Die Odyssee eines jüdischen Kinderarztes durch die Gefängnisse der DDR
1968. Anatol Rosenbaum, der damals noch Held heißt, wird in Ost-Berlin verhaftet. Das Verbrechen des 29-jährigenKinderarztes besteht darin – schreibt er in seinen Erinnerungen – „zusammen mit meiner Familie das unfreie Land des roten Sozialismus verlassen zu wollen“. Verurteilt wird er letztlich als „zionistischer Agent“, der
ein Land verraten haben soll, „in dem sogar Juden Generäle werden können“, wie er einen seiner Vernehmer zitiert.
Und wie die Eltern dieses Generals, des DDR-Spionage-Chefs Markus Wolf, waren auch Anatol Helds Eltern überzeugte Kommunisten – sein Vater war ein bekannter linker Theaterregisseur und die Mutter Nelly setzte sogar durch, dass das Hamburger Bankhaus der Familie ihres Mannes der KPD geschenkt und der jüdische Name „Rosenbaum“ in „Held“ geändert wurde. Das Paar ging dann nach Moskau, wo Anatol 1939 geboren wird und in der Schule regelmäßig als „Fritz“ verprügelt wird. Dass er Jude ist, erfährt er erst mit 20 Jahren, in der DDR, wohin die Eltern zurückgekehrt waren, um hohe Posten in der Staatsnomenklatura zu übernehmen. Er nimmt Kontakt zur Jüdischen Gemeinde auf und lernt Hebräisch und den Antisemitismus kennen – den es auch in der heilen Welt der DDR reichlich gibt und der sich hier vorzugsweise als Kampf gegen den „imperialistischen Aggressor Israel“ darstellt. Dass er dort hin will, nach Israel, wird ihm zum Verhängnis.
„Ein Gefangener muss immer den Himmel sehen, so steht es in der UNO-Menschenrechtserklärung“, schreibt Held-Rosenbaum. Doch in den Zellen der Staatssicherheit gibt es statt Fenstern undurchsichtige Glasbaussteine – den Stasi-Himmel. Held wird ständig neu verlegt und so unfreiwillig Experte für die Topographie der Stasi-Knäste: Hohenschönhausen, Magdalenenstraße, die Psychiatrie Waldheim, das „Kommando X“ (für erwischte CIA- und BND-Leute), Rummelsburg, Cottbus, Zuchthaus Torgau…
Dabei begegnet er sehr unterschiedlichen Mitgefangenen: Walter Ulbrichts Zahnarzt, einen Professor für Bergbau, einen Opernregisseur, Zeugen Jehovas und Theologiestudenten, die gegen die Wehrpflicht und manipulierte Wahlen demonstriert hatten, aber auch SS-Verbrechern, die in der Zelle Weltkriegsschlachten
nachspielen, Kindermördern und Totschlägern.
Der junge Arzt wehrt sich, aber er ist kein „Held“. Als man ihm die „selbstgekauten“ Schachfiguren aus Toilettenpapier wegnimmt, weint er, den Hungerstreik gibt er auf, das „Geständnis“ unterschreibt er letztlich. Die Methoden der Stasi sind so ausgeklügelt wie perfide. Es gibt Prügel, Scheinerschießungen, Ampeln auf den Gängen, um Kontakte zwischen Gefangenen zu verhindern, Isolationshaft in engsten Arrestzellen, nächtliche Verhöre, „Behandlung“ mit Autoabgasen und Röntgenstrahlen – alles im Namen des Sozialismus und der Wahrheit. Die Stasi-Offiziere (ein ganz perverser wird nachdem russischen Panzer „T 34“ genannt) versuchen ihn zu erpressen, zu ködern, zu verbiegen. Er soll mit ihnen zusammenarbeiten, zugeben, dass er für den Mossad spioniert, sich von seiner „arischen Frau“ scheiden lassen – dann ließe man ihn ziehen. Um nicht verrückt zu werden, macht er autogenes Training, hält sich selbst oder anderen Gefangenen Medizinvorlesungen, spielt Märchen nach, singt, betet. Doch zwischen all den perversen Wächtern gibt es immer wieder auch „Menschen“: der Stasi-Arzt mit der KZ-Nummer auf dem Arm, der den Häftling warnt, dass man vorhabe, ihn lebenslang in die Psychiatrie zu stecken, wenn er nicht widerruft; der Offizier, der eine Nachricht von ihm an seine Frau in das Frauengefängnis schmuggelt… Nach zweieinhalb Jahren wird Held entlassen, auf Bewährung.
Dr. Anatol Held wurde 1975 – auf Intervention Herbert Wehners und des Staates Israel – aus der DDR freigekauft. Seit 2005 heißt er wieder Rosenbaum. Er lebt in Berlin-Grunewald und leidet unter Leukämie – vermutlich eine Folge der Röntgen-Bestrahlungen.
Rosenbaums Buch, 30 Jahre nach den Ereignissen entstanden, ist eine fast sachliche Schilderung der unmenschlichen Erfahrungen, mit selbstironischen, streckenweise komischen Zügen. Anders als in der Haft selbst, vergleicht er die DDR auch nicht mehr mit dem Nazi-Regime, konstatiert aber, dass wie damals einige Verbrecher bestraft wurden, während „das Volk in die nächste Epoche spaziert“ und „sie alle nichts gewusst haben“.
Das gilt noch immer.
_Anatol Rosenbaum: Die DDR feiert Geburtstag, und ich werde Kartoffelschäler. Lichtig Verlag, Berlin 2006

