Nach Czernowic, Tschernowitz, Chernovcy, Chernivtsy – Wiege der deutsch-jüdischen Kultur im Osten oder was davon übrig ist.
Nimm Toilettenpapier mit, sieh dich vor der Mafia vor, deklariere nicht dein ganzes Geld, die stecken mit dem Zoll unter einer Decke – soweit die guten Ratschläge. Die Lust kann einem schon vergehen, erst recht nach dem Zirkus, den die giftigen Chmelnizkis in der ukrainischen Botschaft anstellen, bevor man überhaupt ein Visum in der Hand hat, und nachdem keine deutsche Zugauskunft in der Lage ist, eine Bahnverbindung nach – wie heißt die Stadt? – herauszufinden, geschweige dann eine Fahrkarte zu verkaufen.
Der Weg ist das Ziel. Eine Nacht bis Krakow. Guter Start. Kawa i Sernik, Käsekuchen, auf dem alten Markt – schön geblieben und schön geworden die Stadt. Abteil nach Lemberg, Lwów, Lvov. Der Zug fährt nach Odessa. Hinter Przemysl – stehen; stehen, ewig. Der Zug wird hin und her rangiert, der Gleisbreite angepaßt.
Medyka, der Grenzübergang – wieder Stehen. Polnische Kontrolle, ukrainische Kontrolle. Zollerklärungen in Ukrainisch(!) müssen ausgefüllt, die Uhren um eine Stunde vorgestellt werden. Erste Händler tauchen auf, bepacken ganze Abteile bis zur Decke mit riesigen gestreiften chinesischen Plastiktaschen und unterhalten sich ungeniert und laut über ihre Geschäfte; Wodka-Flaschen kreisen, Blondierte kreischen – Odessa Mama, Rostow Papa. Nach über fünf Stunden brütender Hitze bewegt sich der Zug schon wieder.
Abends um zehn: Lvov. Der Bahnhof dunkel, wie kurz vor einem Bombenangriff, aber er sieht aus wie kurz danach. Es stinkt. Schmutz, Wasser bis zu den Knöcheln. In der Haupthalle – die einmal schön gewesen sein muß – Menschenmassen, die an den Fahrkartenschaltern Schlange stehen oder herumlungern und auf irgendein Geschäft warten.
Der taxidriver will neunzig Dollar für die drei Stunden Autofahrt nach Chernovcy. Aber es fährt noch ein Nachtzug. Die Fahrkarte im Schlafwagen kostet keine Million, ukrainische Kupons – jetzt sind wir endlich Millionäre, sagen die Leute verbittert -, das sind weniger als zehn Mark. Also wieder: Stolpern durch die Dunkelheit über Steine und durch undefinierbare Lachen; das Abteil steht schon außerhalb des Bahnsteiges, die Stufen zum Waggon sind unglaublich hoch – Olympia ruft.
Wieder ein Kupee – wie es hier heißt: zwei Liegen, schmutzige Matratzen, für die Bettwäsche Extra-Obolus; kein Wasser, nichts zu essen, die Fenster lassen sich nicht öffnen. Dafür schaukelt der Waggon recht gemütlich, eine Nacht Zeit noch von der heilen Vergangenheit zu träumen.
Morgens um fünf, Sonntag: Chernovcy. Der Bahnhof – schön, ein großes Gebäude aus österreichischen Zeiten, silbrig glänzendes Dach mit Figuren, ein paar Köpfe fehlen; menschenleer – die 350.000 Einwohner, leere Wohnung, unsere Behausung, im Zentrum der Stadt – ulica Ordshinikidse, deren neuen Namen niemand zu kennen scheint, zu oft wurden hier schon Straßen umbenannt – gehört jemandem, der lange ausgereist ist.
Nur noch ein Spiegel, ein Bett, ein paar Stühle, ein Rollstuhl, medizinische Bücher auf Deutsch und Stalin auf Russisch erinnern an irgendjemanden. Die Jalousien sind heruntergelassen, das Gas ist abgestellt, das Telefon funktioniert erstaunlicherweise, der Strom meist, das Wasser manchmal (braun, mit Sand, viel Sand).
Erste Stadtrundfahrt. Hügel hoch und runter. Die riesige Universität mit Kirche, Türmchen, Dächern aus bunt glasierten Ziegeln, orientalisch angehaucht, einst Residenz des Metropoliten, und einst waren hier zwei Drittel der Studenten Juden (heute kostet das Studium harte Dollars). Das Theater mit den Profilen von Mozart, Goethe, Wagner, vor dem mal ein Denkmal Schillers stand, von betuchten Juden der Stadt gestiftet (jetzt thront da Olga Kobiljanska, ukrainische Dichterin). Der Ringplatz, das alte Rathaus, das jüdische Krankenhaus, turetski most – die Türkische Brücke, das alte jüdische Viertel, an einigen Dachgiebeln noch hebräische Lettern.
