16. januar 1632: rembrandt van reijn wohnt einer obduktion bei und malt anschließend die „anatomie des dr. tulp“
anatomische demonstrationen fanden im 17. jahrhundert nur im winter statt, wenn die kälte die verwesung etwas verzögerte und sich der geruch mit kräutern und weihrauch noch gut überdecken ließ. die vorführungen waren große spektakel, bei denen gegessen, getrunken und musik gespielt wurde, und sie zogen nicht nur fachleute und honorationen an, sondern schaulustige aller art, die gegen ein eintrittsgeld zuschauen durften. auch an diesem tag dürften im „theatrum anatomicum“ sehr viel mehr leute anwesend gewesen sein als die acht abgebildeten herren der amsterdamer chirurgengilde (deren namen auf dem blatt stehen, das einer von ihnen in der hand hält). doch auf sie kam es an. der behutete mann im zentrum, dr. nicolaes tulp, der anatomie-dozent und bürgermeister von amsterdam, ein bekannter arzt und chirurg, hatte das gruppenbild bei dem jungen maler, der seit einem jahr in der stadt lebte, in auftrag gegeben. er wollte ein statussymbol, das das selbstbewusstsein seiner zunft demonstrieren und im versammlungssaal der gilde hängen sollte, der sich im selben gebäude befand wie das anatomische theater.
rembrandt gruppiert die männer dann auch genial, und in einer ausgeklügelten lichtkomposition, die vor allem den toten körper auratisch leuchten lässt. bei dem leichnam soll es sich (was inzwischen bezweifelt wird) um den 28-jährigen korbmacher adriaan adriaansz, genannt aris kindt, gehandelt haben, einen stadtbekannten straßenräuber, der wegen versuchten raubmordes gehenkt worden war. anders als in der realität – wo die abfolge der sektionen genau festgelegt war und als erstes der bauch, dann der brustkorb und dann der schädel geöffnet wurde, um die am schnellsten verwesenden eingeweide auszuräumen, und man als letztes die gliedmaßen seziert hat – beginnt dr. tulp auf dem bild mit dem unterarm und der hand des delinquenten, und erläutert seinen kollegen offenbar die skelettmuskulatur. vielleicht eine verbeugung vor der neuen kunst der anatomie oder weil die hand als der vortrefflichste teil des menschlichen körpers gilt.
es gibt etliche aufsätze (meist von medizinischen laien) darüber, ob diese hand und die muskeln anatomisch korrekt oder nicht dargestellt sind (und spekulationen dazu, ob dies vorsätzlich und wenn ja, warum geschehen ist). die einen behaupten, die hand sei im vergleich zur rechten „grotesk disproportioniert“ oder die lage der sehnen würde so nur bei einer rechten hand aussehen oder der angehobene muskel müsste eigentlich auf der innenseite des ellenbogens beginnen usw. meist wird zum vergleich der holzschnitt „andreas vesalius als anatom von arm und hand“ von 1542 herangezogen, der rembrandt als vorlage gedient haben soll. und man geht davon aus, dass sich auch tulp und zeitgenossen an vesalius lehrbüchern und an zeichnungen des anatomen julius casserius orientiert haben, die in anatomischen atlanten zu finden waren, wie dem, der rechts auf dem gemälde zu sehen ist.
2006, zu rembrandts 400. geburtstag, haben handchirurgen erstmals einen gleichen unterarm auf die gleiche weise seziert und ein gelasseneres urteil gefällt. sie stellten vier anatomische unterschiede fest, die sie aber als geringfügig bewerteten und die auch mit übermalungen zusammenhängen können (rembrandt hat den rechten arm, der ursprünglich als amputationsstumpf dargestellt war, später übermalt, wobei er kürzer als der linke wurde; der linke lag hingegen ursprünglich höher usw). und sie wiesen daraufhin, dass keines der gemälde der chirurgengilde die anatomische gegebenheiten exakt darstellt und alle im nachhinein aus dem gedächtnis gemalt wurden, rembrandts arbeit jedoch zunächst realistisch wirke.
kunsthistoriker betten rembrandts inszenierung in den beginn einer funktionalen medizin und naturwissenschaft ein. er lebte ja in einer umbruchzeit, der zeit galileo galileis und francis bacons – beobachten, experimentieren, analysieren und „selbst sehen« (autopsía) hießen die neuen devisen. manche behaupten, auch der philosoph rené descartes sei an diesem 16. januar im anatomischen theater anwesend gewesen. er beschäftigte sich selbst mit studien an tierkadavern, wobei er seele und körper auseinanderdividierte, das fleisch als unbegreiflich und den menschen als maschine ansah, die man – auch wenn gar kein geist in ihr existiert – verstehen, benutzen und gegebenfalls reparieren oder wegwerfen könne. in der empathischen art, in der rembrandt den toten gemalt hat, sah schon simmel einen gegensatz zu diesem ansatz; anders als descartes habe rembrandt den körper als eine einheit von leib und seele verstanden. oder wie es viel später herr nietzsche formuliert hat: „wir sind keine denkenden frösche, keine objektivier- und registrier-apparate mit kaltgestellten eingeweiden – wir müssen beständig unsere gedanken aus unserem schmerz gebären und mütterlich ihnen alles mitgeben, was wir von blut, herz, feuer, leidenschaft, qual, schicksal, verhängnis in uns haben.“ wir können nicht wissen, was der maler, der da ja erst 25 jahre alt war, wirklich gedacht hat. „die anatomie des dr. tulp“ gehört in jedem fall bis heute zu seinen beeindruckendsten bildern.

