Hausgeschichten

Kirchstraße 33/34, Berlin Charlottenburg

Neben der Schlossstraße ist die Kirchstraße (heute Gierkezeile) eine der ersten, die von Stadtbaumeister Eosander von Göthe rund um die Luisenkirche angelegt wurde und die das alte Charlottenburg bildeten; man findet sie schon auf einer Karte von 1719, während rundherum noch Äcker und Wälder zu sehen sind; die Einwohnerzahl des Städtchen lag zu dieser Zeit bei 1000 Personen, hundert Jahre später waren es dann etwa 6000, aber sehr viel mehr Sommerfrischler, die aus Berlin zu Besuch kamen. Anfangs mit dem Schiff auf der Spree, ab 1865 mit der ersten Pferdeeisenbahn und ab 1877 gab es auch die S-Bahn-Station Westend, später noch ergänzt durch Untergrund- und Straßenbahn.

Die Kirchstraße, die vor 1824 Brettergasse hieß, war eine der zentralen Straßen. Hier entstand ab 1795 die erste Schule und ab 1865 das erste Krankenhaus Charlottenburgs, das sich schnell als zu klein erwies, so dass es erweitert und während der Cholera- und Pockenepidemie 1870/71 auch das Mädchenschulhaus in der Kirchstraße in ein Choleralazarett umgewandelt werden musste. Während dieser Zeit begann auch die Pflasterung der Straßen, deren Beleuchtung mit Gaslaternen und die sukzessive Bebauung mit Mietskasernen nach den Plänen des Regierungsbaumeisters James Hobrecht, einhergehend mit dem Abriss kleinerer Häuser und Scheunen, dem Zuzug vieler Menschen im Zuge der beginnenden Industrialisierung und dem Umstand, dass die Charlottenburger Bauern und Ackerbürger ihre Äcker nun als Bauland verkaufen durften, es taten und damit steinreich wurden.

1894 wurde die erste öffentliche Bedürfnisanstalt bei uns um die Ecke (mit acht Spülklosetts), am Wilhelmplatz (Richard-Wagner-Platz), schließlich war hier Markt, eingeweiht. Im Januar 1898 bekam auch die erste »Städtische Volksbibliothek und Lesehalle« Charlottenburgs ihr Domizil bei uns in der Kirchstraße 4/5 und wurde die »Volksbadeanstalt« in der Krumme Straße eingeweiht, mit Wannenbädern und Brausezellen für die vielen Anwohner, die kein warmes Wasser und schon gar keine Wanne zu Hause hatten (ein Wannenbad kostete 25, ein Brausebad 10 Pfennige). Im gleichen Jahr, die Stadt hatte inzwischen 250 000 Einwohner und Herr Schustehrus war Bürgermeister, begann auch der Bau unseres Hauses, auf einem Grundstück, auf dem vorher zwei kleine Häuser gestanden hatten, daher die Nummerierung 33/34 (dass wir heute in Nr. 36 wohnen ist den Bombenlücken weiter hinten in der Straße geschuldet). Baumeister war Robert Glasenapp, der auch das Nebenhaus (Nr. 38) und weitere Häuser in der Umgebung gebaut hat, sie aber anschließend immer gleich wieder weiter verkaufte, in unserem Fall an die Berliner Actiengeselleschaft »Loewe & Co« (1904 weiterverkauft an S. Zauber, geborene Kühn, und 1906 dann an Dr. Emil Kühn, der selbst auch im Haus wohnte.

Auf unserem Grundstück befanden sich vorher eine Seilerei, drei kleine Wohnhäuser, ein Schuppen, ein »Abtritt« und ein Garten. Die Fassade des Neubaus hat sich bis auf das Dach, das spitz zulief, kaum geändert. Von Anfang an waren auch die Läden, drei große Fenster links, zwei rechts im Bauplan. Bäder und Mädchenzimmer gab es nur im Vorderhaus, wo sich die Wohnungen wie heute bis zur Treppen in den Seitenflügel erstreckten. Von dort bis zur Treppe im Hinterhaus befanden sich jeweils zwei kleine Wohnungen. Wo sich ein Klo auf dem Hof befand oder ob die Fassade, wie ein Architekt vermutet, noch mal verändert wurde, war nicht mehr festzustellen.
In der Bauakte befindet sich eine rege Korrespondenz des Baumeisters Robert Glasenapp mit den Behörden, betr. Mängelbeseitigung, Nachtragszeichnungen, Stuck-Attest, Feuersicherheit, Be- und Entwässerung etc, die sich von 1897 bis 1900 erstreckt, als die ersten Bewohner einzogen.

Ausgangspunkt für die Suche nach diesen frühen Bewohnern unseres Hauses waren die etwa 160 Namen und Berufsangaben, die wir in den Berliner Adressbüchern für die Zeit vom Bau unseres Hauses 1898/99 und bis 1943, als das letzte vollständige Adressbuch erschien, als Bewohner der damaligen Kirchstraße 33/34, der heutigen Gierkezeile 36, ausfindig gemacht haben, und die hier – einige nur kurz, anderen über Jahrzehnte – aus den selben Fenstern geguckt haben wie wir.Klar ist, dass die vielen einfachen Leute, die das Gartenhaus und die Seitenflügel bevölkert haben, kaum auffindbare Spuren hinterlassen haben. Wir haben Schneidermeister, Kutscher, Wagenführer, Schlosser usw. Traurig ist im übrigen, dass in den Adressbüchern immer nur die Männer – die Haushaltsvorstände – genannt werden, und ihre Frauen erst auftauchen, wenn die gestorben sind.

