Abschiebehaft-Historie


4.9.1919 – als die „abschiebehaft“ erfunden wurde . 100 jahre zu viel: die deutsche ausweisungspolitik bis zur weimarer republik war je nach land uneinheitlich geregelt und willkürlich. klare gesetzesgrundlagen gab es noch nicht. mit der isolierung von mißliebigen und abzuschiebenden wurde aber bereits früher begonnen. während der französischen revolution wurden gegner in lagern isoliert, im burenkrieg setzten die briten und spanier feinde in lagern fest, die türken sperrten armenier in lager und die deutschen hatten erste konzentrationslager ab 1904 beim völkermord an den herero und während des ersten weltkriegs für polnische und russische – oft jüdische – arbeiter (die für die deutsche kriegsindustrie angeworben worden waren, aber die lager nicht verlassen durften; hier wurde auch der begriff im deutschen erstmals verwendet).
das lagersystem war also bereits erprobt, als man in der weimarer zeit begann, lästige ausländer und staatenlose – vor allem jüdische flüchtlinge aus osteuropa – zu „konzentrieren“, um sie später gesammelt abzuschieben. mit der ns-ideologie hatte das noch nichts zu tun. man wollte wirtschaftliche probleme (wohnungsnot, arbeitslosigkeit, lebensmittelknappheit) „lösen“ und den rechten politischen kräften zugeständnisse machen.
bayern schloss die rechtslücke als erstes. im mai 1919 wurde dort die „bekanntmachung über aufenthalts- und zuzugsbeschränkungen“ verabschiedet, d.h. die registrierung und überwachung aller ausländer, die ausweisung zum erhalt der „öffentlichen sicherheit“, die überwachung der ausreise und die festnahme, „wenn anhaltspunkte dafür vorliegen, daß die abreise nicht erfolgen würde“. im april 1920 wurde ein erstes internierungslager in ingolstadt eingerichtet, für personen, die (noch) nicht abgeschoben werden konnten.
preußen reagierte zunächst weniger radikal. innenminister wolfgang heine (spd) setzte auf duldung (von bereits eingewanderten, in der heimat verfolgten bzw. denen, die hilfe von jüdischen organisationen bekamen).
am 1. november 1919 verfügte er jedoch in einem erlass, (vorerst nur) straffällige ostjuden auszuweisen und eine weitere einwanderung durch die „sperrung der grenzen“ zu verhindern, aus rücksicht auf die prekäre arbeitslosigkeit usw. (dabei gab es 1918 zwischen den 60 millionen einwohnern lediglich ca 160000 ostjuden, ein drittel davon in berlin und viele wollten ohnehin weiterwandern wie bereits 700000 vor ihnen).

heines nachfolger carl severing (spd) sah die bayerische internierungspolitik nach eigener aussage zwar persönlich als gefahr an, meinte aber auch, dem druck von rechts (dnvp) nachgeben zu müssen. (schon 1918/19 waren in berlin täglich bis zu 100 juden willkürlich ohne rechtsgrundlage verhaftet worden und bis zu ihrer zügigen abschiebung nach polen in polizeigewahrsam gehalten worden). im märz 1920 dann der erste „versuchsballon“, fakten schaffen: die ersten 282 vermeintlichen jüdischen bolschewisten und schieber werden im scheuenviertel verhaftet und in das bestehende lager wünsdorf-zossen gebracht (bekannt auch als „halbmondlager“, weil hier bis dahin muslimische kriegsgefangene interniert waren). einige tage später mussten zwar die meisten dank der proteste jüdischer vereine wieder entlassen werden, aber der damm war gebrochen.

ab dem 1.6.1920 wurden per erlass die ersten konzentrationslager in preußen neu eingerichtet, keineswegs nur für straffällige, sondern für „personen, wenn sie keinen ordnungsgemäßen beruf in deutschland finden“. severing rechtfertigte dies damit, dass die abschiebungen nach osten nicht durchführbar waren (viele einwanderer seien wehrpflichtig und deutschland müsse sich im gerade ausgebrochenen russisch-polnischen krieg neutral verhalten). severing selbst setzte auf eine internationale verteilung der geflüchteten und der kosten. das passierte nicht, stattdessen also konzentrationslager, vor allem für osteuropäische juden, die vor pogromen aus ihrer heimat geflohen waren, aber auch für sinti und roma etc. 

im februar 1921 wurden die zwei größten konzentrationslager eröffnet: stargard in pommern und cottbus-sielow in brandenburg (weitere lager gab es u.a. in kassel, hamburg, frankfurt/m und o, quedlinburg und im ruhrgebiet). in den stargarder holzbaracken zb. konnten bis zu 2700 menschen interniert werden. die lager waren mit stacheldraht eingezäunt und bewacht.

anfangs waren selbst jüdische organisationen zum teil mit den maßnahmen einverstanden, und dachten sie sich als eine art selbst verwaltete „arbeiterkolonien“. doch die politik wollte zeigen, dass sie die wohnungnot wirksam bekämpft und weitere einreisen unattraktiv bzw. freiweillige ausreisen attraktiv macht und setzte auf abschreckung:
in stargard und cottbus herrschten katastrophale zustände, wie in jüdischen zeitungen berichtet wird. beschimpfungen, mißhandlungen, fehlende ärztliche versorgung, knappe nahrung und trinkwasser, briefzensur. bei dem brand einer baracke gab es mehrere tote, ist da zu lesen. kurz danach klagte der abgeordnete oskar cohn (uspd) im preußischen landtag die regierung an, statt der „größtmöglichen schieber“ den „proletarier, den arbeiter“ mit der internierung zu bestrafen; die ostjuden seien schließlich vor allem arbeiter, die sich im krieges für die deutsche wirtschaft eingesetzt hätten. sein antrag, die lager sofort aufzulösen, wurde abgelehnt. eine uspd-abgeordnete, mathilde wurm, besuchte ihrerseits stargard und berichtete, dass die meisten insassen ohne grund eines tages „aus ihren betten geholt, verhaftet und hierher gebracht“ worden waren worden; im lager gäbe es wanzen, kaum decken, die suppe bestünde aus „9/10 wasser, untermischt mit feischfasern und angefaulten kartoffeln“. naturgemäß anders ein preußischer kommissar: das essen sei „schmackhaft“, und „alles in allem läßt sich sagen, daß die sache außerordentlich aufgebauscht worden ist; sie soll offenbar zu politischen agitation von links ausgenutzt werden.“

tatsächlich waren es nur die uspd, die kpd und jüdische offizielle (u.a einstein), die sich für die auflösung der lager einsetzten, die dann ende 1923 wirklich abgeschafft wurden, allerdings nicht aus humanität, sondern weil sie zuviel kosteten. die hyperinflation hatte begonnen…

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foto: lager wünsdorf-zossen

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