Rotes „+“ für Töten


Die Aktion T4 ist benannt nach der Tiergartenstraße 4 und der streng geheimen Organisationszentrale für systematischen Krankenmord, die sich hier befand. In den Jahren 1940/41 fielen dieser „Patienten-Euthanasie“ über 70000 behinderte und „sozial oder ras- sisch unerwünschte“ Menschen zum Opfer.Vorausgegangen war 1939 ein Geheimerlass Hitlers zur „Gewährung des Gnadentodes“ bei „unheilbar Kranken“, der bis 1945 die einzige „Rechtsgrundlage“ blieb, auf deren Basis der NS-Staat „Euthanasie“ praktizierte. Vor dem Ausbau der Zentrale in Berlin und der Gründung von weiteren Tarnorganisationen (u.a. die Gemeinnützige Krankentransport GmbH) waren bei der sogenannten „Kindereuthanasie“ 1939 bereits mindestens 5000 Kinder und Säuglinge ermordet worden.

Bei der „Erwachseneneuthanasie“ nun wurde mit einem eigenen Meldebogenverfahren die Arbeitsfähigkeit aller Anstaltsinsassen registriert und in einer nächsten Stufe Selektionskriterien erfasst. Die Meldebögen wurden an die T4-Zentrale weitergeleitet und hier von Gutachtern bewertet. Diese trugen ihre Entscheidung auf dem Meldebogen ein:einrotes „+“ für„Töten“, ein blaues „–“ für „Weiterleben“. Die Patienten wurden später in sechs eigens eingerichteten Tötungsanstalten vergast, so in Grafeneck, Sonnenstein und Hadamar.

Nachdem trotz aller Geheimhaltung Details des Geschehens an die Öffentlichkeit gedrungen waren, wurde die Aktion T4 offiziell eingestellt. Gemordet wurde weiter. In der „Aktion Brandt“, benannt nach Karl Brandt, dem Begleitarzt Hitlers, wurden Patienten mit überdosierten Medikamenten oder durch Verhungern lassen gezielt getötet. Durch diese sogenannte „wilde Euthanasie“ starben etwa 30000 Menschen. So ist im Buch der Fall einer Frau D. beschrieben, deren Fami- lie vergeblich versuchte, sie aus der Klinik zu holen und die durch Dauerverabreichung von hochdosierten Barbituraten vergiftet wurde. Ein anderes Kapitel widmet sich dem Schicksal des Malers und Regierungsbaumeisters Paul Goesch, der als Erwachsener psychisch erkrankte und 1940 ermordet wurde.

Auslöser für die Herausgabe des Sammelbands war jedoch der „Fall Albrecht“. Frau Prof. Dr. Rosemarie Albrecht hat Walter Ulbricht behandelt, war Dekanin an der Universität Jena, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, „Verdienter Arzt des Volkes“ und Nationalpreisträgerin. Allerdings hat sie nicht nur eine steile Karriere in der DDR hinter sich, sondern auch eine in der NS-Zeit, die sie wohlweislich verschwieg: Im Krankenhaus für Psychatrie in Stadtroda/Thüringen starben unter ihrer Aktenführung von 1940 bis 1942 über 150 Frauen und elf Kinder. Erwiesen ist, dass hier mit Beruhigungsmitteln in Überdosis getötet wurde. Das wusste in den 1960er-Jahren auch schon das Ministerium für Staatssicherheit – nur vertuschte das MfS die Vergangenheit der Vorzeige-Ärztin und den Operativen Vorgang „Ausmerzer“. Denn „man hat genaue Unterschiede gemacht“, so Dr. Werner Platz, „Prominente, die für das (DDR-)System gewonnen werden konnten, drohte keine Strafverfolgung“.

Der inzwischen verstorbene Dr. Werner Platz, dazumal Leiter der Psychiatrischen Institutsambulanz im Vivantes- Humboldt-Klinikum. war im Auftrag der Staatsanwaltschaft Gera als Psychiater beauftragt, den Fall Albrecht zu begutachten. Er hat weitere Spezialisten herangezogen wie Prof. Volkmar Schneider, Ordinarius für Rechtsmedizin an der Charité. Aufgerollt wurde der Fall Albrecht erst wieder, so erzählt er, als Angehörige von Ermordeten nachfragten und nach dem Mauerfall die Akten wieder zugänglich wurden (in den Stasi-Archiven lagerten noch 30 000 NS-Krankenakten). Die Gutachter sahen die Schuld Albrechts als erwiesen an.

„Besonders heimtückisch“, nannte es der Arzt Platz, dass hier Mediziner ihre schutzbefohlenen Patienten systematisch mit Schlafmitteln umbrachten. Das verwundert nicht, wirkten doch alle beteiligten Ärzte freiwillig an der „Euthanasie“ mit, oft sogar mit Begeisterung, und waren in manchen Regionen Deutschlands über die Hälfte aller Ärzte NSDAP-Mitglieder. Im Jahre 2000 begann die Staatsanwaltschaft Gera jedenfalls gegen Rosemarie Albrecht zu ermitteln, 2004 wurde das Verfahren eröffnet, 2005 wurde es eingestellt – wegen Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten. Damit gilt Frau Albrecht als unschuldig. Die Mediziner, die für sie aussagten und sie verteidigten („Staatlich sanktionierter Rufmord“ und „Hetze gegen eine verdienstvolle Frau“ waren noch die mildesten Schlagzeilen), waren alles ehemaligeSchüler von ihr – „alte Seilschaften eben“, wie Werner Platz anmerkte. 

Der Fall Albrecht ist abgeschlossen. Für den Arzt Dr. Platz bleibt bei allem wichtig, dass wir „genau hinsehen und wachsam bleiben müssen, auch heute, wo im Gesundheitswesen wieder mit dem Faktor Kostendruck und mit Begriffen wie Sterbehilfe jongliert wird“.          

 _Todesurteil per Meldebogen, Ärztlicher Krankenmord im NS-Staat. Beiträge zur „Aktion T4“, W. E. Platz/ V. Schneider (Hg.), Hentrich & Hentrich 

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