Wenn es jüdische Bewohner in einem Haus gegeben hat, ist die Suche auch bei den »einfachen Leuten« oft einfacher, weil sich in den letzten Jahrzehnten durch die Stolperstein-Initiativen schon viele Leute mit ihren früheren Nachbarn befasst haben. Das letzte Jüdische Adressbuch von 1931 weist auch 14 jüdische Familien in der Gierkezeile auf (Ernst Spiegel, Hedwig Markiewitz, Arpad Biro, Heinrich Tondowski, Julius Simon, Moses Aseff, Leonhard Ehrlich, Alfred Rosenthal, Wilhelm Albinus, Dr. Auguste Braun, Paul Jarosch, Marie und Margarete Friedländer, Heimann Kaliski und Rubin Dreifuss); die Synagoge Charlottenburgs war 1889 in der Schulstraße (Behaimstraße) gebaut worden, und in unserer Straße befand sich 1942 neben dem ehemaligen Krankenhaus eine Deportationssammelstelle. In unserem Haus gab es nach unserer Kenntnis jedoch keine Bewohner, die deportiert wurden.

Oder man hat Glück wie wir und findet den einen oder anderen Namen in der Bauakte wieder, wie den von Herrn Schiffmann, einem Hilfsarbeiter, der 1928 in einem Schreiben des Hausverwalter erwähnt wird: »Wir wenden uns nochmals an die Städtische Baupolizei mit folgendem Antrage: Wir teilten am 26. Juni d.J. mit, dass der Grenzzaun unseres Grundstücks Kirchstraße 33/34 baufällig sei, und baten, den Besitzer des Grundstücke Wilmersdorfer Straße 13, nach dessen Seite hin die Zaunpfähle standen, zu veranlassen, den Zaun Instandzusetzen. Inzwischen ist der Zaun zusammengebrochen und verschwunden. (…) Augenblicklich ist behelfsmäßig von unserem Parterremieter Schiffman zwischen den Grundstücken ein Drahtzaun gezogen worden, damit ihm seine Hühner nicht abhanden kommen. Dies kann aber keinesfalls ein Dauerzustand sein. (…) Hochachtungsvoll!« Wir wissen nicht, wie die Sache mit den Hühnern ausging, aber Familie Schiffmann ist Rekordhalter in punkto Wohndauer im Haus. Sie hat von 1900 bis mindestens 1949 hier gelebt.Da die Datenlage aber bei vielen Bewohnern unergiebig ist, haben wir bei Personen »angedockt«, die irgendwelche Alleinstellungsmerkmale hatten, Titel oder eher seltene Berufe. Wir haben z.B. einen Bildhauer, einen Schriftsteller, einen Oberstabsarzt, diverse Studienräte und Doktoren auf der Liste. Solche prominenten Koryphäen auf ihrem Gebiet, dass sie es bis irgendwo ins Internet geschafft hätten, waren die meisten aber offenbar nicht, zumindest haben wir sie nirgendwo außerhalb des Adressbuches und mit ihren standesamtlichen Geburts-, Heirats- oder Sterbeurkunden finden können.

Einige aber doch. Der wie viele Berliner aus Schlesien stammender Vincenz Klimke beispielsweise hat schon am Deutsch-Französischen Krieg 1871 teilgenommen, war Secretär bei der Marine, ging dann nach Berlin und wurde in der Zeit, in der er ab 1907 hier im Haus mit seiner Familie wohnte, noch zum Geheimen (also zum Obersten) Regierungs- und später Rechnungsrat ernannt. Nachdem er 1919 gestorben war, lebte seine Witwe Isabella, die aus Nordungarn stammte, noch sechs Jahre im Haus; auch beider Töchter, Hedwig und Valerie, die neun und elf Jahre alt waren, als sie in die Kirchstraße einzogen, sind hier aufgewachsen. Eine ist 1948 gestorben, die andere hat mindestens bis 1980 noch in Charlottenburg gelebt.

Unser Ex-Nachbar Michel Gibbens aus Ostpreußen, der mit Frau und Sohn seit 1903 im Parterre gewohnt hat, war wiederum Schankwirt und hat außerdem mit Kohlen gehandelt – vielleicht sogar hier im Haus. Bier ausgeschenkt hat er woanders, aber nach seinem Tod 1927 hat sein Sohn am Stuttgarter Platz 20 mindestens zehn Jahre lang einen Kneipe betrieben, und die kennen wir alle, es ist das leider seit Corona geschlossene legendäre »Lentz« (vor 1983 »Schultheiss-Stuben«). Zwei Kneipenwirte im Haus, das ist doch schon mal sehr sympathisch!