Ocker, helles rot und grün dominieren, vielerorts überwachsen von Wein und Efeu. Die Kriege haben den Häusern offenbar nicht viel angehabt, der ‚Frieden‘ war gründlicher. Das weiche Morgenlicht retuschiert den Verfall.
Bauhaus, Bauhaus, Bauhaus, im Wechsel mit Jugendstil, Neoklassizismus und Neobarock – eine ganze Stadt voll mit architektonischen Schätzen und Edelkitsch; detailreiche Phantasien längst vergessener Baumeister.
Wohnhäuser und Palazzi, Balkone, Zäune, Gitter, hundertmal übermalt oder eben nicht. Grüne Villengegenden, kleine dörfliche Gassen, Hinterhöfe, großzügige Plätze, breite Flanierstraßen, konkurrierende russisch-orthodoxe und griechisch-katholische Kirchen mit Spitztürmen oder Basilika-Aufbauten. All das: marode, ungeachtet, verrottet. Der riesige Tempel, in dem Josef Schmidt Kantor war, ist ein Kino – Kinogoga im Volksmund – und hat nicht nur seine Kuppel verloren, andere sind Lagerhallen; die einzig geöffnete ist klein (ausreichend) und gemütlich, Wände und Decke bunt bemalt mit Ölbildern; auf dem Dach prankt das jüdische Jahr in Neon. Auf einer Bank neben der Bima schläft ein graubärtiger alter Jid; eine Armenküche ist geplant.
Vor das meiste jüdische ‚Inventar‘ der Stadt gehört das Wort ‚ehemalig‘ – das ehemalige Jüdische Theater, die ehemalige Jüdische Sparkasse, das ehemalige Haus der Bundisten. Das ehemalige Haus der Gemeinde am Theaterplatz, bis vor wenigen Jahren das „Kulturhaus der Arbeiter der Leichtindustrie“ ist heute wieder teilweise in ‚jüdischem Besitz‘; die von den Sowjets beschnittenen Davidsterne an den Treppengeländern haben sie restauriert; man erkennt noch die Schweißstellen.
Israeli Information Center, Steinberg Fondation, Jüdischer Wohlfahrtsverein. Man organisiert: mal da eine chaneh (von ‚Ruch‘ bewacht), mal hier einen Schabat, Kulturveranstaltungen – die Plakate hängen in der Stadt.
Die Mitarbeiter quetschen sich in ein paar kleinen vollgestopften Räumen. Alte Leute – sitzengelassen von ihren Kindern – kommen, ihre Unterstützung abzuholen, Jugendliche hacken am Computer, wühlen in der kleinen Bibliothek, im TV läuft ein israelischer Comic.
Telefonklingeln, Leute kommen und gehen, sitzen und klatschen (man hat den Eindruck, daß sich hier alle gegenseitig beobachten – neue Ressourcenverteilungen oder alte Ressentiments, die Frage, wer denn nun wirklich jüdisch ist oder früher ein böser Roter war?).
Makkabi turnt wieder, Celan hat ein Denkmal und es gibt wieder eine jüdische Schule und einen Streit, ob man neben Iwrith auch Jiddisch anbieten solle, was mangels zukünftiger Verwertbarkeit auf wenig Gegenliebe stößt und so habe ich nebenbei das Glück ein paar alte jiddische Bücher ‚abzustauben‘, die von Ausgereisten zurückgelassen wurden und niemanden zu interessieren scheinen.
Dagegen ist das landeskundliche Museum eine einzige große Enttäuschung; ich suche nach der polnisch-österreichisch-deutsch-jüdisch-rumänischen und sonstigen Vergangenheit und finde Afghanistan und ukrainische
Selbstbeweihräucherung zwischen ein paar Töpfen aus dem 15. Jahrhundert und ländlichen Trachten. Nicht einmal verfälschte Vergangenheit, einfach nur Ignoranz. Lücke. Schluß. Aber es wird noch ein paar Jahre brauchen, bis die letzten rumänischen, deutschen, hebräischen und numehr auch russischen Zeichen aus der Stadt verschwunden sind; bislang findet man sie noch, wenn man sich den Hals verrenkt: auf Gully-Deckeln, an Fassaden unrestaurierter Häuser: Herstellerzeichen, Reklamen, Jahreszahlen, Erbauernamen. (Vielleicht ist es diese Art der Vergangenheitsbewältigung, die bewirkt, daß es nur eine Postkarte in dieser Wahnsinnsstadt gibt: mit dem Ehrenmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten, das berechtigt, aber häßlich ist und sich durch nichts von denen unterscheidet, die in jeder x-beliebigen anderen russischen oder ukrainischen Stadt stehen).
