
Die Familie des kleinen »Pali« (wie er sein Leben lang von Freunden genannt wurde) gehörte seit langer Zeit zur jüdischen Minderheit der Kleinsstadt Apatin in Österreichisch-Ungarn, als Paul Abraham am 2. November 1892 geboren wurde. Hier sprach man deutsch und ungarisch und sehr wahrscheinlich hat seine klavierspielende Mutter Flora ihren Sohn in die Welt der Musik eingeführt – so wie auch sein Vater Abraham als Kaufmann Einfluss auf ihn nahm.
»Die Musik ging mir schon immer über alles. Meinen ersten Musikunterricht gab mir Adolf Schaeffer, Musiklehrer an der Schwabenschule. Als ich zehn Jahre alt war, holte mich Adolf Schiffer an die Budapester Musikakademie […] Ich musste eine besondere Erlaubnis vom Kultusministerium zum Studium an der Hochschule bekommen, weil ich noch viel zu jung war. […] Ich schrieb ein Cello-Konzert für Professor Kerner, den Kapellmeister der Budapester Philharmoniker und der Budapester Oper. Er brachte es mit größtem Erfolg zur Aufführung. […] Nach zwei weiteren Jahren hatte ich mein Studium beendet.«
Das hat Paul Abraham 1931 in einem Interview erzählt. Die Story vom komponierenden Wunderkind war eine seiner Lieblingsgeschichten. Budapest und erst recht Apatin waren ja weit weg, und niemand sah sich veranlasst, diese Aussagen in Zweifel zu ziehen. Und schließlich: Sollte jemand wie der Operettenkönig eine »ganz normale« Kindheit in einem verschlafenen Kaff der K.u.K.-Monarchie verbracht haben? Nicht doch!
Wenn auch wenig über Abrahamns Kinderheit und Jugend bekannt ist, eines ist gewiss: Er hat die übliche Schullaufbahn durchlaufen. Er ging in Apatin auf die schwäbischen Dorfschule, anschließend auf die Bürgerschule, die er mit 14 ordentlich abschloss und danach drei Jahre auf eine Handelsschule. Er war nicht 10, sondern 21 Jahre alt, als er nach Budapest an die Musikakademie kam. Trotz allerbester Noten machte er dort aber aus unbekannten Gründen keinen Abschluss. Abraham, der sich später in Berlin als Popstar inszenierte, erzählte, er habe ein »Professorendiplom« erlangt und sogar an der Musikhochschule unterrichtet. Doch das einzige Abgangsdokument der Universität ist ein Nachweis über die belegten Fächer mit den (im übrigen exzellenten) Noten seiner Prüfungen, kein Abschluss. Auch eine immer wieder von ihm angeführte Aufführung eines Streichquartetts bei den Salzburger Festspielen fand zumindest offiziell niemals statt. Tatsächlich existiert hat dagegen die Kleinoper »Etelkas Herz«, die der junge Abraham zur Eröffnung des Budapester Marionettentheaters 1917 komponierte, und die hoch gelobt wurde. Danach endete für lange Zeit das kompositorische Schaffen Abrahams.
Der Krieg und sein Ende hatte in Ungarn zu großer Not und zu dramatischen Umwälzungen geführt. Das Land gehörte zu den Weltkriegsverlierern, Abrahams Geburtsstadt war nun in Serbien und Teil des neuen Königreichs Jugoslawien, Ungarn wurde innerhalb kürzester Zeit zuerst eine bürgerlich-demokratische Republik, dann eine kommunistische Räterepublik, und schließlich unter dem »Reichsverweser« Horthy wieder zur »Monarchie«. Paul Abraham jedenfalls eröffnete in dieser Zeit ein Börsenbüro und spekulierte für sich und andere an der Börse. Im Januar 1924 jedoch titelt die Budapester Zeitung Az Usjäg: »Der Börsianer der Künstlerszene wurde verhaftet. Die Tragödie eines jungen Musikers« und schreibt: »Dabei, dass er Bankrott machte, spielt eine große Rolle, dass er bei seinen Künstlerkollegen von jeglichem geschäftlichen Interesse abgesehen hat (…). Die Polizei hat Paul Abraham heute verhaftet, weil festgestellt wurde, dass er zwei Milliarden Kronen Schulden hat, für die es keine Sicherheiten gibt.«
In diesem Bericht finden wir alle Charakterzüge, die sich durch Paul Abrahams ganzes Leben ziehen: Er war liebenswürdig und großzügig, konnte nicht mit Geld umgehen, wollte Gefahren nie wahrhaben (hier den Börsen-Crash) und hielt immer an seinem bisherigen Tun fest (wie später, als er erst in letzter Minute vor den Nazis ins Ausland floh). In diesem Fall scheint die Sache aber gut ausgegangen zu sein, da er nicht vorbestraft war.
Die Jahre bis zu seiner Zeit als Kapellmeister am Budapester Operettentheater 1927 liegen weitgehend im Dunkeln. Abraham verkehrte neben seiner wie auch immer gearteten Broterwerbstätigkeit in Kaffeehäusern und in den neu entstehenden Jazzkellern, wo er ab und zu auch selbst Kapellen und Bands dirigierte. Die ersten Aufführungen seiner Werke während des Studiums und die ausgezeichneten Noten, die Abraham erhielt, hätten ja eigentlich den Beginn einer Karriere im klassischen Musikbetrieb bedeuten können. Warum es diese nicht gab, wissen wir nicht. Aber es gehört geradezu essenziell zu seiner Vita, nicht nur ein Unterhaltungsmusiker zu sein, sondern von der »ernsten Musik« herzukommen.
