Eine Erinnerung an Heinz Joachim Schwersenz (1925–2005)
Der Mann schafft es noch immer, einen ganzen Saal zwei Stunden lang in atemloser Spannung zu halten, aus dem Stegreif. Ein Lehrer wie aus dem Bilderbuch. Und Lehrer wollte er immer werden, „schon als Kind“ – sagt Jizchak Schwersenz. Er sitzt auf dem Podium im Ruder-Club „Welle Poseidon“ am Wannsee und erzählt sein Leben – eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit: 90 Jahre in 90 Minuten, eine Minute für jedes Jahr dieses schrecklichen 20. Jahrhunderts, seines Jahrhunderts.
Der Ort ist kein Zufall. „Welle Poseidon“, 1894 gegründet, war einmal ein mehrheitlich jüdischer Ruderclub. Anstatt, wie geplant, 1936 an der Olympiade teilzunehmen, wurde der Verein erst aus allen Verbänden ausgeschlossen und dann zwangsaufgelöst. In den 1950er Jahren wiedergegründet, pflegt „Welle Po“ bis heute den Kontakt zu seinen einstigen jüdischen Mitgliedern in aller Welt. Ursel Fisch, die in den 1930ern in einer jüdischen Mädchen-Ruderriege saß, ist als eine der wenigen aus der Emigration zurückgekehrt; und sie hat auch Schwersenz hierher gebracht – an den Großen Wannsee 46a. Denn der Lehrer Jizchak Schwersenz kennt diesen Ort gut.
Das Wassergrundstück hatte, nach dem es „arisiert“ worden war, der SS gehört. Und in deren Auftrag mussten Schwersenz’ Schüler bis zur Schließung seiner Jugendalijah- Schule das Grundstück bepflanzen und den Boden bestellen. „Trotz der Angst vor der SS war das sehr, sehr wichtig für uns“, erklärt Schwersenz dem Publikum. „Jede Woche schickte ich eine andere Gruppe hier raus, damit jeder mal an die frische Luft und ins Grüne kam. Wir durften zu der Zeit ja normalerweise nicht mehr Bahn fahren oder auf einer Parkbank sitzen…“
Dem voraus waren sukzessiv die vielen anderen Entrechtungen der Juden gegangen. Jizchak (ursprünglich Heinz Joachim) Schwersenz, im bürgerlichen Berliner Westen aufgewachsen, erinnert sich: „Schon die Erste Republik war schwach. Schon vor 1933 kamen Kinder in HJ-Uniform zur Schule, ohne dass sie jemand daran hinderte“ und wenn er Schularbeiten auf dem Balkon machte, defilierten SS- und SA- Kolonnen unten – auf der heutigen Otto-Suhr-Allee – entlang und skandierten „Deutschland erwache! Juda verrecke!“.
Als mit Hitlers Machtübernahme dann die Weimarer Republik endgültig zerschlagen wurde, war Schwersenz’ Vater immer noch überzeugt: „Wir leben in einem Rechtsstaat und mir als Weltkriegskämpfer wird man ohnehin nichts tun“. Jizchak, seit seinem neunten Lebensjahr im Jüdischen Jugendbund, sah das bereits damals anders. „Wir in der Jugendgruppe hatten die Naziliteratur gelesen und ahnten, was uns erwartet“.
Der junge Schwersenz gab Hebräisch, Bibel- und Geografiekurse bei der Jüdischen Jugendhilfe und wurde dann nach Holland geschickt, um Gemüseanbau zu lernen. Er sollte in Hachschara-Lagern Jugendliche auf Palästina vorbereiten. Als er 1935 nach Berlin zurückkam „standen die Leute überall dicht gedrängt am Straßenrand und schrien ’Heil, Heil, Heil…’ – von wegen, keiner hat was gewusst“.
Der hübsche schwarzhaarige Jizchak („Ich sah sehr jüdisch aus und war sehr dunkel. Als einmal nach einem Ostseeurlaub eine Frau meine Mutter fragte: ‚Ist das ein Jüdischer oder ein Neger?’ antwortete sie: ‚Das ist ein jüdischer Neger!’“) wurde mit gerade einmal zwanzig Jahren Leiter eines Jugendhilfe-Heims in Köln. Es folgte eine Religionslehrerausbildung bei Rabbiner David Carlebach, die Leitung eines Landschulheims in Süddeutschland, schließlich wieder eine Lehrtätigkeit in Berlin.
