige und bittet mich, ihr bei der Suche nach ihrer Familie zu helfen. Sie heißt Miriam Rebhun und erzählt mir, sie sei 1946 in Neapel geboren. Ihre Mutter Luciana war eine der wenigen jüdischen Überlebenden inNeapel und ihr Vater Heinz, ein Soldat der jüdischen Brigade, der mit der britischen Armee 1944 nach Italien gekommen war, stamme aus Berlin.
Er habe zusammen mit seinem Zwillingsbruder Kurt eine Hachschara in Brandenburg besucht und beide seien 1936nach Palästina emigriert. Im Frühjahr 1948 sei ihr Vater Heinz bei einem arabischen Überfall bei Haifa erschossen worden. Sein Zwillingsbruder Kurt habe noch für die Rückfahrt der am Boden zerstörten Luciana und ihres Babys nach Neapel gesorgt. Dann sei im Herbst auch er im Unabhängigkeitskrieg gefallen. Luciana habe nie wiedergeheiratet und auch noch Jahrzehnte später nur weinen können, wenn die Sprache auf die Liebe ihres Lebens gekommen sei.
Heinz‘ Tochter Miriam wuchs in der Jüdischen Gemeinde von Neapel mit den wenigen Fotos ihres Vaters auf, dieihn meist zusammen mit seinem zum Verwechseln ähnlichen Bruder Kurt zeigen (die beiden auf dem Foto). Mehr hat sie und mehr weiß sie über ihre Familie nicht…
Nun muss ich also ran. Ich finde heraus, dass Miriams Großvater Leopold Rebhun, der als Vertreter für die jüdische „Schürzenfabrik Aron Meyer“ gearbeitet hatte, schon 1940 in den Wittenauer Heilstätten, möglicherweise imRahmen einer frühen Euthanasieaktion gestorben war; und dass die Großmutter Frieda, die man zur Zwangsarbeit bei „Konsulent Bernhard Israel Blau“ (also einem jüdischen Anwalt, dem die Zulassung entzogen worden war) verpflichtet hatte, 1942 nach Theresienstadt deportiert und in Raasiku ermordet worden war. Miriam lässt später für beide Stolpersteine legen in Steglitz legen, wo sie 25 Jahre lang gelebt hatten, und wo ihr Vater und sein Bruder geboren wurden und zur Schule gingen.
Ich finde die Gräber von Opa und Ur-großeltern auf dem jüdischen Friedhof Weißensee und Mirjam lässt die Schriftauf ihren Gräbern erneuern und weiß nun auch, dass seine Eltern Mendel Rebhun und Johanna Treuherz, die noch im heutigen Polen geboren wurden, ebenfalls dort beerdigt sind.
Dann finde ich das Geburtshaus von Miriams Oma Frieda im Mecklenburgischen Parchim, ein schönes altesFachwerkhaus mitten in der Fußgängerzone. Mirjam kommt nach Berlin, zusammen besuchen wir all diese Orte. Und seitdem sind wir befreundet…
Rückblende II, vor zwei Wochen:
Mirjam schickt mir eine Whatsapp-Nachricht. Ihre Nichte in Israel habe ihr geschrieben, dass sich vor kurzem eineFrau habe auf der Webseite für die Gefallenen des Unabhängigkeitskrieges eingetragen habe und dort behauptet, sie sei die Tochter von Kurt, also dem Zwillingsbruder von Miriams Vater.
Sie heiße Daphna, sei 76 Jahre alt und lebe in Berlin. Aber die Frau, schreibt Miriam, habe keinen Nachnamenund keine Kontaktdaten hinterlassen. Die Familie sei in heller Aufregung – und ich müsse diese Daphna jetzt unbedingt finden.
Ich schreibe zurück, ob sie mich für Gott halte!? Ich könne unmöglich in einer Millionenstadt eine Daphna ohne Nachnamen finden. Und dann denke nicht weiter daran…
Bis gestern.