Wie er doch in die Niederungen der Unterhaltungsmusik gelangte, erzählte Abraham später in verschiedenen Versionen. Eine lautet: »Für ernste Musik bekam man damals kein Honorar. Im Gegenteil, wenn ein Quartett von mir gespielt wurde, musste ich die Musiker zum Nachtmahl einladen. Ich begann zu hungern. Eines Tages hörte ich bei einem Musikverleger das Grammophon die schöne Weise spielen: ›Ich küsse ihre Hand Madame.‹ – ›Abscheulich!‹ sagte ich. – ›Abscheulich?‹ fragte der Verleger. ›Wissen Sie, dass davon 500.000 Platten verkauft worden sind?‹ – ›Aus ist’s mit der ernsten Musikk rief ich, ich mache auch solche Sachen!‹ In einer Woche komponierte ich 100 Schlager.«
Das muss man nun nicht wörtlich nehmen. Aber als im März 1928 im Operettentheater Budapest das Stück »Zenebona«, eine Art Boulevardkomödie mit Gesangsnummern von verschiedenen Komponisten, Premiere feierte, hatte Paul vier Melodien beigesteuert und Aufsehen erregt.
Ein Kritiker schrieb in der führenden Theaterzeitung: »der Name des Komponisten ist seit einigen Tagen in aller Munde, es geht gleichsam das Gerücht mit ihm durch…« und Abrahamn
erhielt den Auftrag für eine eigene Operette: »Der Gatte des Fräuleins. In dieser musikalischen Komödie spielte auch die damals erst 16-jährige Marta Eggerth, die als Wunderkind galt und hier den Startschuss für ihre internationale Karriere gab.
Und es folgten weitere Aktivitäten des jetzt ganz ins Musikgeschäft eingestiegenen Paul Abraham. Die größte Wirkung hatte dabei ein Auftrag, den Abraham 1929 aus der deutschen Filmwirtschaft bekam: Ein Lied für den Tonfilm »Melodie des Herzens«. Zu Beginn der Dreharbeiten war er noch als Stummfilm konzipiert, doch der sensationelle Erfolg des neuen Mediums Tonfilm in Amerika brachte den Produzenten Erich Pommer dazu zu telegrafieren: »Alles auf Tonfilm umstellen!«. Zwar hatte Werner Richard Heymann die musikalische Leitung des Werkes übernommen, doch da man eine »in Deutschland ausgedachte ungarische Geschichte« verfilmte, suchte man nach ungarisch gefärbten Melodien. Der aufstrebende Komponist Abraham kam da gerade recht. Er steuerte nur einen einzigen Song bei, doch der hatte es in sich. »Bin kein Hauptmann, bin kein großes Tier«, sang der Husar János (Willy Fritsch) seiner angebeteten Júlia vor – und das Publikum war hingerissen. Gleichzeitig begann mit diesem Lied die internationale Karriere Paul Abrahams, denn er wurde zu seinem ersten Kassenschlager.
VIKTORIA
Nach »Bin kein Hauptmann, bin kein großes Tier«, dem erster Kassenschlager, betätigte sich Paul Abraham weiter als Dirigent und Gelegenheitskomponist, aber er brauchte einen großen Erfolg, und auch sein neuer Verleger wollte die bereits bezahlten Vorschüsse wieder hereinbekommen. So kam ihm die Idee des Dramatikers Imre Földes zu einer exotischen, ungarisch-japanischen Operette recht und er sagte zu, die Musik dazu beizusteuern. Nachdem die Operette »Viktória«, die aus dieser Zusammenarbeit entstand, 1930 in Budapest sehr erfolgreich aufgeführt worden war, hielt es Abraham nicht mehr in Ungarn. Auf Empfehlung von Ufa-Produzent Erich Pommer machte er sich mit seiner Frau Charlotte, die er gerade geheiratet hatte, auf nach Berlin, in die Hauptstadt der europäischen Vergnügungssucht.
Der Regisseur Géza von Cziffra erinnert sich: Auf einer Fahrt im Zug Wien-Berlin habe er den Komponisten kennengelernt, »der sich den Luxus geleistet hatte, sich ein halbes Abteil reservieren zu lassen«, obwohl er »damals noch ein unbekannter, nicht mehr ganz junger und ziemlich erfolgloser Komponist« gewesen sei. »Abraham gestand mir, dass er gerade so viel Geld habe, um zwei Wochen im Adlon logieren zu können. Es müsse also innerhalb von zwei Wochen etwas passieren. Ich empfahl ihm eine kleine ungarische Pension, wo sein Geld bestimmt länger reichen würde, aber Abraham meinte: wenn schon, denn schon. In Berlin angekommen, fuhren wir zum Adlon. Mit seinem Zimmerschlüssel bekam er ein Telegramm ausgehändigt: »Operette angenommen. Stop. Komm sofort«.
Zwar war Paul Abraham in Berlin unbekannt, und wußte kaum jemand, dass der Schlager »Bin kein Hauptmann« von ihm stammte, doch er hatte Glück. Der Musikverleger Armin L. Robinson schlug ihm vor das Libretto von »Viktoria« für den deutschen Markt neu schreiben zu lassen und dafür zwei »alte Hasen« zu engagieren: Alfred Grünwald und dessen Freund Fritz Löhner-Beda. Grünwald hatte unzählige Operettenerfolge für Franz Lehär, Oscar Straus und Emmerich Kalman geschrieben und Löhner-Beda war der erfolgreiche Kabarett- und Schlagertexter von u.a. »Ausgerechnet Bananen« und »Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren«.