Der Dampfkesselheizer Franz Liese mit seiner Familie wohnte auch über 20 Jahre im Haus. Die Familie hat schlimme Schicksalsschläge erlitten, erst starb ihr Töchterchen mit knapp zwei Jahren, dann wurde der Mann der zweiten Tochter als »Landsturmmann« ein Opfer des Ersten Weltkriegs und dann starb auch auch noch ihr Sohn, drei Jahre nach seiner Hochzeit mit 24 Jahren in der »Irrenanstalt«.Oder Gustav Pagel. Er war Witwer mit einer Tochter, als er 1900 hier in den Neubau einzog. Seine erste Frau ist mit 34 Jahren im Jahr zuvor gestorben. Sie hatten auch einen Sohn, der aber nur drei Wochen alt wurde und eben diese Tochter, Hulda, die zehn war, als die Mutter starb. Entweder ist Pagel also mit ihr hier eingezogen oder er hat sie in Pflege gegeben, vielleicht zur Frau seines Bruders, die um die Ecke in der Cauerstraße wohnte, oder zur Schwester seiner verstorbenen Frau, die er 1905 dann auch geheiratet hat, nachdem er 1904 hier wieder ausgezogen ist, aber nur ein paar Häuser weiter, zum Luisenplatz (Gierkeplatz) 4, wo die Schwester seiner Frau lebte. Sie war vorher schon mal verheiratet, hatte einen Sohn, der zwei Jahre jünger war als seine Tochter, und hat nach Gustav Pagels Tod 1924 noch einmal geheiratet.

Auch andere haben sich nicht groß außerhalb unseres Kiezes bewegt. Emil und Emilie Böttcher, er ein Schuhmacher, sie eine Witwe mit Tochter, hatten beispielsweise vor ihrer Heirat um die Ecke in der Schloss- bzw. Christstraße gewohnt, waren dann in die Krumme Straße und nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Bruno 1909 in unser Haus gezogen. Emil ist im Ersten Weltkrieg 1915 gefallen und Emilie blieb mit ihrer 21-jährigen Tochter und dem nun 10-jährigen Sohn allein. Sie hat mindestens bis 1943 noch hier im Haus gewohnt; die Tochter Else ist irgendwann ins Nebenhaus umgezogen und hat 1918 den Fleischermeister Berhard Oskar Leik geheiratet – ihren eigenen Onkel! Der Sohn Bruno ist auch nur bis zur Knobelsdorffstraße gekommen, hat dann eine Charlotte aus der Röntgenstraße geheiratet. Und der Vater unseres Emil Böttchers – Ferdinand, der Königliche Lokomotivführer – hat, vor seinem Tod 1936 mit 93 Jahren – auch bei ihnen, also bei seinem Enkel und dessen Frau, gewohnt, den den Krieg beide überlebt haben.

Ein anderer »kleiner Fisch« im Haus war der Malermeister Paul Fiering mit seiner Frau Anna (die aus erster Ehe schon vier Kinder hatte; ihr Mann war im 1. Weltkrieg gefallen) und ihren gemeinsamen Kindern, Hertha, die mit 30 Jahren hier im Haus starb, sowie Werner, der wiederum zum »Rennfahrerverein Panne Neukölln« gehörte, dessen Geschäftsstelle ab 1941 hier bei ihm im Haus registriert war. Der Verein hieß vorher »Fichte Neukölln«, gehörte zu den KPD-nahen »Rote Rennradlern« und war zu Beginn der Nazizeit zur Tarnung mit der »Rennfahrer-Vereinigung Luisenstadt 18.18« (Mitte) fusioniert, um nicht verboten zu werden.
Fusioniert haben auch die Familien des Gepäckträgers und Reichsbahnarbeiters Heinrich Sollich, der eine Martha Waag geheiratet hat, deren Mutter Minna wiederum den ebenfalls in unserem Haus wohnenden Kohlenarbeiter Hermann Raue, der zwei Kinder aus erster Ehe mitbrachte und vorher in der Kirchstraße 16 wohnte, geheiratet hat. Eines der Kinder, die Tochter Ella, heiratete 1925 den Konditorgehilfen Karl Stake aus Hannover, der 1940 wegen Arbeitsverweigerung in »Schutzhaft« genommen wurde und wegen 22 Vorstrafen (Betteln und Wucherei) zu zwei Jahren Gefängnis und drei Jahren Arbeitshaus verurteilt, am 12. Juli 1941 vom KZ Dachau ins KZ Buchenwald verlegt wurde und dort am 4. September 1941 verstorben ist.

Lange im Haus – seit den 1920-er Jahren und sogar noch bis in 60er – gelebt hat die Familie Petrick. Der Wäschereibesitzer Petrick hat seine Wäscherei und Plättnerei erst nebenan und nach dem Krieg hier in beiden Läden im Parterre betrieben und er hat sich ordentlich Ärger mit den Bewohnern des Vorderhauses eingefangen, weil die sich durch das Motorengeräusch und den scharfen Laugen- und Chlorgeruch belästigt fühlten, was gar zu Polizeiuntersuchungen führte…

Schön wäre natürlich zu wissen, was noch so in den beiden Läden im Parterre war. Ganz am Anfang hatten offenbar die Erben eines Emil Ruppin eine Colonialwarenhandlung im Parterre. Aus der Bauakte wissen wir, dass Anna Korell ab 1912 (eventuell bis 1935) im Erdgeschoss in einem der Läden mit Zugang zum Keller eine Seifenhandlung hatte. Wahrscheinlich wurde der zweite Laden von Alice Riewe übernommen, die als Händlerin von Fleischwaren, Lebensmitteln und Milch, von 1925 bis 1934 im Adressbuch steht; von ihr wissen wir, dass ihr Mann Gärtner und sie Mutter von fünf Kindern war, die alle hier in Charlottenburg geboren wurden. Und vermutlich wurde die wiederum von Bertha Korittke abgelöst, die nach ihr als Kolonialwaren- und Milch-Händlerin im Haus verzeichnet ist. Bei ihr fanden wir besonders tragisch, dass sie mit 26 ihren Mann verloren hat – elf Tage nach der Hochzeit, wie es seiner Sterbeurkunde aus dem Virchow-Krankenhaus zu entnehmen ist.