Das Museum der bukowinischen Diaspora, nah der Uni, ist erfreulicher; die Mitarbeiter bitten die Besucher – die wohl meist aus Ehemaligen bestehen – um Zeitzeugnisse: Urkunden, Fotos, Bücher. Zwei Räume zur jüdischen Geschichte der Stadt. Hier sind sie alle, die Czernowitz berühmt gemacht haben. Celan, Ausländer, Franzos, Manger, Schmidt. Und es gibt neue Namen und Gesichter – Künstler, die erst gestern gegangen sind.
Ausreise – auswandern, weggehen – das ewige jüdische Thema. Die Älteren sind unsicher, finden immer wieder Argumente dagegen und werden immer wieder überstimmt. Wir hören es täglich: der und der ist weg, der und der fährt demnächst, der und der will nicht, der und der kann nicht, der und der darf nicht. Israel, USA, Deutschland (wie wir in Deutschland leben können, wird gefragt und wie es mit dem Antisemitismus sei; auf die Gegenfrage nach dem in der Ukraine kommt kaum Antwort). Es gibt viele, die plötzlich Juden sind, vermutlich mehr als die Hälfte der Ausreisenden, sagt man und erzählt sich Details über die ‚Mutations‘-Techniken. Viele sind weg, auch von denen, die das Ghetto oder die Deportationen nach Transnistrien haben oder die Russen oder die Ukrainer; trotzdem immer wieder Juden, die deutsch oder jiddisch sprechen.
Russisch, ukrainisch, rumänisch auch – selbstverständlich. Vielleicht das der Grund, für die vielen Sprachgewaltigen, die diese Stadt hervorgebracht hat.
In die Berge. Slalom-Fahren ist angesagt, die Straße ist ein einziges großes Loch (irgendwer hat mal gesagt, in Russland gäbe es zwei große Übel: dorogi i duraki – die Straßen und die Dummköpfe). Trip ins vorige Jahrhundert: Kleine Dörfer und Kapellen, Sonnenblumen und Maisfelder, Kühe und Ziegen mitten auf der Straße, Pferdewagen, Frauen und Kinder am Wegesrand, die irgendwas zu verkaufen versuchen.
Storoshenetz, nahe der rumänischen Grenze. Der kleine Friedhof, von der Straße nicht zu bemerken, ist erstaunlich gut erhalten. Ein alter Mann kümmert sich um die Gräber; Angehörige entlohnen ihn ab und zu. Es gibt ein altes und ein neues Denkmal für die Ermordeten, ein Tor mit großen Davidsternen, ein Ziehbrunnen, eingravierte Porträts der Verstorbenen.
Auf einem Berg vor einem Wasserfall ein Denkmal für Taras Shevcenko, ukrainischer Nationaldichter.
Wishnitza, ein Postkarten-Ort; irgendwo dort – ein Quellfluss: hier soll die Mikwe des Baal Schem Tow gewesen sein, sind die Orthodoxen hingepilgert (Chassidim und assimilierte Nationale – dazwischen gab’s offenbar nicht viel; einer sagt mir: meine Schwester hieß Victoria und mein Bruder Franz Joseph, nach dem Kaiser). Heiliger Boden. Das Wasser kühl, die Landschaft wundervoll; es regnet und der fällige Regenbogen spannt sich über die Ausläufer der Karpaten. Flüsse. Pruth,
Cheremosch, geheimnisvolle Namen. Frau Ausländer kann das besser sagen:
„Bukowina – Grüne Mutter – Landschaft die mich erfand – wasserarmig waldhaarig – die Heidelbeerhügel honigschwarz. Viersprachig verbrüderte Lieder in entzweiter Zeit. Aufgelöst strömen die Jahre ans verflossene Ufer.“
Noch ein Friedhof, der in Czernowitz. Riesig groß; weite Sicht, es stehen nur noch wenige Bäume. Am Horizont die pijany ‚besoffene‘ Kirche, mit verdrehten Pfeilern, in knallblau mit goldenen Sternchen. Die alte Trauerhalle – verrammelt; Löcher im Dach. Aus der metallenen Inschrift am Giebel haben sich einzelne Buchstaben selbständig gemacht, hängen kopfunter. Hebräisch, russisch, deutsche Inschriften zuhauf – Unsere Mutter, der treusorgende Vater, der Obermedizinalrath. Prunkgräber neben einfachsten Steinen, kasperl-bunte Bemalungen neben stilisierten Hirschen, segnenden Händen, ovalen Kinderfotos. Gerade, schiefe, auf dem Rücken liegende Steine. Hohes Gras. Aktion Sühnezeichen räumt auf. Herrenlose junge Hunde, ein ganzer Wurf, streunen über den Friedhof. Ein Alter sitzt an einen Grabstein gelehnt, hütet seine Ziegen; ungerührt von meiner Suche in der Stadt nach wer-weiß-was.