Das neue Gespann fuhr ausgerechnet nach Bad Ischl, wo die Operettenseligkeit nicht wienerischer sein konnte, und peppte »Viktória« modern auf. Statt ›Die Windmühle dreht sich nicht mehr in Dorozsmán‹ usw. kreierten die Texter elegante Großstadtschlager wie »Pardon, Madame, »Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände« oder »Mausi, süß warst du heute Nacht«.
Das Trio probierte ihr Werk, das nun »Viktoria und ihr Husar« hieß, erst einmal in Leipzig aus. Das Publikum war begeistert, und die Leipziger Volkszeitung schrieb: »Das Werk ist musikalisch bei weitem das Beste, was man in den letzten Jahren auf diesem Gebiet zu hören bekam. Da gibt es einen derartigen Reichtum an instrumentalen Effekten, dass ein Durchschnittskomponist aus dieser Partitur mindestens zwei gemacht hätte.«
Am 15. August 1930 dann die erste Berliner Aufführung im Metropol-Theater. Abraham hatte bekannte Sängerstars aus Budapest kommen lassen, und stand selbst als Dirigent am Pult. »Schlank, mit blassem Gesicht, in dem große dunkle Augen leuchteten«, beschrieb ihn das Musik-Echo; »Jeder Nerv dieses Mannes vibrierte, sein ganzer Körper arbeitete … Schon glaubt man, dieser Mann könne nur ernst, nur sehnsuchtsschwer sein – da erklingen die übermütigen Rhythmen und der ernste Abraham ist verschwunden, ein heiterer, ausgelassener, freudetrunkener, von Rhythmen beseelter Mensch bringt das Publikum zu jubelnder Raserei.«
In der Tat. Das Publikum beklatschte jeden einzelnen Titel und jeder von ihnen – wie »Meine Mama war aus Yokohama« oder »Nur ein Mädel gibt es auf der Welt« wurde über Nacht zu einem Gassenhauer und ging, wie es im Refrain von »Ja so ein Mädel, ungarisches Mädel« heißt, den Leuten nicht mehr »aus dem Schädel, nicht aus dem Sinn«.
Abraham soll allein an »Viktoria und ihr Husar« eine halbe Million Mark verdient haben (das wären heute etwa 1,7 Millionen Euro). Innerhalb des ersten Jahres wurde das Stück an unzähligen Theatern in ganz Europa aufgeführt, ja sogar in Australien, und 1932 verfilmt, hier dirigiert Paul Abraham höchstpersönlich die Filmmusik und erscheint selbst auf der Leinwand. Für seine Fans war er jetzt der »König der Operette«, und mit dem Lied »Ich bin ja heut so glücklich« aus einem seiner nächsten Filme auch der »umjubelte Meister der Filmoperette«. Ein Kritiker: Abraham sei der »stärkste Aktivposten filmmusikalischen Schaffens«, »wo immer er auftaucht, spielt er alle an die Wand.«
Was folgte, war ein Leben im Rausch. Das eine war der Erfolg, der nun auch materiell beinahe alles möglich werden ließ, das andere war ein Arbeitsrausch. Abraham rauchte täglich drei Schachteln Zigaretten, trank 30 Tassen Kaffee, komponierte unzählige Filmmusiken und spielte sie dann auch mit seinem Orchester ein.
Er kaufte eine Villa in der Fasanenstraße 33 mit 17 Zimmern und arbeitete dort mit einem ganzen Stab von Mitarbeitern in einem schnell zusammengekauften Ambiente von wertvollen Gemälden, Teppichen und Porzellan. Hier gab er auch seine legendären »Gulasch-Partys«, an denen »ganz Berlin« teilnahm, ließ für seine Freunde Champagner und Kaviar auffahren, wie es in einem Fimporträt heißt und legte sich mit einem Schlag 60 Anzüge und 300 Seidenhemden zu.
Allerdings trug Abraham auch vorher schon immer einen (meist weißen) Frack und dirigierte in weißen Glacé-Handschuhen. Das war indes weniger Effekthascherei, als Angst vor ansteckenden Krankheiten; er soll auch nachts Handschuhe getragen haben.
Abrahams immer exquisitere Kleidung, seine ausgezeichneten Manieren und vor allem seine sprichwörtliche Höflichkeit war auch Anlass für ein Bonmot, das unter seinen Freunden kursierte: »Wenn Paul Abraham allein im Zimmer ist, hat er große Schwierigkeiten den Raum zu verlassen, weil er nicht weiß, wie er sich selbst die Tür aufhalten soll…«.
Doch der plöztliche überwältigende Erfolg hatte auch eine Kehrseite. Denn in Wirklichkeit war Abraham ein Zerrissener, ein Getriebener, ein Zweifler. Sein Freund Hans Habe schrieb später: »Du fandest Dich im neuen Reichtum, im neuen Ruhm schnell zurecht, und bliebst doch ein Fremder. Hager, mit eingefallenen Wangen unter den hohen Backenknochen, mit großen, glühenden Augen, von der graziösen Eleganz eines französischen Marquis: so wandeltest Du, etwas verständnislos, über den Kurfürstendamm«.