Gertrud Müller wiederum taucht im Adressbuch gar nicht auf, war aber im Haus »aktiv«, laut eines Schreibens vom Aufsichtsamt Charlottenburg 1924: »Bei der Firma Gertrud Müller, Konfitürenfabrik, Kirchstr. 34, werden in einem ganz unter der Straßensohle gelegenen Keller mehrere Arbeiter beschäftigt. Da der Raum anscheinend zum dauernden Aufenthalt von Menschen nicht zugelassen ist ersuche ich ergebenst das Weitere zu veranlassen und mir hiervon Kenntnis zu geben.«Ein Jahr später bittet Gertrud Müller um die Erlaubnis, Schilder an den Pfeilern neben den Läden anzubringen, der Skizze nach sollte um die großen Fenster im Erdgeschoss herum Werbung für Zahnersatz, Zahnbehandlung, Plomben usw. angebracht werden.

Wir haben auch einen ganzen Packen Heirats-, Geburts- und Sterbeurkunden von anderen Ex-Bewohnern gefunden (und wer behauptet, unsere Handschriften wären vom Gebrauch digitaler Geräte gruslig geworden, sollte sich die unglaublichen Sauklaue früherer Schreiber mal angucken). Und außerdem hätten wir Lust, die beiden Eltern zu prügeln, die ihre zehn Söhne Theodor Carl Albert, Wilhelm Hermann Albert, Theodor Karl Hermann, Theodor Karl Albrecht Hermann, Hermann August Wilhelm, Alfred Carl Albert, Wilhelm Hermann Albert, Emil Hermann Albert, Fritz Wilhelm Paul und Fritz Wilhelm Franz genannt haben. Als wenn da einer am Ende noch durchblicken würde! Aber das nebenbei.
Zu den mittelgroßen »Fischen« gehört Karl Mathes Unterberger, der mit seiner Frau Hermine den Großteil seines Lebens in Charlottenburg verbracht hat, und über den es Urkunden und amtliche Mitteilungen gibt, wann er jeweils vom Hilfs-, zum Oberlehrer und dann zum Professor ernannt wurde, nämlich am hiesigen Schiller-Realgymnasium, das erst kurz bevor er 1891 dort angefangen hatte, gegründet worden war. Seine Tochter, die hier im Haus aufgewachsen ist, ist noch fünf Tage vor Kriegsende in einem kleinen Ort in Brandenburg, wohin sie offenbar geflohen war, »gefallen« – so der NS-Jargon in der Sterbeurkunde; vermutlich wurde sie bei den letzten Kämpfen um Berlin als Zivilistin von einer Bombe oder Granate getroffen.

Ähnlich ging es Helene Wolter. Sie, in der Ostprignitz geboren, hatte mit ihrem Mann Hermann, der aus Wusterhausen an der Dosse stammte, seit ihrer beider Heirat 1906 im Haus gewohnt. Sie war Arbeiterin und er auch, offenbar mit wechselnden Arbeitsstellen; mal finden wir ihn im Adressbuch als Färber, dann als Lederarbeiter, dann als Fabrikarbeiter. 1916, im Ersten Weltkrieg wurde er als Kanonier zum Fußartillerie-Regiment II eingezogen und starb noch im gleichen Jahr mit 36 Jahren in den Beelitzer Heilstätten. Zwei Monate, nachdem die Kirche am Ende unserer Straße ausbrannte, in der Nacht vom 22. zum 23. November 1943, als der sechs Tage andauernde schwerste Fliegerangriff auch Charlottenburg gerade begonnen hatte, wurde Helene in der Cauerstraße tödlich getroffen; auch bei ihr war das gedruckte »gestorben« gestrichen und durch ein handschriftliches »gefallen« ersetzt. Was für traumatische Generationen!

Über ein paar »größere Fische« wissen wir auch einiges. Unter anderem über zwei, die, im selben Jahr 1886 geboren, unterschiedlicher, andererseits typischer für deutsche Biografien, kaum sein könnten.
Der eine, Otto Zander, seit 1918 im 2. Stock, Vorderhaus, war ursprünglich Lehrer, Soldat im Ersten Weltkrieg, an der Niederschlagung des Spartakus-aufstandes beteiligt, seit 1928 NSDAP-Mitglied, seit 1933 Regierungsdirektor und machte als Bundesleiter des »Großdeutschen Schachbundes« (die hatte ihre Geschäftsstelle übrigens ein paar Häuser weiter) bei seinem Amtsantritt gleich mal Ansagen wie diese: »Juden können wir zu unserer Arbeit nicht brauchen, sie haben aus den Vereinen zu verschwinden, denn sie waren in Deutschland die Erfinder und Förderer des Klassenkampfes und hetzen jetzt die anderen Völker mit ihrer Lügenpropaganda gegen unser Vaterland. Ich will gestatten, daß Mitglieder, die unter ihren Großeltern drei Arier und nur einen Juden haben, in den Vereinen bleiben, sofern sie deutsch gesonnen sind«. Seine vier »arischen« Goßeltern haben ihm aber dann auch nichts geholfen; er verunglückte 1938 bei einer Inspektionsfahrt als SA-Obertruppführer und hinterließ nur seine trauernde Witwe im Haus (er hatte nach dem Tod seiner ersten Frau und Mutter seiner drei Kinder deren Schwester geheiratet).

