leo tolstoi *9.9.1828
• christian morgenstern (notiz zu tolstoi) 1906:
Zu ganz Europen furchtlos redest du,
erzürnter Greis, und machst das stolze klein.
Wer wagt wie Du so nackte Worte sonst?
Wem strömt so eines Lebens ganze Kraft
in alles, was er spricht, daß ehrfurchtsvoll
der Gegner selbst bezwungen steht, gedenk
der eignen Schwäche vor so herbem Ernst?
Wer unter Lebenden ist heut wie Du
so großen Zorns, so großer Liebe voll!
• ludwig rubiner (vorwort tolstoi tagebücher) 1910:
Aber es ist nicht dies, daß der Leser vor einer Bühne sitzt, auf der ein schreckliches Drama sich abspielt und deren Anblick man mit beruhigten Nerven wegen der Unwirklichkeit aller ihrer Kämpfe wieder verläßt. Tolstoi, im Gegenteil, reißt uns in unsere fürchterlichste Wirklichkeit; nichts von unsern Krankheiten, von unsern Leidenschaften, von unsern Zweifeln wird uns erspart. Wir können uns auch keinen einzigen Augenblick unserer Lebensunsicherheit entziehen. Es ist nicht so, daß er allein unsere Kämpfe für uns ausficht, sondern fast jede seiner Zeilen stellt uns vor die Aufgabe, mitzukämpfen.
• kurt tucholsky (über gorkis tolstoi-porträt) 1922:
„Ich ging grade die Küste entlang zu ihm nach Gaspra, und hinter Jussupows Anwesen sah ich am Ufer zwischen den Steinen seine hagere, eckige Gestalt in einem grauen zerknitterten abgetragenen Rock und einem zerknüllten Hut. Er saß, den Kopf auf die Hände gelegt, der Wind blies ihm die Silberhaare seines Barts durch die Finger, er sah in die Ferne auf das Meer hinaus… Er erschien mir wie ein uralter, lebendig gewordener Stein, der Anfang und Ausgang aller Dinge weiß…“
So zu lesen in den ›Erinnerungen an Tolstoi‹ von Maxim Gorki. Über Tolstoi zu lesen, empfiehlt sich im allgemeinen nicht – die Leute lesen aus ihm heraus und in ihn hinein, und die neuem protestantischen Deutungsversuche, die ihn maßvoll und mit aller zuständigen Bewunderung zu beschreiben suchen, sagen auch nicht jedem zu… Aber diese paar Seiten Gespräche machen eine Ausnahme. … Es handelt sich um Tolstoi, dieses letzte Wunder einer kleinen Zeit. … Gott allein weiß, um was alles uns die übrigens guten Übersetzungen bringen. Es wird von ihm erzählt, wie gern er Karten spielte, und wie er doch bei allen Lebensverrichtungen der letzten Jahre der Erde etwas entrückt erschien, schon nicht mehr ganz dazu gehörte und darüber stand. Aber das hatte er ja, so sehr er mit ihr verknüpft gewesen war, eigentlich sein ganzes Leben hindurch getan. Denn um so weise zu sein, gemäßigte Bewundrer, muß man, von unten an, tierisch, menschlich, übermenschlich gewesen sein. Dann erst kam der Gott…“
foto: tolstoi mit tochter alexandra und freunden auf dem weg zur eröffnung der ersten bibliothek in jasnaja poljana 1910
tolstoi-werke online: http://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/tolstoi.html