Und bei János Darvas heißt es: »Oft kann Abraham die Rastlosigkeit seines Lebens kaum noch ertragen. Er wird von traurigen Stimmungen übermannt. Nachts läuft er durch die Straßen von Berlin und versucht, sich abzulenken. Er amüsiert sich mit leichten Mädchen, er zieht durch die Cafés und Bars, er spielt Karten um hohe Summen.«
Seine Vorliebe für »leichte Mädchens ist Spekulation, ein anderer Biograf meint nämlich, es wäre wohl eher so, dass manche die Inhalte seiner Operetten eins zu eins auf den Komponisten übertragen haben. Gleichwohl scheint sich Abraham in seiner Berliner Zeit mit der Geschlechtskrankheit angesteckt zu haben, die aufgrund von Nichtbehandlung später einen großen Anteil an seinem späteren Krankheitsverlauf hatte.
Abrahams Neigung zum Glücksspiel war indes eine Tatsache und auch, dass ihm das Geld förmlich durch die Finger rann. »Weichherzig wie er ist, hilft er jedem, der in darum bittet«, heißt es in einem Filmporträt, denn er konnte an ihn herangetragene Bitten um Unterstützung hilfsbedürftiger Kollegen und »Freunde« einfach nicht abschlagen.
Sein gravierendstes Problem aber war die Spielsucht. Die von dem ungarischen Theaterdirektor Beöthy gestellte Frage: »Weshalb spielt ein so begabter Mensch Karten? Warum komponiert er nicht Operetten?« erwies sich im Falle Abraham indes als falsch gestellt. Abraham spielte Karten UND komponierte erfolgreiche Operette.
(DIE BLUME VON HAWAII)
»Viktoria und ihr Husar« sollte keine Eintagsfliege bleiben. Das Geschäft war hektisch, das Geschäft war brutal. Verleger und Theaterdirektoren lechzten nach einer Wiederholung des Erfolgs, Paul Abraham und seine Librettisten wollten ihn liefern. Nach Filmmusiken (u.a. eine Arie für den weltbekannten Tenor Jan Kiepura) folgte 1931 also eine neue Operette: »Die Blume von Hawaii«, die den Erfolg der »Viktoria« noch übertraf.
Die Operette, eine »Mischung aus Touristenschnulze, politischer Komödie und erotischer Revue« hatte mit der Annektierung Hawaiis durch die USA zwar reale politische Geschehnisse als Folie, verjuxte sie jedoch komplett und verquirlte sie natürlich mit einer Liebesgeschichte. Ein schwarz geschminkter Sänger, der den berühmten amerikanischen Jazzsänger Al Jolson parodiererte, sang »Bin nur ein Jonny«, und der Song wurde wie alle anderen Lieder nach der Uraufführung 1931 innerhalb kürzester Zeit zum absoluten Hit. Jedes namhafte Orchester und jeder namhafte Sänger (von Richard Tauber bis zu den Comedian Harmonists) griff sie auf und brachte seine eigene Version von »Du traumschöne Perle der Südsee«, »Ich hab ein Diwanpüppchen« oder »Will dir die Welt zu Füßen legen«.
Auch wenn die Kritiker nicht müde wurden, zu betonen, dass Abraham nicht der erste Komponist im deutschsprachigen Raum war, der Jazzelemente in Operetten verwendete, so konsequent und innovativ hatte es bisher keiner gewagt, den Hot-Jazz, einzubringen und die Operette zu »enttypisieren«.
Die Vossische Zeitung 1931: »Paul Abraham, der neue Mann … ist ein vortrefflicher ‚Mixer‘, weil er nicht mit kalter Berechnung verfährt, nicht den Effekt sucht um des Effektes willen, weil er vielmehr von seinem eigenen Musikantenblut die Dosis in die Mischung hineintröpfeln lässt, die ausreicht, um die Hörer zu fesseln, sie sanft narkotisiert lauschen zu lassen, oder sie gar in Ekstase zu versetzen. Er beherrscht die ganze Skala.«
Das Neues Wiener Journal ein Jahr später: »Abraham ist der Vollblutmusiker, als der er sich schon erwiesen hat. (…) Was ihn als Mann der Zukunft so klar bestimmt, ist sein in allen Sätteln gerechtes Musikertum, seine Beziehung zum Orchester, die Glaubwürdigkeit der eigenen Mache und überhaupt die Überlegenheit, mit der er als sein eigener Dirigent und Interpret vor das Publikum tritt.«
Paul Abraham tat inzwischen alles dafür, seinen Ruf als unablässig Geld scheffelnder Operettenfürst zu verfestigen und das nach Klatsch und Tratsch gierende Publikum entsprechend zu bedienen. Er zelebrierte seinen einzigartigen Lebensstil geradezu dandyhaft, leistete sich einen Chauffeur, angeblich acht Luxusautos, und inszenierte sich insgesamt so exotisch, dass es auch die heutige Yellow Press begeistert hätte.
(BALL IM SAVOY!)
Während Paul Abraham seine knappe freie Zeit also mit Partys oder Streifzügen durch das nächtliche Berlin totschlug, von einer Aufführung zur nächsten, von einem Tonstudio oder Filmatelier zum anderen eilte und bereits an seiner dritten »Berliner Operette«, dem »Ball im Savoy arbeitete«, ging um ihn herum die Welt unter. Längst prägten SA-Uniformen nicht nur das Bild der Straße und in den Gaststätten. Auch bei kulturellen Veranstaltungen protestierten, krakeelten und prügelten die Nazis, was das Zeug hielt, und ohne dass die Polizei dem Einhalt gebot.
Paul Abraham ignorierte es. Er verdrängte. Er war Operettenkomponist und alles andere war unwichtig. Er sagte: »Die werden doch keinen Krieg gegen die Operette führen«, und sollte sich brutal getäuscht haben!
