Ruth Galinski sel.A.

Ruth Weinberg wird am 19. Juli 1921 in Dresden als Tochter eines Kaufmanns aus Bialystok und einer Dresdnerin geboren. Sie geht in eine Volksschule und treibt leidenschaftlich gern Sport – Leichtathletik, Speerwerfen, Hochsprung, Handball.

Wären die Nazis nicht gewesen, hätte Ruth Weinberg sicher als Leichtathletin Karriere gemacht. Seit sie fünf Jahre alt war, trainiert sie im dortigen SC Bar Kochba. „Der Sport hat mir viel bedeutet. Er bedeutete ja nicht nur Anstrengung, sondern auch Freundschaft, Geselligkeit und Freiheit.“ Und zwar in Zeiten, als die Luft für Juden in Deutschland schon sehr dünn geworden war. Die großen Stärken der jungen Athletin liegen im Hochsprung und Speerwerfen. Bei den Makkabi-Jugendmeisterschaften 1935 in Leipzig wird Ruth Weinberg in beiden Disziplinen erste, und zweite im Hundertmeterlauf.

Es ist das Jahr vor der Olympiade. Die talentierte Sportlerin ins vierzehn und normalerweise reif für eine Förderung. Doch weil sie Jüdin ist, ist daran nicht zu denken. „In Dresden herrschte seit 1925 der berüchtigte Gauleiter Martin Mutschmann. Deshalb war es dort besonders früh besonders schlimm. Ich bin praktisch damit aufgewachsen, das ich nicht auf öffentlichen Bänken sitzen durfte, und keine norma- len Sportanlagen benutzen konnte.“ Im Schutz des SC Bar Kochba verlebt sie trotzdem zunächst eine halbwegs behütete Jugend. Ihr Vater bemüht sich früh um Emigration und gelangt im Sommer 1938 mit Hilfe der Rothschild-Stiftung nach Argentinien, wo er sich zum Landwirt ausbilden lässt. Frau Dinah, Sohn Alexander und Tochter Ruth soll er später nachholen dürfen.

Doch dann kommt der Oktober 1938. Weil Abraham Weinberg polnischer Abstammung ist, wird die Familie im Zuge der „Polenaktion“ verhaftet und an die polnische Grenze verschleppt. Doch die polnische Regierung hat kurz vorher allen Bürgern die Staatsbürgerschaft aberkannt, die seit mehr als fünf Jahren nicht mehr in Polen leben. „So haben uns die Polen nicht reingelassen und hinter uns hat die SS geschossen.“ Nach Intervention des Roten Kreuzes kommt die Familie in ein Flüchtlingslager bei Warschau. „Ich konnte kein Wort Polnisch, lernte aber schnell“. 

Im Lager lernt Ruth den jungen Anwalt Leon Davidson kennen. Sie heiraten. 1940 muß die Familie ins Warschauer Ghetto umziehen, kann aber nach ein paar Monaten flüchten. Getrennt voneinander leben die Weinbergs fortan im Untergrund. 1942 macht sich Leon Davidson nach Lemberg auf, um seinen Eltern bei der Flucht aus dem Ghetto zu helfen. Ruth wird ihn nie wieder sehen. Mit „arischen“ Papieren überlebt sie als Sonja Kowalski im Untergrund, seit 1943 in den Wäldern bei Zakopane bei einer Gruppe polnischer Widerstandskämpfer, für die sie Lebensmittel organisiert: „Dort durfte ich aber niemandem sagen, dass ich Jüdin bin“.

Im Dezember 1944 erreicht die Rote Armee Zakopane. Ruth Weinberg findet Arbeit in einem Geschäft in Krakow und meldet sich bei der Jüdischen Gemeinde. Da geschieht das Wunder. Es trifft ein Brief ihres Vaters aus Argentinien ein: „Mutter und Bruder sind wohlauf, fahr nach Berlin und warte auf dein Visum! Vater“.

1946 fahren alle vier nach Berlin, um auf das Visum für Argentinien zu warten, wo der Vater nach Jahren der Ungewissheit sehnsüchtig auf sie wartet.

Doch Ruth Weinberg wird nicht nach Argentinien auswandern. Denn in Berlin lernt sie 1947 Heinz Galinski kennen, und zwar, wie sollte es anders sein, bei einem Handballspiel des frisch gegründeten TUS Makkabi, in dem sich die leidenschaftliche Sportlerin sofort engagiert. Der fünfunddreißigjährige Heinz Galinski ist als aufstrebender Gemeindepolitiker dabei und soll ihr, der Kapitänin der Handballmannschaft, eine Urkunde überreichen – und verliebt sich in die strahlende Handballerin. Dann geht alles ganz schnell. An ihrem Geburtstag feiern sie Verlobung, im Oktober heiraten sie.

Und so emigriert Familie Weinberg ohne Tochter Ruth nach Argentinien. Denn deren frisch angetrauter Ehemann hat sich vorgenommen, der Geschichte die Stirn zu bieten und das jüdische Leben in Deutschland wieder aufzubauen. Hitler soll nicht recht behalten und in Deutschland sollen, wie seit in den Jahrhunderten zuvor, auch Juden leben (Ruths Vater hingegen betritt Deutschland nie wieder und lernt auch seinen Schwiegersohn nie kennen). Doch ganz hat Ruth Galinski ihre Emigrationspläne noch nicht aufgegeben und schließlich willigt auch Ehemann Heinz ein, in die USA zu emigrieren. Das Visum ist ausgestellt, die Abreise anvisiert, da kommt 1949 Tochter Evelyn ein paar Wochen zu früh auf die Welt. Die Abreise muß verschoben werden – wie sich bald heraus stellt, für immer.