Der andere, Karl Anton Neugebauer, lebte mit seiner Mutter Ottilie, einer Buchhändlerwitwe, schon seit 1909, unterbrochen vom Studium und Kriegsdienst, im vierten Stock. Er heiratete, beteiligte sich als klassischer Archäologe an Grabungen in Griechenland, publizierte viel, wurde ein angesehener Professor und Kustos der Antikensammlung der Staatlichen Museen, bis die Nazis seine Karriere beendeten, weil seine Frau, Erna Jacobi, eine Konzertsängerin, siehe oben, zwei »jüdische Großeltern« hatte; sie war die Tochter eines jüdischen Kaufhausbesitzers aus Zittau und einer Engländerin. Karl Anton Neugebauer starb kurz nach Kriegsende im Juni 1945 nach einer Krebs-Operation im Gertrauden-Krankenhaus, seine Frau anscheinend erst Anfang der 1970er-Jahre.Ihr gemeinsamer Sohn Erwin hatte sich schon 1940 mit 19 Jahren, als Theologiestudent das Leben genommen und war von von dem bekannten Theologen und Pfarrer Helmut Gollwitzer beerdigt worden, da er wie seine Eltern als Nazi-Gegner der »Bekennenden Kirche« und deren Dahlemer Hausbibelkreis angehörte; außerdem soll es zwei Töchter gegeben, die wir aber nicht gefunden haben.Aus den Heirats- und Sterbeurkunden wissen wir, dass der spätere Hausbesitzer, der praktische Arzt Dr. Emil Kühn, der von 1906 bis zu seinem Tod 1948 im Haus gelebt und im ersten Stock eine Praxis betrieben hat (9–10 Uhr, 3–4 Uhr), zugleich der Trauzeuge unseres Archäologen war, und dass dessen Sohn, der »jüdisch versippte« Selbstmörder, sich, genau gesagt, in der Wohnung aufgehängt hat.

Wie nicht anders zu erwarten, haben auch andere Bewohner der Kirchstraße 33/34 im Dritten Reich von der Ausgrenzung anderer profitiert. Oberstudienrat Erich Deidert, der von 1929 bis 1935 in unserem Haus wohnte, war 1933 Direktor des Schönberger Prinz-Heinrich-Gymnasiums geworden, nachdem der Schulleiter Schönbrunn seines Amtes enthoben und die jüdischen Studienräte Salomon Birnbaum und Moritz Hirsch in den Ruhestand versetzt worden waren (Hirsch starb 1934, Birnbaum 1943 in Auschwitz). Deidert wurde im September 1939 zum Kriegsdienst eingezogen und war offenbar auch im Warschauer Ghetto tätig, wie aus einem Verfahren im Nachgang des Eichmann-Prozesses gegen SS-Obergruppenführer und Waffen-SS-General Karl Wolf hervorgeht, in dem Deidert 1964 ausgesagt hat und in dessen Folge Wolff zu 15 Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zum Mord an 300 000 Juden verurteilt wurde.
Aber auch der Adel im Haus – Familie »von Bogen« (die Männer alle mit irgendeiner »von« verheiratet und in mindestens der vierten Generationen hintereinander Offiziere) – hat sich gutgestellt mit dem System. Walter Rudolph Louis Fedor Alexander von Bogen und Schönstedt junior, der Sohn unseres Hausadligen, war Geschäftsführer der Deutschen Adelsgenossenschaft sowie Hauptschriftleiter des »Adelsblattes« und maßgeblich für dessen zunehmend antisemitische und rassistische Ausprägung verantwortlich. 1934 z.B. forderte er die Heranziehung von Sippenwarten zur Überwachung der Fortpflanzung des deutschen Adels. Arnold Zweig hat ihn schon 1929/30 wegen Beleidigung angezeigt, weil von Bogen ihn in einer Kritik des Romans »Der Streit um den Sergeanten Grischa« als »asiatischen Schmutzfink« verunglimpft hatte. Der Enkel wiederum war Erster Generalstabsoffizier einer Infanterie-Division der Wehrmacht, die erst in Polen und dann in Russland gewütet hat, fiel dann aber 1943 in Italien.

Ein anderer dunkelbrauner Bewohner war Dr. rer. pol. Oskar Aust, Volkswirt, Staats-, Sozial- und Finanzwissenschaftler, Vorsitzender des »Bundes für Deutsche Weltanschauung« und Generalsekretär der »Gesellschaft für zeitgemäße Kalenderreform«, ein Deutschnationaler, der seine Dissertation über die preußische Gewerbesteuer seiner Frau und »guten Kameradin gewidmet« und in den 1920er/30er-Jahren, als er hier wohnte, recht viel publiziert hat, u.a. in Medien der »Völkischen Bewegung«, Artikel wie »Die Großstadt im Kampfe gegen das Bauerntum« in der Illustrierten Monatsschrift »Volk und Rasse«. Das alles macht ihn nicht gerade zu einem Sympathieträger. Aber geschockt ist man dann doch, wenn man den Sterbeeintrag seines Sohnes liest, der hier im Haus geboren wurde. Während sich seine Eltern im letzten Kriegsjahr nach Königsberg abgesetzt haben, hat es ihm dank solcher Ideologen wie seinem Vater elf Tage vor seinem 17. Geburtstag als Flakhelfer der Hitler-Jugend in Marzahn den »Kopf abgerissen«.All das, die Puzzle-Teilchen, ergeben keine richtige Bilder oder Geschichten. Man hätte früher anfangen müssen, um noch Nachfahren zu finden oder irgendetwas »zum Anfassen«. Es gibt zwar einige wenige Fotos, aber leider nur von dem »Schach-Nazi« Otto Zander aus der zweiten Etage (u.a. zwei, die ihn mit dem ebenfalls passionierten Schachspieler und späteren Generalgouverneur von Polen, dem Kriegsverbrecher Hans Frank zeigen, der 46 in Nürnberg gehängt wurde) und eins von Franz Nikolaus Finck, einer Koryphäe seines Faches, der aus Marburg nach Berlin gekommen war, aber leider schon 1910 mit 42 Jahren gestorben ist. Er war Professor der Philosophie und Linguist, der mehr Zeit als hier im Haus in Irland und im Kaukasus verbracht und sich mit der Klassifizierung und dem Vergleich von reichlich exotischen Sprachen und Dialekten befasst hat, so des Irischen, des Armenischen, des Polynesischen und der Bantu-Sprache.