In dieser katastrophalen Situation wollten die Brüder Rotter mit dem »Ball im Savoy« und dessen Erfolgskomponisten noch einmal alles auf eine Karte setzen. Das Metropol-Theater stand nicht zur Verfügung, also mieteten die Theatermacher kurzerhand von Max Reinhardt das Große Schauspielhaus, das über nicht weniger als 3300 Plätze verfügte und setzten die Premiere für den 23. Dezember 1932 an.
Sie wurde das kulturelle Ereignis in den letzten Tagen der Weimarer Republik. Kanzler Kurt von Schleicher mit Ministern, sowie jeder, der in Berlin einen Namen hatte, war anwesend. Die Lieder – wie »Es ist so schön, am Abend bummeln zu geh’n« und »Wenn wir Türken küssen« – wurden umjubelt, der Beifall wollte kein Ende nehmen. Derart ausgeflippt hatte man das Berliner Operettenpublikum bis dahin höchstens bei Richard Tauber gesehen. »Nach Mitternacht zieht Gitta Alpar mit dem gesamten Ensemble und mit bunten Lampions durch den arenenartigen Zuschauerraum, heißt es in einer Rezension, »und alle singen gemeinsam das Lied »Toujour l’amour«.
Der Korrespondent der Vossischen Zeitung schrieb am nächsten Tag: »Es hat manche glänzende Aufführung im Großen Schauspielhaus gegeben: eine glänzendere jedenfalls nicht. (…) Paul Abraham hat sich wieder einmal als einer der erfinderischesten Köpfe unter den Komponisten unserer Zeit gezeigt. (…) Aus den modernen Tanzformen saugt er seine Nahrung (…) Sie schillert in tausend Farben; und sie hat sie vor allem im Glühen, das auf die Hörer überspringt und auch sie glühend macht. Soll ich alle Schlager aufzählen, die einschlugen? Ich dürfte wohl kaum eine ‚Nummer‘ beiseite lassen.«
Fast 70 Jahre später wird Barry Kosky, der Intendant der Komischen Oper in Berlin, den Ball im Savoy das »Meisterstück der Berliner Operette«, »eine Hymne auf Berlin« nennen und »[…] Er hat die Operette vom belehrenden Moralismus befreit. Er hatte einfach seinen Finger auf dem musikalischen Puls der Stadt. Nichts, was er anschließend im Exil komponierte, reichte an das heran, was er in Berlin begonnen hatte. Man fragt sich, was hätte sein können, wenn die Nazis nicht gewesen wären und er in Berlin hätte bleiben können.«
(BUDAPEST)
Nur gut einen Monat nach der sensationellen Premiere vom »Ball im Savoy«, übernahm am 31. Januar Adolf Hitler die Macht. Anfang Februar, wenige Tage, nachdem in der New York Times ein ganzseitiger Artikel über den »populärsten Komponisten Zentraleuropas« erschienen war, griffen Nazi-Schergen Abraham am Bühneneingang des Schauspielhauses an, wo »Ball im Savoy« immer noch vor ausgekauftem Haus gespielt wurde, und ließen ihn nicht herein.
Abraham wollte nach diesem Zwischenfall sofort Deutschland verlassen, ließ sich dann aber doch noch ein paar Tage Zeit, bevor er mit seiner zwischenzeitlich wieder in Berlin weilenden Frau endgültig Richtung Budapest abreiste.
Der Regisseur Géza von Cziffra: »Als Paul Abraham Berlin verlassen musste, weinte er: ›In dieser Stadt wollte ich sterben. – »Das kannst du immer noch, Paul, sagte ich zu ihm. ›Wenn der Spuk vorbei ist, kommst du einfach zurück.‹ – ›Aber warum muss ich fort?, seufzte er. ›Nur, weil ich beschnitten bin?«
Ja! Es bedurfte offenbar der brutalen Realität, um auch die letzten Zweifler vom Ernst der Situation zu überzeugen. Zwar zwar im März noch »Die Blume von Hawaii« in den deutschen Kinos angelaufen, doch bald danach kamen die Abraham-Werke auf den Index. Der Name »Paul Abraham« wurde zum Unwort. Im Standardwerk, dem Operettenführer von Stan Czech, existiert er 1936 schon nicht einmal mehr. Sein Vermögen wurde beschlagnahmt.
In Budapest hatte die Nazis (noch) nichts zu sagen, und Abraham konnte hier, wie im nahen Wien, in den nächsten fünf Jahren weitere Werke auf die Bühne bringen und für den Film arbeiten.
Sein »Märchen im Grand Hotel »wurde im März 1934 vom Ensemble des Theaters in der Josefstadt uraufgeführt und war mit 65 Aufführungen hintereinander durchaus ein Publikumserfolg. Schon die Generalprobe war ein echtes Medienereignis. Hier wurde Abraham von den Spitzen der Wiener Politik und Gesellschaft beklatscht – darunter Bundeskanzler Dollfuß und sein späterer Nachfolger Schuschnigg, sowie der Intendant Max Reinhardt. Regie führte Otto Preminger, der später als Emigrant zum weltberühmten Hollywoodregisseur und -produzenten aufstieg.
Er ließ »alle Kunststücke des Bühnenzauberkasten spielen«, wie das Wiener Kleine Blatt feststellte.