Mit ihrem Mann ist es Ruth Galinski dann nicht so schwer gefallen, doch in Deutschland zu bleiben. „Ich war jung verheiratet und sehr verliebt. Da fällt einem garnichts schwer.“ Doch den Sport hat sie aufgegeben. „In meiner Generation war von Emanzipation noch nicht die Rede.“ An der Seite ihres Mannes hätte sie schließlich auch ein interessantes Leben gehabt, und als Ruth Galinski Menschen kennen gelernt, die sie als Ruth Weinberg wohl nie getroffen hätte, sagt sie in der ihr eigenen Zurückgenommenheit. Doch wer Ruth je begegnet ist, weiß, das dies eine ziemliche Untertreibung ist.

Ruth Galinski ist nicht nur die Frau an der Seite eines bald berühmten Mannes, der als Gemeinde- und Zentralratsvorsitzender nicht nur die Berliner Jüdische Gemeinde und das Bild des Nachkriegsjudentums in Deutschland über Jahrzehnte prägen wird. 1953 gehört sie mit Jeannette Wolff und Lilli Marx zu den (Wieder-)Gründerinnen des Jüdischen Frauenbundes, noch 2012, als der International Council of Jewish Women seinen 100. Geburtstag feierte, ist sie Ehrengast der Veranstaltung. Sie sitzt in zig Vorständen, wird als einzige Frau für den Zentralrat der Juden in den Beirat der Stiftung Gedenkstätten Dora Mittelbau berufen, ist Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Hilfe für krebskranke Kinder und über vier Jahrzehnte lang die First Lady der Berliner Gemeinde. 

Seit 1992 feiert sie ihren Geburtstag nicht mehr wirklich. Denn seitdem ist der 19. Juli nicht nur ihr Geburtstag, sondern auch der Todestag ihres Mannes. Und Ruth Galinski steht dann, statt zu feiern, am Grab Heinz Galinskis auf dem Friedhof Scholzplatz, wo man an seinem Todestag jährlich des legendären Nachkriegsvorsitzenden gedenkt. „Aber vielleicht sollte es so sein“, sagt sie leise, „um für immer die große Verbundenheit zu unterstreichen, die wir füreinander empfunden haben“.

Nach einigen Jahren zieht Ruth in das jüdische Seniorenheim, das den Namen ihrer Mitstreiterin Jeanette trägt, ist aber weiter im Vorstand der Heinz-Galinski-Stiftung aktiv, politisch interessiert und informiert. Hin und wieder besucht sie noch Gedenkveranstaltungen. Ruth fühlt, wenn sie bei solchen Gelegenheiten vorgeführt und aus Alibizwecken umarmt oder geküsst wird. Sie übergeht Mangel an Demut und Respekt ihrer Generation gegenüber eigentlich immer, und sagt höchstens ironisch: „Ich weiß, ich bin die Mesuse der Gemeinde!“.

Ruth ist eine Frau der Tat, nicht der schönen Worte. Noch in ihrem Todesjahr hat sie durch eine großzügige Spende mit Hilfe des Keren Hayesod den Aufbau der „Ruth-und-Heinz-Galinski-Bibliothek“ in der Denmark High School in Jerusalem ermöglicht. Am 18. September 2014 ist Ruth Galinski im Jüdischen Krankenhaus Berlin, in der Straße, die den Namen ihres Mannes trägt, gestorben.

Liebe Ruth,
du warst eine der letzten Zeugen, Beteiligten, Betroffenen der Schoa, aber auch der Zeit des „Aufbaus nach dem Untergang“. Und du warst Deinen Freunden eine wahre Freundin, eine lebenskluge Ratgeberin und Seelenverwandte, unprätentiös, mitfühlend, geerdet und mit einem gesunden Menschenverstand gesegnet. Du hast die richtigen Ratschläge gegeben, alle unsere Meschuggas augenzwinkernd übersehen, uns beim „Mensch-ärgere-Dich-nicht“ über den Tisch gezogen, und wir haben Dich um den Lietzensee begleitet und zu Heinz´ Grab an der Heerstraße. Da hast du dann ein paar Steinchen umgeschichtet, ein paar Blätter weggewischt, dich auf die Platte gestützt und gesagt: „Da komm ich dann auch mal hin“.
Davor haben wir uns gefürchtet. Aber jetzt ist es soweit. Alles endet wieder mit einer Urkunde, auf ihr steht der 18.9.2014 und Heinz-Galinski-Straße 1, wo du heute Nacht eingeschlafen bist.
Du hast beim Abschied immer gesagt: „Komm gut nach Hause, Schätzchen, und grüß den Deinen!“.
Ja, Ruthchen, Du auch! Mach´s gut! Und grüß den Deinen!

Yu

(Gekürzt zuererst erschienen in: Jüdische Allgemeine, 18.09.2014)

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