Ein Gedenkbuch für die in das Getto Litzmannstadt deportierten Berliner Juden
»Der Mond bietet ein grauenhaftes Bild. Grosse Lastwägen sind vollgestopft mit Kindern und älteren Personen. Weinende und laut schreiende Menschen laufen um die Autos herum. Mütter und Väter strecken flehend die Arme nach ihren Kindern aus. Die Kinder schreien nach ihren Müttern…«
»Ich muss Michael aufwecken, und versuche, ihn anzuziehen. Aber das Zittern meiner Hände macht es mir unmöglich, auch nur einen einzigen Knopf zu schliessen. Mein Mann nimmt mir die Arbeit ab. Mit eiserner Ruhe macht er die nötigen Handgriffe. Er nimmt Michael, der von dem ganzen Vorgang nichts versteht, an die Hand, und folgt den Polizisten zur Tür. Ich will auf mein Kind zustürzen und es in meine Arme reissen, aber Ulli bedeutet mir mit den Augen, dass ich es nicht darf. Mit einer Stimme, die bestimmt ist und keinen Widerspruch duldet, sagt er zu mir ›Ich bringe Michael wieder.‹…«
Diese Beschreibung – in der es darum geht, dass der sechsjährige Michael dank der guten Beziehungen seines Vaters Julius (Ulli) zur Gettopolizei der Deportation aus Litzmannstadt zur Vergasung nach Kulmhof entgeht – stammt aus einem Bericht seiner Mutter Ruth Tauber, die mit ihrer Familie im Oktober 1941 in das Getto Litzmannstadt deportiert worden war – wie weitere über 4200 Juden aus Berlin (wo zu der Zeit noch etwa 70 000 von einst 170 000 Juden lebten). Die meisten von ihnen starben hier oder wurden später in Kulmhof und Auschwitz vergast.
Ingo Loose, Julian Baranowski und eine deutsch-polnische Studentengruppe haben zwei Jahre lang in Archiven recherchiert und weltweit Überlebende und Angehörige befragt. Sie erzählen die Geschichte der Berliner Transporte und die von 78 Personen aus diesen Transporten und sie haben die Liste der Deportierten überarbeitet und den Essays auf 120 Seiten nachgestellt.
Die Berliner, die über das Durchgangslager in der Synagoge Levetzowstraße und den Bahnhof Grunewald in das Getto Litzmannstadt gekommen waren, wurden hier wie die 200 000 anderen Juden aus Łódź, Prag oder Wien und 5 000 Roma aus dem Burgenland auf engstem Raum (auf jede Person kamen durchschnittlich drei Quadratmeter) zusammengepfercht, unter katastrophalen Bedingungen ohne Kanalisation und fließendes Wasser und bei ständigem Hunger.
Für die polnischen Juden waren die Neuankömmlinge Konkurrenten um die kärglichen Brotrationen und die wenigen Arbeitsplätze. Zudem galten sie als arrogant, (zunächst auch) »wohlhabend« und nicht »richtig« jüdisch. Oskar Singer kolportiert in seinem Getto-Tagebuch den Witz, dass der Westjude nur so heiße, »weil doch seine Jüdischkeit angeblich nur bis zur Weste reicht.« In jedem Fall verfügten die städtischen Berliner – Ärzte, Anwälte, Angestellte – kaum über geeignete Überlebensstrategien. Hinzu kam, dass die meisten von ihnen alt waren. Shlomo Frank schreibt in sein Tagebuch: »Heute sind 1 000 Juden aus Berlin ins Getto gekommen. Beinahe 90 Prozent von ihnen sind alte Leute, gebückt, gebrochen, die sich kaum auf den Beinen halten können.«
Tatsächlich war der überwiegende Teil über 60 Jahre alt, ein Drittel sogar über 70, und bislang sind nur 23 Berliner namentlich bekannt, die überlebt haben (aus den »jüngeren« Prager Transporten sind es dagegen 277 Personen). Dennoch gab es auch etliche Hochzeiten unter den Berlinern und sogar drei Geburten. Keines der Babys – Gitta, Recha und Tana – hat überlebt. So wie die meisten anderen verhungerten sie.
Noch einmal Ruth Tauber: »Wir waren immer hungrig, Tag für Tag, und Woche um Woche, denn wir hatten niemals eine ausreichende Mahlzeit. Aber keiner von uns beklagte sich. Bei wem auch? Nicht einmal Michael, der nun bereits sieben Jahre alt war. In Berlin, wenn er als kleiner Junge gesungen hatte ›Winter ade, scheiden tut weh‹ hatte ich mir das Lächeln verbeissen müssen, als ich ihn aber eines Tages mitten im Sommer leise vor sich hinsingen hörte ›Winter ade, Hunger tut weh‹ kamen mir die Tränen, und wenn ich ihn nach vollendetem Abendessen mit seiner Fingerspitze die Brotkrumen vom Tisch und Fussboden aufpicken sah, blutete mein Herz.«
Der Hunger war das Schlimmste. Aus Hunger wurden Diebstähle, Morde und Selbstmorde begangen. So berichtet das Buch beispielsweise von Alfred Liebmann, Sohn eines Kreuzberger Rauchwarenhändlers, der zwar als einer der wenigen Berliner Arbeit in der Kürschner-Abteilung fand und so zweieinhalb Jahre dank zusätzlicher täglicher »Ressortsuppe« überleben konnte, sich dann aber laut Getto-Chronik am 24. Mai 1944 erhängte. In der Chronik steht auch warum: »Liebmann Alfred beging aus Verzweiflung darüber Selbstmord, dass man ihm im Kürschner-Ressort aus angeblich disziplinären Gründen die Zusatzsuppen entzogen hat.«
Immer wieder ist zu lesen: »Selbstmord. Lota Hirszberg, 56 Jahre alt, eine Vertriebene aus Berlin /ul. Urzędnicza 13/, vergiftete sich mit einer starken Dosis Schlafmittel.« – »In der Nacht vom 6. auf den 7. d.M. nahm das Ehepaar Landsberger, das aus Berlin angekommen war, in seiner Wohnung in der ul. Ciesielska 18 Veronal ein.« – »Am 4. März nahm sich die 1886 in Brody geborene Sara Tenenbaum /ul. Gnieźnieńska 26/ das Leben, indem sie sich von der Brücke über der ul. Zgierska in der Nähe der Kirche auf die Fahrbahn stürzte.« Und so weiter.
Das angemessen zurückhaltend gestaltete Gedenkbuch mit seinen Lebensläufen, Geschichten, Namen und Adressen holt die Kinder und die Alten, Frauen und Männer der Berliner Transporte aus dem Vergessen zurück. Die eindrucksvollen Fotos aus dem Getto-Alltag, die sich heute im Staatsarchiv Łódź befinden, stammen vermutlich von den Gettoinsassen Henryk Ross oder Mendel Grossman.
Abbildungen: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Berliner Juden im Getto Litzmannstadt 1941–1944. Ein Gedenkbuch.



