Herr Achtelnote

claude debussy *22. august 1862
hier spricht sein alter ego, der antidilettant und musikkritiker „monsieur croche“ (herr achtelnote):

Ich werde versuchen, in den Werken die vielfältigen Antriebe aufzudecken, aus denen sie entstanden sind, und das, was sie an innerem Leben besitzen; ist das nicht viel interessanter als das Spiel, sie auseinanderzunehmen wie eine kuriose Art von Taschenuhren? – Man kann wohl sagen, daß eine merkwürdige Zwangsvorstellung die zeitgenössische Musikkritik dazu reizt, das Geheimnis oder ganz einfach die Gefühlsbewegung eines Werkes zu erklären, auseinanderzunehmen und kaltblütig zu ertöten. […]

In den letzten Wochen gab es eine Invasion deutscher Dirigenten. Das ist zwar weniger ernst als eine Epidemie, aber viel geräuschvoller. Wenn die Herren wenigstens etwas Neues in ihren Programmen mitbrächten, wäre es noch interessant; aber keineswegs, es ist der alte sinfonische Bestand, der herkommt, und wir werden den üblichen Vorführungen, wie man auf verschiedene Arten die Sinfonien Beethovens dirigiert, beiwohnen. […]

[…] Herr Weingärtner […] dirigierte zuerst Beethovens Pastoralsinfonie mit der Sorgfalt eines ängstlichen Gärtners. Jede Raupe war peinlichst entfernt worden. […]

Die Volkstümlichkeit der Pastoralsymphonie beruht auf einem ziemlich weit verbreiteten Mißverständnis der Menschen gegenüber der Natur. Sehen Sie sich die Szene am Bach an: Es ist ein Bach, aus dem allem Anschein nach Kühe trinken (jedenfalls veranlassen mich die Fagottstimmen, das zu glauben), ganz zu schweigen von der Nachtigall im Wald und dem Schweizer Kuckuck, die beide besser in die Kunst von Jaques de Vaucanson passen als in eine Natur, die diesen Namen verdient. All das ist sinnlose Nachahmerei oder rein willkürliche Auslegung.  Um wieviel tiefer drücken doch andere Partiturseiten des alten Meisters die Schönheit einer Landschaft aus, ganz einfach weil es keine direkte Nachbildung mehr gibt, sondern gefühlsmäßige Übertragung des ‚Unsichtbaren’ in der Natur. Faßt man das Geheimnis eines Waldes, indem man die Höhe seiner Bäume mißt? Regt nicht vielmehr seine unergründliche Tiefe die gestaltende Phantasie an? […]

Haben Sie schon einmal die Feindseligkeit des Publikums im Konzertsaal bemerkt? Haben Sie sich je diese Gesichter angeschaut, grau vor Langeweile, Gleichgültigkeit, ja Stumpfsinn? Niemals werden sie jene reinen Dramen miterleben, die sich im symphonischen Konflikt abspielen, wo man die Möglichkeit erahnt, zum Gipfel des Klanggebäudes emporzusteigen und dort die Luft der vollkommenen Schönheit zu atmen. Diese Leute, mein Herr, wirken immer wie mehr oder weniger gut erzogene Gäste: Sie erfüllen geduldig ihre langweilige Pflicht und harren nur deshalb aus, weil sie am Ausgang gesehen werden wollen; warum wären sie sonst gekommen? […]

Sehen Sie, einige große Männer bringen mit geradezu hartnäckigem Starrsinn immer wieder Neues hervor; viele andere dagegen tun fortwährend und ebenso hartnäckig immer nur das, womit sie einmal Erfolg hatten: Ihre Geschicklichkeit lässt mich kalt. Man rühmt sie als Meister! Aber das ist nur eine höfliche Art, sie sich vom Hals zu schaffen, oder ihnen ihre allzu gleichförmigen Kunstgriffe nachzusehen. Auf jeden Fall versuche ich, die gängige Musik zu vergessen, weil sie mich daran hindert, jene zu hören, die ich noch nicht kenne oder erst morgen kennen werde. Warum sich an das halten, was man nur zu gut kennt? […]

Die Musik ist eine Summe zerstreuter Kräfte. Man macht daraus ein theoretisches Geschwätz. Ich habe die paar Flötentöne eines ägyptischen Hirten lieber; er ist eins mit der Landschaft und hört Harmonien, von denen in euren Abhandlungen nichts steht. Die Musiker hören nur die Musik, die von geschickten Händen geschrieben wurde, niemals aber die, welche der Natur innewohnt. Den Anbruch des Tages zu erleben ist nützlicher, als die Pastoralsinfonie zu hören. […]

Die Musik ist eine geheimnisvolle Mathematik, deren Elemente am Unendlichen teilhaben. Sie lebt in der Bewegung des Wassers, im Wellenspiel wechselnder Winde; nichts ist musikalischer als ein Sonnenuntergang! […]

Wer wird das Geheimnis der musikalischen Komposition ergründen? Das Rauschen des Meeres, der Bogen des Horizonts, der Wind in den Blättern, ein Vogelruf hinterlassen in uns vielfältige Eindrücke. Und plötzlich, ohne daß man das mindeste dazutut, steigt eine dieser Erinnerungen in uns auf und wird zur musikalischen Sprache. Sie trägt ihre Harmonie in sich selbst. Welche Anstrengung man auch unternähme, man wird keine stimmigere finden und auch keine wahrere. Nur auf diese Weise macht eine Seele, die sich der Musik verschrieben hat, ihre schönsten Entdeckungen. […]

Ich weiß wahrhaftig nicht, was der arme Monsieur Croche unter so vielen hochnäsigen Spezialisten anfangen soll. Ich habe gute Lust, Ihnen mit folgender Anzeige seinen Tod zu melden: Monsieur Croche, der Antidilettant, zu Recht angewidert von den musikalischen Sitten dieser Zeit, ist sanft entschlafen und in die allgemeine Gleichgültigkeit eingegangen. Es wird gebeten, von Blumen und Kranzspenden abzusehen und vor allem keine Musik zu machen.[…]

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