Zwei Familien sind wir aber noch genauer nachgegangen. Bei der ersten wollten wir wissen, ob unsere frühere Mitbewohnerin, die Oberstabsarzt-Witwe Ottilie Lieberkühn bzw. ihr Gatte Christian Adolph – mit einigen früheren, zu ihrer Zeit sehr berühmten Lieberkühns verwandt sind.Die Ausgangsdaten waren mickrig. »Unser« Oberstabsarzt vom 1. Pommerschen Feldartillerie-Regiment Nr. 2 ist 1875 mit nur 46 Jahren gestorben, zwei Jahre nach seiner Heirat mit unserer Hausbewohnerin, ein Jahr nach der Geburt ihres gemeinsamen Kindes. Die Namen und die Geburtsdaten seiner Eltern, der Vater – Johann Samuel (1781–1868) – war Arzt, waren recht schnell zu ermitteln. Und irgendwann hatte wir auch seine zwei Brüder, von denen einer – Samuel Nathan (1821–1887) – sehr bekannt war, als Professor und Prorektor der Berliner Universität und später Direktor des Anatomischen und des Zoologischen Instituts in Marburg. Hier aber endete der Strang. Eine Verbindung zu den früheren berühmten Trägern des Namens war nicht zu finden. Was macht man also? »Oben« anfangen, statt »unten« weiter zu stochern:Der »Ur-Lieberkühn«, also der erste, der sich namentlich nachweisen lässt, wurde 1669 in Quedlinburg geboren und gelangte als Königlich-preußischer Hofgoldschmied in Berlin zu Ruhm und Reichtum. Er besaß in der Heilig-Geist-Gasse das »Haus zum Neidkopf« (der Kopf ist heute noch im Märkischen Museum zu bewundern) und hatte 14 Kinder.
Einer der Söhne von Goldschmied Nr. 1 bekam die Vornamen seines Vaters und seine Werkstatt, als der 1733 starb, und wurde ebenfalls Zunftmeister in Berlin, und auch sein Sohn war wieder Goldschmied. Dann verliert sich die Spur dieses Zweiges.

Zwei weitere Söhne des Ur-Lieberkühns, des Goldschmieds 1, wurden Mediziner. Der eine – Benjamin (1714–1789) – ging als »Physikus und Hebammenlehrer« nach Halberstadt und brachte es dort schließlich zum Bürgermeister. Der andere – Johann Nathanael (1711–1756) – war eine Berliner Berühmtheit – Arzt, Anatom, Präparator und Konstrukteur optischer Instrumente, Mitglied des Medizinisches Obercollegium Berlin und der Royal Society in London; und eine Darmdrüse, die er als erster beschrieben hat, ist auch nach ihm benannt.Dann hatte Lieberkühn 1 noch zwei Söhne, die in Halle Theologie studiert haben. Der eine – Johann Gottlieb (1705–1772) – wurde Pfarrer und Superintendent an der Heiligengeistkirche und der Nikolaikirche in Potsdam und sein Sohn – Christian Gottlieb (1730–1761) – wiederum Schriftsteller und Übersetzer (Lessing mokiert sich 1757 in einem Brief an seinen Verleger Nicolai über ihn – seine Übersetzungen seien miserabel). Der zweite – Samuel Heinrich (1710–1777) – trat als Prediger in die »Herrnhuter Brüdergemeine« ein, reiste als Missionar bis nach Grönland, war als Kenner des Hebräischen auch der erfolgreichste Judenmissionar seines Vereins, und schrieb theologische Unterrichtsbücher, die zu Missionszwecken in diverse »heidnische« Sprachen übersetzt wurden. 

