Der Weg ist das Ziel


Elchanan Nathan Adler reiste zwei Jahrzehnte durch die gesamte jüdische Diaspora des 19. Jahrhunderts 

1888 begab sich der 27-jährige Dr. Elchanan Nathan Adler – „Wissenschaftlicher Reisender“ und Sohn des Chiefrabbiners von England – zum ersten Mal nach Palästina. Wie es Touristen heute noch immer tun, wun­dert sich auch Adler hier zunächst über die „Kleinheit aller Dinge. Denn „das Heilige Land, das in unserer Literatur und in unseren Gedanken einen so großen Raum einnimmt… ist nicht größer als Kent und hat eine kleinere Bevölkerungszahl als Liverpool“.
Der Eindruck der „Klein­heit“ des Landes relativiere sich jedoch, schreibt Adler später, „wenn man anfängt zu verstehen, wie reich seine Erinnerungen sind“. Da ist er schon viel herumgereist, hat Hebron (wo „Juden wie die Hunde behandelt“ werden) besucht, die „Kolonie Rischon-le-Zion“ und Jafo, das damals noch „11 1/2 Stunden“ (per Pferd) von Jerusalem entfernt lag. Dort wiederum, bemerkt Adler, „sind die Hälfte aller Juden Russen“, und denen scheine „ihre Tracht“, die sie „gegen die eisigen Winde der Steppe“ geschützt habe, „beinahe heiliger als ihre Religion“. Deswegen behielten sie in der Hitze Palästinas ihre Pelzmützen bei, die „großen, fettigen Schüsseln glichen“. Was außenstehenden Betrachtern heute merk­würdig erscheint, fand Adler damals schon „komisch“, ebenso wie „das chassidische Geheul“ an Simchat Tora und die dazugehörigen „ehrwürdigen Graubärte“, die „auf den Zehen tänzelten gleich einer europäischen Pantomimenfee“. 

Als moderner Europäer hat Adler aber auch ein Auge für die jeweilige (Stadt-) Landschaften, das Völkergemisch, die Geschichte, vor allem aber für das – bereits zu dieser Zeit verzweigte – jüdische Schul- und Sozialsystem. Er besucht jüdische Hos­pitäler, Altenheime und Lehranstalten wie die der Alliance Israélite Universelle (einer Art übernationale ZWST, die weltweit die Ausbildung armer Juden finanzierte) oder die Rothschild-Schule, in der vier Sprachen, Mathematik, Bildhauerei sowie diverse technische Fächer unterrichtet wurden.

Doch belässt der Reisende es nicht bei Palästina. Zwei Jahrzehnte lang folgt er auf immer neuen Wegen den Spuren jüdischer Gemeinden in der ganzen damaligen Diaspora – durch Steppen und Wüsten, per Eisenbahn, Pferd, Kutsche und Dampfer. Seine Reiseberichte erscheinen in England unter dem neutralen Titel „Jews in many Lands“. Die jetzt neu aufgelegte deutsche Ausgabe von 1909 heißt „Von Ghetto zu Ghetto“, obwohl Adler viele der besuchten Gemeinden als integriert, angesehen und wohlhabend beschreibt – wie die in Kairo, in der es „halb pariserisch und halb afrikanisch zuging“.

Nach seiner Ägyptenreise folgen Touren nach Saloniki, Rhodos und Aleppo. Während man sich dort an Europa orientiert, ist am nächsten Reiseziel das Gegenteil der Fall: In Teheran findet er zwar 14Synagogen vor, aber keine Schule für die „armen und recht unwissenden“ Juden, woran neben der Regierung auch die europäischen Juden schuld seien, die nichts für die Bildung ihrer Brüder getan hätten.

Adler besucht auch die „Ackerbaukolonisten“ in Argentinien – und ist enttäuscht. Ihnen sei zwar zu verdanken, daß „sich hier heute 30.000 Juden befinden“, sie scheinen ihm aber „ungeduldig“ und zur Landarbeit ungeeignet. Die Juden in Rußland kommen besser weg. Ihre Heimat bereist Adler mehrfach, obwohl er es hier „nicht ohne Zittern wagt“, sich „nach Juden zu erkundigen“. Ertrifft persische und „gorskische“ Juden (die „sehr hübsch“ aussehen mit ihren „Patronentaschen und Dolchen“) und berichtet vom Baumwollhandel in Buchara und Samarkand, der sich größtenteils in jüdischen ­Händen befinde, obwohl die Region, da außerhalb ihres Ansiedlungsrayons, für Juden eigentlich verboten sei. Die Regierung sehe sie de facto aber doch gern, weil sie Handel und Wandel in abgelegene Gegenden brächten. Zudem passten sie sich besser als die Slawen an den „brennenden Sand Turkestans und die eisigen Ebenen Sibiriens“ an. Hier sieht Adler dann auch „die wahre Lösung der russisch-jüdischen Frage“. Die Juden müssten gar nicht erst „über das Meer“. Russland habe „gigantische Reichtümer“ und sei „groß genug, um all seinen Einwohnern – auch den Juden – Raum zu bieten“. Es brauche also „nur die Tore der Ghettos zu öffnen“, und dann würden ihm die Juden mit als erste „sein Reich im Osten aufbauen helfen.“ Die Juden, die Adler traf, schienen indes den „Weg übers Meer“ vorzuziehen: Sie „waren voller Freude über den Zionistenkongress in Basel“, und fragten, ob „der Messias nun wirklich kommen würde, und Königin Viktoria den Juden Palästina gegeben hätte!“

Adlers Aufzeichnungen bestechen durch die Vielfalt (vergangenen) jüdischen Lebens, die sie beschreiben und durch die Selbstverständlichkeit, die der jüdischen Präsenz in aller Welt zu seiner Zeit anhaftete, einer Selbstverständlichkeit, die es wohl so nie wieder geben wird. Zugleich verblüffen die Texte an manchen Stellen durch gewisse (Dauer-)Aktualität: Wenn es etwa um Sekten und Ableger wie die Karaitengemeinde in Kairo geht oder sich Adler in seinem Indienbericht seitenlang über das Hierarchiegerangel zwischen Bnej Israel aus Bombay und Juden aus Cochin, zwischen „schwarzen“ und „weißen“, konvertierten und „echten“ Juden ausläßt. In jedem Fall relativiert sein noch immer lesenswertes „Road Movie“ die scheinbare Exklusivität manch heutiger Debatte, und es erlaubt ungewohnte Blicke in eine unwiederbringliche Welt.

_Elchanan Nathan Adler: Von Ghetto zu Ghetto. Hg. Hermann Simon, Hentrich & Hentrich, Teetz 2001

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