Gestern – ich mache Abenddienst auf dem jüdischen Theaterschiff und trage entgegen meiner sonstigen Gewohnheit ein Namensschild, das mich als Team-Mitglied ausweist – spricht mich plötzlich eine Besucherin an: Oh, ich sehe deinen Namen, der kommt mir bekannt vor. Kennst du vielleicht eine Hanna Schulz? Die hat immer von dir gesprochen…
Ich: Klar, kenne ich Hanna, wir haben ganz früher mal zusammengearbeitet in der Jüdischen Gemeinde; eine entzückende Person. Und wer bist du?
Sie: Hanna ist letztes Jahr gestorben, ich bin ihre Tochter: Daphna.
Ssssss… meine Antennen fangen leise an zu vibrieren!
Ich platze raus: Äh, tschuldigung, und wer ist dein Vater und wo bist du geboren?
Sie guckt mich verwundert an und antwortet: Den kenne ich nicht, er hat meine Mutter verlassen, als sie schwanger mit mir war und nur gesagt, dass er schon verheiratet sei und bereits ein Kind habe.
Ich bin in Haifa geboren. Aber meine Mutter (sie war mit der Jugend-Alijah aus Berlin nach Palästina gekommen) ist mit mir und ihrem neuen Mann Fredi 1956 nach Berlin zurück gegangen. Mein richtiger Vater ist 1948 gefallen…
Jetzt schlagen meine Antennen wild nach allen Seiten aus!
Ich frage: Entschuldigung, hatte dein Vater vielleicht einen Zwillingsbruder und hast du vor ein paar Wochen auf einer israelischen Webseite vielleicht einen Eintrag hinterlassen?
Sie starrt mich mit Riesen-Augen an und stottert: Ja… aber ich verstehe nicht, wie kannst du das wissen? Ich kläre sie auf…
Was für ein Wahnsinn! Zwilinge, die fast immer alles gemeinsam gemacht haben – gemeinsam ausgewandert, gemeinsam gekämpft, drei Monate nacheinander gefallen, fast gleichzeitig Kinder bekommen.
Miriam, also die Frau in Neapel, ist im Mai 46 geboren und Daphna zwei Wochen später im Juni. Beide haben, ohne voneinander zu wissen, ihre ersten Jahre in Haifa verbracht,
beide haben die gleichen Nachnamen, denn auch wenn Kurt die schwangere Hanna verlassen hat, hat ihreTochter seinen Namen bekommen. Daphna ist Schauspielerin geworden und hat den Geburtsnamen ihrer Mutter angenommen, aber in ihrem israelischen Pass heißt sie immer noch wie ihr Vater: Rebhun.
Ist das nicht komplett irre?
Es gibt Millionen Menschen in Berlin.
Daphna war die buchstäbliche Stecknadel im Heuhaufen und ich habe nicht mal nach ihr gesucht! Was für eine Kette von Zufällen!
Ich kannte ihre Mutter, ohne ihre Geschichte zu kennen.
Hätte ich die nicht gekannt und hätte die nie von mir gesprochen, hätte Daphna mich nicht angesprochen. Hätte ich nicht zufällig an diesem Tag das Namensschild getragen, auch nicht.
Wäre ich nicht auf dem Schiff gewesen, auch nicht.
Wäre Daphna nicht am gleichen Tag zufällig auf das Schiff gekommen, wegen eines Konzerts von Andrej Hermlin, auch nicht.
Niemals.
Fünf Minuten, nachdem klar war, dass Daphna die Cousine von Mirjam ist, habe ich noch auf dem Bootssteg inNeapel angerufen. Mirjam war wie ich und wie Daphna völlig aus dem Häuschen und hat sofort die gesamte Familie in Israel informiert.
Einen Monat später fand das erste Familientreffen in Israel statt.
Und Daphna, das Einzelkind ohne Familie traf zum ersten Mal auf ihre Halbgeschwister und die vielen Nichten und Neffen, von denen sie bis dahin nichts wusste, und die nichts von ihr.
Vor vier Wochen waren alle in Berlin und haben die Gräber und die Stolpersteine ihrer Familie besucht. Und wirvom Jüdischen Theaterschiff haben eine neue Schauspielerin gewonnen. Daphna ist bereits mit Briefen von Rosa Luxemburg bei uns aufgetreten. Ende //