Da aber nun »Nr. 1« schon 7 Söhne und 7 Töchter hatte und die sich ihrerseits wie die Karnickel vermehrt haben, gibt es in der nächsten Generation bereits so viele Lieberkühns (mit teilweise gleichen Vornamen und Berufen wie ihre Väter und Großväter), dass die nicht mehr sicher zuzuordnen waren, obwohl wir schon alle Mädchen, weil sie ihren Namen nach der Heirat geändert haben, also nicht mehr Lieberkühn hießen, außer acht gelassen haben.Trotz aller Hin- und Herschieberei der Figuren fehlten zwei Generationen zwischen den Kindern des ersten und unseres Haus-Lieberkühns. Was macht man, wenn einen das wurmt? Dranbleiben, weitersuchen, jede erdenkliche Kombination zwischen Lieberkühn und Begriff »x«, Jahreszahlen und Ortsangaben ausprobieren, nach dem 50. Versuch »das Handtuch werfen«, und dann doch mit dem 51. wieder von vorn anfangen…Und plötzlich ist er da, der »Missing link«, und nicht nur in eine, sondern in die vorherige und in die folgende Generation. Dies dank eines einzigen Briefes an den Göttinger Anatomen und Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach (1752 –1840), Mitbegründer der wissenschaftlichen Zoologie und Anthropologie, dessen Korrespondenz teilweise erhalten und digitalisiert ist.So auch ein Brief, den der Arzt und Direktor des Naturkundlichen Kabinetts der Mährischen Brüder in Barby, Johann Samuel Lieberkühn (1747–1807) am 1. August 1802 einem Paket an seinen »verehrungswürdigen Freund und Gönner« Blumenbach beilegt. Er schreibt, dass er ihm »ein Modell eines grönländischen Caiacks nebst dem dazu gehörigen Ruder, wie auch ein grönländisches Hemd von Seehunds-Gedärmen, und einen grönländischen Vogelpelz« (leider von Motten zerfressen) als Präsent sende, und kommt dann zu »unserer«, Sache: »Nun etwas von meinem Sohn [sic!], der das unschätzbare Glück genossen ihres lehrreichen Unterrichts zu geniessen (…). Der Aufenthalt meines Sohnes 4 Jahre auf der Universität Halle und Goettingen ist mir sehr sauer geworden und hat meine Kräfte überstiegen, ohne Ew. Wohlgebohren Freundschaft und Herzensgüte wäre mir derselbe ohnmöglich geworden…«.

Dann bittet er Blumenbach darum (neudeutsch zusammengefasst), seinem Sohn (der bei ihm Medizin studiert) ein gutes Zeugnis auszustellen und ihm bei der Arbeitsuche zu helfen. Und da noch Platz in der Paketkiste gewesen sei, schicke er noch fünf seltene Bücher aus seiner Druckerei mit – ein creolisches Neues Testament, ein lettisches und ein estnisches Gesangbuch sowie zwei Religionsbücher seines Vaters [sic!] in »grönländischer« und »esquimauxischer« Übersetzung. Lieberkühn schließt sein Schreiben mit der Bitte, Blumenbach möge seinem Sohn bei der Promotion beistehen und »ihn ermahnen, alle unnöthige Ausgaben und Schwendereyen zu vermeiden«.Anscheinend hat beides geklappt. Denn der Sohn ist Johann Samuel Lieberkühn junior (1781–1868), der spätere Kreisphysikus in Barby und Vater u.a. unseres »Haus-Lieberkühn«. Durch den Verweis des Briefschreibers auf seinen Sohn und dann noch auf seinen Vater, den Missionar mit den Übersetzungen in seltenen Sprachen, schließen sich die Lücken zu den vorherigen und folgenden Generationen. Mit anderen Worten: Unser Oberstabsarzt ist der Ur-Ur-Enkel des Quedlinburger Goldschmieds, sein Sohn der Ur-Ur-Ur-Enkel usw; und beide sind auch mit allen anderen berühmten Lieberkühns verwandt.Schön.

Was fangen wir jetzt damit an? Eigentlich nichts. Außer uns freuen über die gefundene Nadel im Heuhaufen und amüsieren über das Hemdchen aus Seehund-Gedärm oder über den Titel der grönländischen Übersetzung des Lieberkühn-Bestsellers »Der Hauptinhalt der Lehre Jesu Christi, zum Gebrauch bey dem Unterricht der Jugend in den evangelischen Brüdergemeinen«, der da auf »eskimonisch« lautet: »Jesusib Kristusim Ajokaersutei Pirssariakarnerit Gudim Okauseenit Aglekennit Kattersorsimarsut Attortuksello Innusuit Illageeksunnetut Ajokaersorkullugit«. Zuletzt kann man sich noch zu fragen, ob »unser« Lieberkühn selbst überhaupt wusste, mit wem er da alles verwandt war. Vielleicht war es so wie heute, wo viele auch gerade mal die Namen ihrer Großeltern kennen und dann schon Schluss mit dem Wissen über die eigene Mischpoche ist:)

Aber eine Geschichte haben wir noch. Dass wir, wie anfangs angenommen, »no names« wie eine »Witwe Marunge« außer acht lassen können, weil über die eh nix zu finden sein dürfte, hat sich hier nämlich als Irrtum erwiesen. Unsere »Mitbewohnerin« Marie Marunge war in ihren jungen Jahren Mitverhaftete und Zeugin in einem spektakulären Mordfall und hat dann einen der Hauptverdächtigen, den Sohn des Opfers, geheiratet.Der »Marunge’sche Gatten- und Vatermord« in der Schlossstraße 23 hat damals weit über die Grenzen Charlottenburgs und Berlin hinaus Wellen geschlagen. Die Protagonisten, die Familie des Maurermeisters Marunge war dank ihrer Mieteinnahmen relativ wohlhabend, das Anwesen gehörte ihr. Albert Marunge und Auguste Fischer, seit 1862 verheiratet, hatten zwölf Kinder bekommen, von denen zum Zeitpunkt der Tat noch fünf leben: Hermann, Albert, Emil, Paul und Franz – der Älteste 24, der Jüngste fünf Jahre alt. Albert senior trinkt gern, er ist jähzornig und gewalttätig, prügelt seine Frau und die Kinder und gerät immer wieder in Streit mit den zwei ältesten Söhnen, Albert junior und Hermann, die sich das nicht gefallen lassen, bis der Vater sie rausschmeißt und beide ihre Mutter und ihre Geschwister nur noch besuchen kommen, wenn der Alte bei der Arbeit ist.Unsere Marie, ein Mädchen vom Land, hatte den Töpfergesellen Hermann Marunge 1880 kennengelernt; drei Jahre später – sie ist schwanger von ihm – ziehen sie in »wilder Ehe« zusammen, weil Marunge senior ihm die Zustimmung zur Ehe mit ihr immer noch verweigert.