Und die Neue Freie Presse: »Vergessen die ungarische Heimat, der ergiebige Zigeunerweisenfundus, das tremolierende Zymbal. Hier wird ausschließlich englisch-amerikanisch gesteppt, gefoxt, mit allem Raffinement und den vielen witzigen Nebeneinfällen, über die Abraham wie kaum ein anderer verfügt. Richtige, internationale Jazzmusik von 1934: antreibend, aufpulvernd, eine ununterbrochene Provokation der Beine.«
Noch einmal also Glanz und Gloria – aber die Wirkung blieb auf Wien beschränkt. Es sollte mehr als anderthalb Jahre dauern, bis wieder ein großes Abraham-Stück in Budapest Premiere hatte, das später auch in Österreich für Aufsehen sorgte.
Kurz zuvor waren in Berlin die Olympischen Spielen durchgeführt worden. Nazideutschland hatte die Gelegenheit dafür genutzt, die eigenen Athleten als »heldenhaft« und asketisch zu präsentieren. Da passte eine parodistische Sportoperette wie die Faust aufs Auge – in Ungarn mit der überaus populären Wasserballmannschaft als Helden, in Österreich mit einer Fußball-Nationalelf auf der Bühne. Unter dem Titel »3:1 für die Liebe« war das Stück in Budapest gefeiert worden. Und die Aufführungen ab März 1937 im Theater an der Wien unter dem Titel »Roxy und ihr Wunderteam« erregten besonderes Aufsehen.
Es war die satirischste und politischste aller Abraham-Operetten. Die Handlung um die Sportmannschaft, die im Trainingslager auf elf sportliche Damen eines Mädchenpensionats trifft, bot den idealen Rahmen für Hohn und Spott auf Sitte und Moral und auf die politischen Zustände in Deutschland. Genüsslich wurden die »anständigen« Werte des NS-Regimes und die heroisierende Riefenstahl-Ästhetik durch den Kakao gezogen und der überglückliche Komponist konnte wie der spätere UFA-Star Marika Rökk zehn Minuten lang Standing Ovations entgegen nehmen, auch von Reichsverweser Miklós Horthy, der im Publikum saß und später Ungarn in ein Bündnis mit Hitler führen sollte.
Ein Jahr später, im Dezember 1938, nahm Abraham dann das letzte Mal einen Uraufführungsapplaus entgegen. Österreich war schon im Machtbereich der Nationalsozialisten, als mit »Weißer Schwan« in Budapest eine Abraham-Operette aufgeführt wurde, von der hierzulande nur bekannt wurde, dass sie von der Affäre einer Ballerina mit dem Großfürsten Konstantin im Ersten Weltkrieg handelt.
(PARIS)
1939 holten die politischen Verhältnisse Abraham auch in Budapest ein. Österreich war schon ins Reich »heimgekehrt«, und in Ungarn wurden Juden immer häufiger zum Angriffsziel der faschistischen »Pfeilkreuzler«. Paul Abraham ließ sich einen Pass besorgen, wollte aber noch nicht abreisen: Er wartete auf einen Brief aus Berlin: »Ich war der populärste Mann in Berlin. Unsinn, das bin ich immer noch. Das kann nur ein gemeines Missverständnis sein. Ich muss auf alle Fälle nach Berlin zurück!«
Schließlich aber konnte Abraham, der in sehr schlechter Verfassung war und von Géza Halmos als »lebender Leichnam« mit »ständig zuckend(em)« »blutleerem Gesicht« beschrieben wurde, nicht mehr bleiben. Am 28. Februar 1939 bestieg er den Zug nach Paris. Weder er noch seine Frau Charlotte wussten, wie lange ihre Trennung dauern sollte – am Ende waren es 17 lange Jahre.
In Paris war es unglaublich schwierig für Emigranten, Geld zu verdienen.Offiziell durften nur diejenigen arbeiten, die eine »carte d’identité« besaßen, über eine Arbeitsgenehmigung verfügten und außerdem noch Mitglied einer der französischen Filmzünfte waren. Auf Paul Abraham traf nichts davon zu.
Er konnte hier zwar ein Jahr in relativer Ruhe leben, gegenüber seinem früheren Arbeitspensum aber blieben die Aufträge bescheiden (abgesehen von der Filmmusik für den Streifen »Serenade« mit Lilian Harvey). An Charlotte schrieb er: »Für die Musik bekomme ich sehr wenig, aber die kleinen Rechte ergeben nach 3 bis 4 Monaten eine große Summe (…) ich bitte dich, beruhige dich, es wird alles in Ordnung kommen! Mein teures Leben, Gott segne dich. Millionen Küsse, meine Mutzi, ich bin ewig Dein, Dein Mann Pali.«
Doch nichts kam in Ordnung. Abrahams ließ zwar die Gulaschpartys wieder aufleben, wie Robert Stolz berichtet: »Um seine Feste zu finanzieren, borgte er sich Geld, wobei er vorgab, es für eine Behandlung der letzten ihm verbliebenen Zähne verwenden zu wollen. Anstatt zum Zahnarzt zu gehen, schmiss Paul dann aber eine Party, auf der es nach »Pálinka‹, Paprika, Puszta und, natürlich, nach Puppen duftete.«
Solche Feste waren kleine Inseln des Vergessens in einer immer schlimmer werdenden Zeit. Spätestens als Frankreich dem Deutschen Reich am 3. September 1939 den Krieg erklärte, wurde das Leben für die meisten Emigranten unerträglich. Sie, die vor Hitler geflohen waren, wurden nun auf einmal als »feindliche Ausländer« behandelt. Allen war nun klar, dass sie auch dieses Land so schnell wie möglich verlassen mussten. Die meisten wollten nach Amerika, aber da gab es fast unüberwindbare Hürden, so dass viele versuchten, auf Umwegen« in die USA zu gelangen. Auch Paul Abrahm blieb kein anderer Weg.
