Der Ringer und „Kran“ von Schifferstadt


Wilfried Dietrich wird am 14. Oktober 1933 in dem kleinen pfälzischen Städtchen Schifferstadt geboren. Er ist kein sonderlich guter Schüler und selbst bei „allgemeiner körperlicher Leistungsfähigkeit“ steht 1948 auf seinem Abschlusszeugnis eine Drei. Wilfried weiß nicht so recht, was er mit sich anfangen soll, vielleicht sollte er LKW-Fahrer werden; sein Vater hat einen kleinen Fuhrbetrieb. Aber dann kommt es anders. Mit 18 kommt er eher zufällig zum Ringen, tritt in einen Verein ein und wechselt bald ins Saarland, weil der dortige Verein ihm einen Job besorgt hatte. So tritt Wilfried Dietrich zunächst für Frankreich an und siegt. Nach einem Jahr kehrt er zurück zum VfK Schifferstadt, man hatte ihm eine Arbeit in Ludwigshafen als Kranführer verschafft.

Wilfried Dietrich ist ein Ausnahmetalent und sein Aufstieg als Ringer kometenhaft. Als 1955 in Karlsruhe die Weltmeisterschaften ausgetragen werden, setzt man den jungen Sportler – 1,84 Meter groß, 115 Kilo schwer – ein und er belegt auf Anhieb den sechsten Platz. Im selben Jahr startet er zum ersten Mal bei Deutschen Meisterschaften und holt sofort den Titel. Im Jahr darauf Olympische Spiele in Melbourne: Silbermedaille, und allmählich wird der Ort Schifferstadt auch im Ausland bekannt. 1959 holt Dietrich für seinen Verein die erste deutsche Mannschaftsmeisterschaft, ein Jahr später gleich in zwei Stilarten – Freistil und griechisch-römisch – Gold und Silber bei der Olympiade in Rom. Seine große Fan-Gemeinde dankt es ihm mit dem Beinamen „der Kran“ von Schiffstadt und der Stadtrat mit einem Bauplatz. Dietrich baut also ein Haus in Schifferstadt (wird zwischendurch in Yokohama Weltmeister) und seine Frau Gerda eröffnet einen Friseursalon und kümmert sich um Töchterchen Isabella. Denn Vatervater Dietrich ist quasi ständig unterwegs und eilt von Sieg zu Sieg.

Aus Ausgleich zum Ringen (züchtet er Brieftauben und) hebt er Gewichte – und wird 1961 auch noch Zweiter im Schwergewicht bei den Deutscher Meisterschaften im Gewichtheben. Im Ringen aber ist Dietrich die Nummer Eins. In Deutschland hat ihn in 27 Jahren nicht ein einziger Gegner regulär bezwungen. Dietrich tritt immer in der höchsten Gewichtsklasse – Schwer- bzw. Superschwergewicht – an. Zwischen 1951 und 1977 gewinnt er insgesamt 30 Deutsche Meisterschaften und bei fünf Olympischen Spielen fünf Medaillen. 1968 in Mexiko-Stadt trägt er auch die Fahne der deutschen Mannschaft bei der Eröffnungsfeier der Spiele ins Stadion.

Aber dann landet der stärkste Mann der Welt seinen größten „Coup“, der ihn unsterblich machen wird: Bei seinen letzten Olympischen Spielen 1972 in München bleibt der nun fast 40-jährige Wilfried Dietrich zwar ohne Medaille. Doch ein sensationeller Schultersieg macht ihn nun auch unter Laien zur Legende: Sein Gegner ist der Amerikaner Chris Taylor, ein „Brocken“ – vier Zentner schwer, zwei Meter groß. Dietrich wiegt knapp einen Zentner weniger und ist einen Kopf kleiner. Doch er ist schließlich der „Kran“. Der Kampf hat kaum begonnen, als er seinen Gegner an der Taille packt, es schafft, hinter dessen gewaltigen Bauch und Rücken zwei Finger zu verhaken, ihn in die Luft zu heben, ins Hohlkreuz und auf die Zehenspitzen zu gehen, während Taylor hilflos wie ein Maikäfer auf seiner Brust strampelt, und ihn schließlich über seinen Kopf nach hinten fallen zu lassen. Eine atemberaubende Aktion. David gegen Goliath. Das Bild wird zur Ikone, zum „Wurf des Jahrhunderts“ und dürfte wohl in jedem Ringer-Lehrbuch der Welt abgedruckt sein…

Wilfried Dietrich beendet 1977 seine aktive Laufbahn, tingelt noch etwas als Show-Catcher durchs Land und wandert Ende der 1980er Jahre mit seiner zweiten Frau Helga nach Südafrika aus. Doch Englisch kann er nicht und heimisch wird er hier nicht. Wilfried Dietrich stirbt 1992 mit nur 58 Jahren unerwartet in Durbanville an einem Herzinfarkt. Beigesetzt ist er in seiner pfälzischen Heimat. Im Jahre 2008 wurde der Ausnahmeringer in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen (2014 in die International Wrestling Hall of Fame) und ersteigerte sein Bruder seinen sportlichen Nachlass, der den Grundstein für das Ringermuseum in Schifferstadt bildete, das leider Ende 2019 so schwer von einem Wasserschaden getroffen wurde, dass es schließen musste und nun neue Räumlichkeiten sucht.

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