Am 31. Oktober 1884, Marie ist jetzt 22, verlässt ihr Verlobter abends die gemeinsame Wohnung und taucht erst morgens um Drei wieder bei ihr auf. Auf ihre Frage, wo er gewesen sei, bekommt sie keine Antwort. Doch das Gericht kann er später davon überzeugen, dass er nicht dabei war, als seine Mutter Auguste und/oder sein Bruder Albert dem Vater an diesem Abend im Schlaf den Schädel einschlagen und ihn am nächsten Morgen in einem Sack im Keller unter dem Lehmboden vergraben. Den jüngeren Brüdern, die im Nebenzimmer geschlafen hatten, und später den Nachbarn, erzählt Auguste Marunge, Albert senior käme nicht wieder, er habe die Familie verlassen.Doch die Charlottenburger Gerüchteküche brodelt mächtig und zweimal wird das Haus durchsucht – gefunden wird nichts. Auguste ist sich ihrer Sache so sicher, dass sie eine Anzeige in die Zeitung setzen lässt, in der sie droht, jeden, der sie des Mordes verdächtigt, wegen Verleumdung anzuzeigen. Dafür ziehen Marie und Hermann auf ihre Aufforderung hin zu ihr in die Schlossstraße, weil sie, so das »Berliner Tageblatt«, dort allein »ein gewisses Gruseln empfand«.Erst über ein Jahr später, im Dezember 1885, wird die Leiche bei einer neuerlichen Durchsuchung dann doch gefunden. Die Witwe, die beiden großen Söhne und Marie, die Braut, werden verhaftet und ins Untersuchungsgefängnis Moabit gebracht. Marie wird bald wieder freigelassen und Ende März 1886 beginnt der Prozess, samt Vorführung des halbverwesten Leichnams mit dem eingeschlagenen Schädel (es habe fürchterlich gestunken, schreibt die Presse); die Zuschauerbänke sind gerammelt voll, sogar der berühmte Scharfrichter Julius Krautz aus der Wilmersdorfer Straße, der »letzte Henker« von Berlin, sitzt mit im Publikum.Während Hermann, gestützt durchs Maries Aussage, jede Mitwisser- und -täterschaft abstreitet, schieben sich Albert und Auguste Marunge im Prozess gegenseitig die Schuld zu. Am Ende werden beide zum Tode verurteilt, doch der Kaiser wandelt die Strafe in lebenslange Zuchthaushaft um. Hermann wird von dem Vorwurf, Schmiere gestanden zu haben, freigesprochen. Auguste kommt in die Haftanstalt Luckau und stirbt dort ein Jahr später. Albert tritt seine Haft in der »Königlichen Strafanstalt« Sonnenburg bei Küstrin an, wo sich seine Spur auch verliert. In Sonnenburg, in der Berliner Unterwelt »Universität für kriminelles Studium« genannt, hat auch der Schuster Wilhelm Voigt, der spätere »Hauptmann von Köpenick«, und der Bombenleger Max Hoelz eingesessen und der Charlottenburger Maler Heinrich Zille während seiner Militärdienstzeit Wache geschoben; 1930 wurde die Anstalt wegen »erheblicher hygienischer Mängel« geschlossen und 1933 als eines der ersten Konzentrationslager wieder belegt; u.a. waren Herszel Grynszpan und Hilde Coppi hier inhaftiert.Hermann und Marie heiraten jedenfalls drei Monate nach dem Ende des Prozesses und im Oktober wird ihr zweites, nun eheliches Kind – Erna – geboren, das aber acht Monate später stirbt. Als 1892 beider drittes Kind auf die Welt kommt, hat sich Monsieur Marunge allerdings schon aus dem Staub gemacht und wohnt in Moabit »in unbekannter Wohnung«. Ein paar Monate später folgt die offizielle Scheidung und im November heiratet er wieder, eine Witwe, vielleicht die Eigentümerin der »unbekannten Wohnung«. 1916 stirbt er bei einem Unfall und der »Vorwärts« berichtet unter dem Titel »Vom Schlachtfelde der Arbeit«: er »geriet auf der Abladestelle an der Beusselstraße beim Herausziehen von Eisenbahnwagen, die mit Schutt beladen waren, zwischen Seil und Eisenkegel der Treidelanlage. Hierbei wurde er totgequetscht.«Wie es nun mit Marie Marunge in den Jahren nach der Scheidung weitergegangen ist, wissen wir nicht. In unser Haus gezogen ist sie erst Jahrzehnte später als »Witwe« und hat dann bis zu ihrem Tod 1932 hier gelebt. Aber auch hier gibt es Querverbindungen zum »damals«. Emil Marunge, ihr Schwager, war der Trauzeuge eines anderen unserer Bewohner, der früher ebenfalls ihr Nachbar in der Schlossstraße gewesen war.…

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