Dann: „Am 9. November 1938 fuhr ich auf dem Weg zur Schule mit der S-Bahn an der brennenden Synagoge Fasanenstraße vorbei. Die hatte noch Kaiser Wilhelm eingeweiht, wie mein Vater immer ganz stolz erzählte“.
Wer fliehen kann, flieht. Schwersenz bleibt und übernimmt die Jugendalijah-Schule in der Choriner Straße 74, eben jene Schule, deren Schüler das Grundstück am Wannsee pflegen. Doch dann wird auch sie geschlossen, die Schüler müssen nun Zwangsarbeit leisten – bis zur berüchtigten „Fabrikaktion“. Als die Lastwagen auf den Hof rollen, um sie abzuholen, können zwölf der Jugendlichen fliehen. Wie für den „Tag X“ ausgemacht, treffen sich alle bei der „Ewo“, Edith Wolff, Bundesallee 79. Das ist die Geburtsstunde des Chug Chaluzi, der einzigen versteckten Jugendgruppe in Deutschland, die zeitweise bis zu 40 Mitglieder – unter anderem auch die Geschwister Mirjam und Gad Beck – hatte.
„Wir gingen jede Nacht nach dem selben Schema vor: Nachtquartier suchen; und wenn wir keins fanden, war eine ‚Straßennacht’ fällig. Das hieß :solang wie möglich mit den Nachtlinien fahren und unauffälligdurch die Straßen laufen.“ Dank vieler „wunderbarer Menschen, die uns Quartier gaben oder Geld oder Lebensmittel“ ging das lange gut. Bis „die Ewo“ verhaftet und ins KZ verschleppt wurde. Nun traf man sich jeden Abend im Tiergarten, Friedrichshain oder Grunewald. Dort wurden Neuigkeiten ausgetauscht, die ergatterten Lebensmittel verteilt und Schwersenz unterrichtet die Kinder in Bibel, Hebräisch und wie man ordentlich den Hitler-Gruß macht und nicht zittert, wenn man seinen falschen Ausweis zeigt.„Zum Abschied gaben wir uns die Hände, wie es bei den Pfadfindern üblich war und sangen das Lied ’Wohlan, lasst das Sinnen und Sorgen…’. Fehlte abends jemand, war klar, was das bedeutete.“
Als die Situation immer schlimmer wird, beschließt die Gruppe zu fliehen. Aber wie? Sie fanden einen Offizier, der Wehrpässe fälschte und eine mutige Frau, die Bauern in Bayern kannte, die bereit waren, Leute über die Grenze zu bringen. Das Geld reichte jedoch nicht für alle. Also wurde beschlossen, dass Schwersenz allein fliehen und das Geld für die Pässe der anderen in der Schweiz auftreiben sollte. Doch „das, was mir in Deutschland all die Jahre nicht passiert war, geschah mir in der freien Schweiz: ich wurde verhaftet“ – vor allem deswegen, wie ihm ein jüdischer Funktionär später sagte, weilsich dort niemand hatte vorstellen können, dass es noch lebende Juden in Deutschland gab. Schwersenz kam in ein Flüchtlingslager und mittels seiner guten Kontakte zu jüdischen Organisationen gelang es ihm tatsächlich, das notwendige Geld zu beschaffen. Inzwischen war aber der Passfälscher in Berlin aufgeflogen und hingerichtet worden.
Dank der nun vorhandenen Finanzen konnte die Gruppe dennoch überleben. „Keiner wurde mehr verhaftet nach meiner Flucht – diese Gewissheit ist mir noch heute das Wichtigste“, sagt Jizchak Schwersenz tonlos. Er ist am Ende seines Vortrags angelangt, blickt in die Ferne, wirkt verloren. Wie schon so oft hat er alles gegeben, seine ganze Kraft, seine Erinnerung. All die Namen, all die Toten – sie stehen nun im Raum, zwischen ihm und den Zuschauern. Ob sie ihn verstanden haben? Vor den Fenstern des Bootshauses plätschert leise der Wannsee.

