Karibischer »Kibbuz«


Die »Domrep«, die Dominikanische Republik, hat heute ein wenig den Ruf eines All-Inclusive-Billig-Reiseziels mit mehreren Millionen Besuchern jährlich. Dass der Karibikstaat in der Zeit des Nationalsozialismus Juden aufgenommen hat, denen wiederum der Beginn des Tourismus zu verdanken war, ist kaum bekannt. Der in Santo Domingo lebende Autor Hans-Ulrich Dillmann und die Historikerin Susanne Heim erzählen die Geschichte dieser Menschen nun in ihrem Buch »Fluchtpunkt Karibik«.
Auf der internationalen Flüchtlingskonferenz von Évian im Juli 1938 hatte sich keines von 32 teilnehmenden Ländern gefunden, dass die in Deutschland und Österreich bedrohten Juden aufnehmen wollte – außer der Dominikanischen Republik im fernen Lateinamerika. Und auch das nur, weil der dominikanische Diktator Rafael Trujillo, der bis zu 20 000 haitianische Wanderarbeiter hatte abschlachten lassen, seinen international ausgesprochen miesen Ruf aufbessern wollte und als Rassist zudem sein dünn besiedeltes Land mit weißen Siedlern »aufzuhellen« wünschte (er selbst benutzte Bleichcreme). Dass aus den 10 000 und später 100 000 Juden, die der Operettengeneral Trujillo aufnehmen wollte, am Ende nur 500 oder 700 wurden und es noch anderthalb Jahre dauerte, bis die ersten in dem zugewiesenen Gebiet um Sosúa im Norden der Insel eintrafen, lag an dem politischen Schlingerkurs des so korrupten wie eitlen Despoten (der 1887 Denkmäler von sich hinterließ), an den sich ständig ändernden Visabestimmungen der Transitländer und den begrenzten Finanzen, die zur Verfügung standen. Das Projekt wurde von jüdischen Hilfsorganisationen, vor allem dem JOINT und der eigens gegründeten Dominican Republic Settlement Association (DORSA) unterstützt. Jedoch war es schwierig, die geforderten jungen und fitten potentiellen Siedler zu finden. Einige hatten etwas Ahnung von Landwirtschaft, die meisten aber nicht. Sie kamen aus Wien oder Berlin und hatten bis dahin weder Wellblechhütten oder Kuhställe jemals betreten, noch Banane gepflanzt oder Stroh geflochten.
DORSA teilte Kredite, Häuser, Kühe, Schweine und Hühner zu und hoffte, die neuen Siedler, die Colonos, könnten sich so selbst versorgen und später auch die Kredite zurückzahlen. Die Berichte der Verantwortlichen an die Zentrale in New York belegen jedoch, dass dies reines Wunschdenken war. Die demokratische Selbstverwaltung funktionierte nicht richtig, manche Siedler waren zu individualistisch und zu egoistisch und müssten ihre »Versorgungsmentalität« ablegen, wie die Berichterstatter meinten, andere waren den Anstrengungen nicht gewachsen, die nächsten betrieben heimlich ihre Weiterwanderung. Ein Desaster folgte dem nächsten. Siedler, die in Hachschara-Stätten in Brandenburg gelernt hatten, wollten die Tomaten unbedingt auch in der Karibik im April, also zum Beginn der Trockenzeit, pflanzen, andere ersäuften ihre Bananenstauden, weil sie die Regenzeit nicht bedacht hatten, die nächsten wandten Konservierungsmethoden an, die unter dem subtropischen Klima die Dosen explodieren ließen… Die Siedler waren genauso unzufrieden wie die Koordinatoren des Projekts. Hinzu kamen Krankheiten wie Malaria und Tuberkulose und der Umstand, dass zehnmal mehr Männer als Frauen in der Siedlung lebten.  Der Mangel an halachisch jüdischen Ehepartnerinnen war auch ein Grund, warum später etliche die Insel verließen; die meisten der Siedler waren jedoch areligiös. Die kleine Synagoge in Sosúa war wohl nur an wichtigen Feiertagen richtig gut besucht, obgleich Feste wie Pessach oder Chanukka doch gern zusammen gefeiert wurden, wie die erhalten gebliebenen Fotos zeigen. Etliche der jüdischen Flüchtlinge verließen jedoch das DORSA-Projekt und ließen sich in El Batey, dem Ortskern von Sosúa nieder, wo bald Cafés, Werkstätten, Läden, ein Kino und eine Bibliothek entstanden.
Dann kam der 8. Mai 1945, die Nachricht von der deutschen Kapitulation. Doch »es wurde nicht gefeiert, es wurde als selbstverständlich aufgenommen«, wie ein Augenzeuge berichtete. Viele Siedler hatten keine Angehörigen in Europa mehr, sie waren tot oder selbst emigriert. Man musste sich jetzt neu entscheiden. Die meisten wanderten bald nach Ende des Krieges weiter, vor allem in die USA. Einige blieben als Viehzüchter oder weil sie Dominikanerinnen geheiratet hatten. Hinzu kamen einige neue Familien, die in Shanghai überlebt hatten. Noch in den 60er Jahren wurde in Sosúa Deutsch oder Wienerisch gesprochen, es gab Schwarzwälderkirschtorte, »Bohnenkaffee« und eine Kegelbahn. Das idyllisch am Atlantik gelegene Sosúa war auch der einzige Ort der Insel, der damals schon ansatzweise Tourismus bot. Erst in den 80er Jahren mit dem Bau eines Flughafens für Langstreckenflüge begann dann der große Boom mit Hotelanlagen und Massentourismus im Ballermann-Stil.  Heute leben nur noch etwa 250 Juden in der Republik. Einer von ihnen, »Don Luis« (Ludwig) Hess, inzwischen 101, wohnt immer noch in Sosúa, das er mitaufgebaut hat. Sogar die örtliche Schule, an der früher, als sie noch die jüdische Schule war, auch Hebräisch und Religion unterrichtet wurde, ist nach ihm benannt. Die kleine Synagoge und ein Museum erinnern noch an die deutschsprachigen Juden. Und auch ihre Milch- und Wurstwarenproduktion, die sie seit den 1940ern landesweit unter dem Namen »Productos Sosúa« vermarket hatten, gibt es bis heute. 

_Mehr bei Hans-Ulrich Dillmann/Susanne Heim: Fluchtpunkt Karibik. Jüdische Emigranten in der Dominikanischen Republik. Ch.Links Verlag

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