Der Knast, der schon immer Knast war, wird gerade gestrichen – in schweinchenrosa und weiß; das einst schicke Hotel „Bristol“ mit blinden Fenstern; in der Koblijanska – als „Herrengasse“ soll sie mal berühmt gewesen sein -Musikanten; wenigstens das. Noch zu Sowjetzeiten ist man hier flaniert, traf man sich, gab es Cafes und Kinos, die besten Läden – das Herz der Stadt. Jetzt ist es tot, absolut tot – wie überall in der Stadt (abends Geistertanz; Verdunkelung; Taschenlampen blitzen auf, ab und zu).
Der Kaufrausch, der mich auf Reisen regelmäßig überfällt, erleidet hier seine erste Niederlage. Es gibt einfach nichts. Die Bücher sind austauschbar, ukrainische Regenbogenpresse (das in dieser Stadt!); der Laden mit Kunsthandwerk hat nur bemalte Ostereier und nationale Helden in Holz und Metallguß; die Straßenmärkte sind mit dubiosen
Lebensmitteln bestückt: Blumenkohl, der wie nach einem mißglückten gentechnologischen Experiment aussieht, pappiges Brot, Milch und lebende Fische aus Tankwagen.
Coca Cola und Schokoriegel über alles. Marlboro – die Zigaretten werden einzeln verkauft. Die Renten sind zu wenig zum Leben. Die Alten stehen, mit und ohne Kriegsorden, vor Kirchen und Passagen und betteln; einige barfuß. Die Löhne bekommen viele, die noch Arbeit haben, Monate zu spät oder gar nicht. Professoren verkaufen auf dem Markt, Lehrer züchten Tomaten. Ins Krankenhaus muß der Kranke – bitt schön – Binden, Einwegspritzen, Bettwäsche, Essen selbst mitbringen.
Die Korruption blüht (man zeigt mir, wie das geht, im Kleinen: eine übertretene Verkehrsregel kostet eine halbe Million und ist vergessen; das neue TÜV-Zeichen – kein Problem – eine Flasche Wodka, die zweite Währung; oder ist es die erste?). Eine Fahrkarte nach Lvov zu ergattern, braucht einen halben Tag plus Hin- und Hergefahre plus Diskussion. Die Damen hinter den Schaltern und Tresen sind unfreundlich, desinteressiert, gelangweilt und persönlich beleidigt, wenn manbsie anspricht, wie eh und je – keine Veränderung. Dafür sind die Habsburger wieder da, nach 150jähriger Präsenz und 80jähriger Abwesenheit: ‚Verband der österreichisch-deutschen Kultur – Wiedergeburt – Ortsgruppe Chernowitz‘ steht das Schild in einem Fenster.
Besuch bei A. Das muß Czernowitz sein! Eine kleine Frau, wie eine Feder; weit über Achtzig, sieht schlecht, läuft schlecht. Große runde braune Augen, traurig und lustig und listig, verschmitzt – die gleichen wie ihr Sohn. Kommunistin war sie, verliebt in einen Kosaken; politische Bücher hat sie über die Grenze geschmuggelt und im Gefängnis gesessen, ihr Kind alleine großgezogen, im jüdischen Krankenhaus geschuftet, bis es nicht mehr ging. Jetzt sitzt sie hier im 70er-Jahre-Bau, 5.Stock, allein, zwischen Büchern in vier Sprachen, mit einem Gedächtnis wie hundert Generationen – und niemand hört zu. Vielleicht sehen wir uns in Israel wieder.
Abschied. Haben Sie Ikonen? – fragt die ukrainische Zöllnerin und wühlt in der Unterwäsche.
(1995)