(UMNACHTET)
Paual Abraham gelangte über Casablanca nach Kuba und hat sich in Havanna, so wie vorher schon in Paris, wahrscheinlich sein Hotelzimmer als Barpianist verdient. Abgeschnitten von allen Tantiemenzahlungen, war er inzwischen so mittellos, dass ihm ein Freund die Kaution von 500 Dollar hinterlegen musste, dank derer er ein halbes Jahr später, im August 1940, schließlich in die USA einreisen durfte. Von Miami aus fuhr er mit der Eisenbahn nach New York. Das war 8 lebenswichtige Dollar billiger als die direkte Schiffspassage.
Nichts von dem, was sich Paul Abraham von diesem Land, den USA, versprochen hatte, sollte in Erfüllung gehen. Seine großen Operettenerfolge in Europa halfen ihm hier nicht weiter. Er, der in Europa als einer der modernsten Unterhaltungskomponisten seiner Zeit galt, bekam im Mutterland des Jazz‘ keinen Fuß auf die Erde. Alle Versuche, mit neuen Projekten zu landen, scheiterten. Das einzige größere Werk, das Abraham in New York fertigstellte, war eine Operette mit dem Titel »Tamburin«, die nie aufgeführt wurde.
Abraham reagierte auf seine perspektivlose Situation mit Depressionen. Der spätere Opernguru Marcel Prawy, der ihn um diese Zeit häufig traf, berichtet in seinen Memoiren, der Komponist sei »physisch in schlimmster Weise« verfallen. Die Geldsorgen waren dann auch mit ein Grund für den Ausbruch einer Psychose, die mit Größenwahn einher ging. So erzählte Robert Stolz später, Abraham habe eines Tages alle seine Freunde für den nächsten Tag ins Hotel zu seiner Hochzeit mit dem berühmten Hollywood-Star Ilona Massey eingeladen, und als die Freunde dann mit Blumen dort erschienen seinen, habe er von nichts mehr gewußt.
Die Krankheit nahm ihren Lauf. Einmal soll Abraham in seinem Hotel den Liftboy angewiesen haben, 42 x in den 17. Stock und zurück zu fahren und dabei ständig »Schnell, noch schneller« gerufen haben.
Die nächste ikonographische Szene auf Abrahams Weg in die geistige Umnachtung soll sich mitten im New Yorker Straßenverkehr abgespielt haben: Abraham steht in abgerisserner Kleidung, aber mit weißen Handschuhen auf der Straße und dirigiert ein imaginäres Orchester.
Am 5. Januar 1946 ist es schließlich soweit. Nachdem der verschmutzte Paul Abraham, der im Pyjama in einer Hotelhalle gesessen hatte, von einem Freund mit aufs Zimmer genommen worden war, hatte er sich dort erst 20 Minuten in der Badewanne in eiskaltes Wasser gesetzt und später einem imaginären Gesprächspartner am Telefon mit zorniger Stimme gedroht, er würde ihn umbringen. Dem Bekannte gelang es mit Hilfe eines weiteren Freundes den Unglücklichen in ein Krankenhaus zu bringen. Vor dort wurde Paul Abraham nach kurzer Zeit ins Creedmoor Psychiatric Center auf Long Island überwiesen.
Die Diagnose: Psychose und viertes Stadium einer verschleppten Syphilis. Bei seiner Einlieferung sei Abraham »schwatzhaft, freudig erregt und großsprecherisch« gewesen, unterernährt und »desorientiert« und über seine Vorgeschichte heißt es: »1940 musste der Patient von Paris nach Portugal und dann nach Kuba fliehen. Während dieser Zeit wurde er geisteskrank. (…) 1945 verlor er plötzlich die Kontrolle über seine Finanzen, wurde immer verwirrter, war überproduktiv und größenwahnsinnig.«
Abrahams körperlichen Symptome konnte man behandeln, die psychiatrische Erkrankung blieb. An eine Einbürgerung war nach amerikanischem Recht aufgrund seiner Erkrankung nicht zu denken, an eine Ausreise eben sowenig. Und so verbrachte Paul Abraham zehn Jahre in der größten Psychiatrie der USA.
Ab 1953 erschienen in Deutschland erste Berichte über das Schicksal Abrahams in New York. Für viel Aufsehen sorgte 1955 ein Artikel im »Aufbau«, in dem Richard Dyck unter dem Titel »Der Komponist im Irrenhaus« über einen Besuch in Creedmoor berichtet: »Arm, ein lebendig Gestorbener, von dem niemand mehr Notiz nimmt, bringt Paul Abraham in dumpfer Abgeschiedenheit von der Außenwelt seine Tage hin. […] Der Komponist hat alle seine Melodien noch im Kopf. Er spielt sie wie einst, flott und elegant und mit immer noch erkennbarer Klaviertechnik. Aber – und das ist, was mir so schauerlich vorkommt – dieser feine, bedeutende Musiker von einst merkt nicht, auf was für einem Instrument er spielt. Es ist blechern, völlig ausgeleiert und greulich verstimmt. Paul Abraham scheint dies nichts auszumachen. Er scheint restlos glücklich am Klavier […] Mit einem abrupten Akkord endet er, reicht uns nochmals die Hand und verschwindet in seinem Raum, den er mit 14 Insassen teilen muss. […] Um 5 Uhr 30 muss aufgestanden werden, um 7.30 Uhr abends muss er sich zu Bett legen. Er muss Treppen fegen, Flure scheuern. Doch Abraham wähnt, er lebe in einem Hotel […].«
Treibende Kraft einer Bewegung, diesen unwürdigen Zustand zu beenden und Paul Abraham nach Deutschland zu holen, war schließlich der Schriftsteller Walter Anatole Persich. Nachdem ihm 1954 vom Schicksal Abrahams erzählt worden war, gründete er mit Gleichgesinnten ein Paul-Abraham-Komitee, das fortan Verhandlungen mit den amerikanischen Vormündern führte und unter Einschaltung der Bundesregierung schließlich die Rückreise Abrahams ermöglichte.
