Intersexuelle Weltmeisterin 

erichshof bei bremen, 20. november 1918: „heini, es ist ein junge!“, ruft die hebamme heinrich ratjen durch die küchentür zu. gerade hat seine frau im nebenzimmer entbunden. kurz darauf korrigiert sie sich: „es ist doch ein mädchen!“. die eltern, sie haben bereits drei töchter, begutachten ihr neugeborenes, sind sich unsicher, aber vertrauen am ende auf das wort der hebamme. die meldet die geburt des mädchens beim amt an und es wird auf den namen dora getauft. als dora mit 9 monaten eine lungenentzündung bekommt, ruft heinrich ratjen den arzt und bittet ihn, sich bei der gelegenheit auch doras geschlechtsorgane anzusehen, weil er immer noch meint, dass mit denen nicht alles in ordnung sei. der arzt untersucht dora und gibt dem vater die auskunft: „dat loot man, dor kanns nix an mook’n!“… 

dora ratjen trägt also mädchenkleidung, besucht eine mädchenschule, wird anschließend packerin in einer tabakfabrik und tritt 1934 in den sportverein komet bremen ein. ratjen gehörte bald zu den besten hochspringerinnen, sie wird mehrfach „gaumeisterin“, dreimal in folge deutsche meisterin und ist damit auch eine der drei startberechtigten hochspringerinnen im deutschen olympiakader 1936 (anders als oft behauptet, ersetzte ratjen nicht die von den nazis am start gehinderte jüdin gretel bergmann, deren platz unbesetzt blieb, weil sie angeblich verletzt war). dora wird mit 1,58 meter vierte hinter ihrer mannschaftskollegin elfriede kaun. zwei jahre später die sensation: bei den europameisterschaften in wien holt sich dora ratjen nicht nur den titel, sie stellt mit 1,70 meter auch neuen weltrekord auf. gold für’s deutsche reich.

es ist der höhepunkt ihrer karriere. und das ende. auf dem rückweg von wien nach köln meldet ein schaffner der bahnpolizei, im zug sitze eine dame (graues jackenkleid an, fleischfarbene strümpfe, helle pumps), die sicher ein mann, bestimmt ein spitzel, sei. als der zug in magdeburg hält und ratjen sich auf dem bahnsteig die beine vertreten will, wird sie von einem polizisten aufgefordert, ihre papiere zu zeigen. der beamte bemerkt auch ihre behaarten hände und fordert sie auf, ihren koffen aus dem zug zu holen und ihm auf die wache zu folgen. ob sie mann oder weib sei, will er nun wissen. sie schweigt erst, und erklärt dann, nachdem ihre eine leibesvisitation angedroht wird, sie sei ein mann. so endet am 21. september 1938 um 12.15 uhr die 19 jahre währende geschichte der dora ratjen. und beginnt das weitere 70 jahre währende leben von heinrich „heinz“ ratjen.

ratjen wird festgenommen. die üblichen erkennungsdienstlichen fotos (u.a. das linke auf der montage) werden gefertigt. der polizeibericht spricht von “zweideutigen” genitalien bzw. der polizeiarzt davoin, dass ratjen „männliche genitalien, aber durch einen narbenstrang seit der geburt eine anatomische abweichung“ habe. nach berlin ergeht das telegramm: „die europameisterin im hochsprung ratjen, vorname dora, ist kein mädchen, sondern ein mann. bitte reichssportbehörde sofort in kenntnis setzen…“. ein riesenskandal. berlin reagiert sofort. man geht davon aus, dass dora bewusst betrogen hat, nimmt ihr zuerst einmal die goldmedaille weg, die sie in wien gewonnen hat, veranlasst weitere untersuchungen und leitet ein ermittlungsverfahren ein. tatzeit: „1934 bis 1938“. geschädigter: „das reich“. für die öffentlichkeit ist der fall, nachdem einige tageszeitungen ratjens disqualifikation gemeldet hatten, tabu; am 12. oktober ergeht die anweisung, dass über dora ratjen in der presse nicht mehr berichtet werden solle.

ratjens vater und sie/er selbst werden befragt. der vater erklärt, dass „dora (…) im stehen kein wasser lassen könne“ und dora, dass ihr in der pubertät zwar barthaare statt brüste gewachsen seien und der stimmbruch eingesetzt hätte und ihr irgendwie bewußt geworden sei, dass sie kein mädchen war, aber ihre umgebung sie weiter als solches behandelt habe und sie ihre eltern aus scham niemals gefragt habe, warum sie frauenkleider tragen müsse. auch von ihren freunden will keiner mitbekommen haben, dass sie kein mädchen sei. ihre sportkameradinnen, elfriede kaun und gretel bergmann, werden jahrzehnte später angeben, sie hätten sich zwar gewundert, dass dora sich unter der dusche nie nackt zeigte, hätten dies das aber auf schüchternheit oder ein übertriebenes schamgefühl zurückgeführ und dora allenfalls etwa „schräg“ gefunden.

schließlich wird das verfahren wegen betrugs 1939 eingestellt, weil bei dora keine absicht festgestellt werden konnte, „sich einen vermögensvorteil zu verschaffen“ und weil sie, so der staatsanwalt „zu keinem zeitpunkt einen entsprechenden hinweis erhalten habe und beschäftigung und umgang der einer frau gewesen sei“.
ratjen werden alle titel und rekorde und das startrecht aberkannt (offiziell wegen „verstoßes gegen das amateurstatut“) und sie aufgefordert, ihr geschlecht und den namen amtlich zu ändern. ratjens vater wehrt sich erst, er fürchtet die schande in der öffentlichkeit nicht ertragen. aber es hilft nichts. auch offiziell wird aus dora ein mann und der erhält den vornamen heinrich und nennt sich später heinz. 

wir wissen nicht, wie heinrich ratjen in seinem neuen leben und mit seiner neuen (alten) identität zurecht gekommen ist. es ist nicht viel bekannt über ihn. er wurde  von seiner familie getrennt und an den arbeitsdienst in hannover vermittelt, später zur wehrmacht eingezogen, arbeitete nach dem krieg in bremen in der gastwirtschaft seiner eltern und starb hochbetagt 2008. seine enttarnung hat er jedenfalls als befreiung empfunden. er habe diesen moment schon seit längerer zeit erwartet, und sei froh, dass jetzt „alles zum klappen kommt“, also alles rauskäme – so hatte er es der polizei erklärt. 

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