(ENDSTATION)
Am 30. April 1956 landete Paul Abraham zusammen mit 51 anderen kranken Emigranten in einem Sammeltransport auf dem Frankfurter Flughafen. 23 Jahre, nachdem er aus Berlin geflüchtet war, betrat der Komponist wieder deutschen Boden. Ein paar Fotografen machten Bilder, dann fuhr man ihn nach Hamburg. Zu Hamburg hatte der Komponist zwar keine Beziehung, doch hier war sein Hilfskommitee beheimat, das ihn in das Universitätskrankenhauses Eppendorf brachte. Chefarzt der Psychiatrie in der Klinik war ausgerechnet Dr. Hans Bürger-Prinz, 1933 bis 45 Mitglied aller relevanten NS-Organisationen von NS-Ärztebund über NSDAP bis zur SA.
Die Eppendorfer Psychiatrie konnte sich nun mit den musikalischen Einlagen ihres prominenten Patienten schmücken. Für die Presse waren Abrahams anrührende kleine Konzerte für das Personal Anlass zu Spekulationen, ob er möglicherweise wieder gesunden und neue Werke komponieren könnte. In Wirklichkeit hatte sich sein Zustand kaum verbessert.
»Als Poldi und ich Abraham eines Tages besuchten«, schrieb Géza von Cziffra in seinen Memoiren, »saß er am Klavier und spielte seine alten Melodien. Aber sein Gesicht war ausdruckslos, sein Blick fast blind. Er hat uns nicht erkannt.«
Im Oktober 1956 durfte Charlotte Abraham endlich aus dem nun kommunistischen Ungarn zu ihrem Mann nach Hamburg ausreisen. Sie wurde zu seinem Vormund erklärt und holte ihn aus der Psychatrie nach Hause.
Paul Abraham bekam zu diesem Zeitpunft 500 DM »Wiedergutmachungsrente« vom deutschen Staat. Bei dem Versuch, weitere Ansprüche zu erkämpfen, wurde wie in allen diesen Verfahren die Frage aufgeworfen, ob sein Geisteserkrankung überhaupt etwas mit seiner Flucht vor den Nazis zu tun hätte. Ausgerechnet wieder der frühere NSDAP-Genosse und Richter am NS-«Erbgesundheitsgericht« Prof. Hans Bürger-Prinz, fungierte als Gutachter und schrieb: »Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass P.A., wenn er sich in Deutschland aufgehalten hätte, infolge der psychischen Auffälligkeiten von seiner mit ihm vertrauten Umgebung bereits wesentlich früher, wahrscheinlich schon beim Auftreten der ersten Krankheitszeichen im Jahre 1940 einer adäquaten klinischen Behandlung zugeführt worden wäre. […] Wäre P.A. bereits 1940 entsprechend behandelt worden, was in Deutschland nach den hier geltenden Regeln und Vorschriften mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Fall gewesen wäre, so hätte Aussicht auf eine weitgehende Erhaltung seiner Primärpersönlichkeit, seiner Schaffenskraft und Produktivität bestanden.«
Dieser Zynismus kann fassunglso machen. Denn wir alle wissen, wie der Jude Abraham »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« 1940 in Deutschland »behandelt« worden wäre, und wir wissen auch, dass er 1940 in den USA adäquat behandelt hätte werden können, hätte ihm da noch sein von den Nazis geraubtes Vermögen zur Verfügung gestanden.
1957 sprach das Entschädigungsamt dem Komponisten jedenfalls »wegen Schadens an Eigentum« 75.000 DM brutto zu, auch wenn ihm laut Gericht ein Schaden in Höhe von 1,2 Millionen Mark entstanden war. Ein Jahr später lehnte das Amt alle weiteren »Ansprüche auf Entschädigung an Körper und Gesundheit« ab, da »die Annahme, dass ein Verbleiben in Deutschland den Antragsteller früher der ärztlichen Behandlung zugeführt hätte, nach den Ausführungen in dem fachärztlichen Gutachten nicht wahrscheinlich« ist.
Nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie wurde Paul Abraham in der Öffentlichkeit nie mehr gesehen. 1960 wurde er erneut in das Eppendorfer Universitätsklinikum eingeliefert. Dieses Mal war es kein psychisches Problem, sondern Schwarzer Hautkrebs. Das Geschwür hatte bereits Metastasen gebildet und Paul Abraham starb am 6. Mai 1960 in der Klinik.
Zuletzt noch einmal Barrie Kosky: »Das Bild vom seelisch gebrochenen Paul Abraham, der geistesverwirrt mitten auf der Madison Avenue in New York steht und den Verkehr als sein imaginäres Berliner Orchester dirigiert, nach dem er sich sehnt, gehört für mich zu den furchtbarsten Bildern dieser Zeit. Das Mindeste, was wir tun können, ist nicht zu weinen, sondern Abrahams wunderbare Werke auf den Spielplan zu setzen und zu sagen: Dies ist Teil unserer Kultur!«
