Familie aus Papier

Hannacha M.

Die aktuellen Berichte über Leute, die ihre Biografie als Holocaustopfer erfunden haben (Stichwort Wilkomirski-Syndrom/Kostümjuden) erinnern mich an einen Fall von der anderen Seite des Tisches. Viele Juden suchen nach ihrer Familie, ihrer Herkunft, ihren Wurzeln. Wie aber geht man damit um, wenn man erfährt, dass der als Held imaginierte Großvater, nach dem man sich so gesehnt hat, ein kleiner Ganove und ein Arschloch war?

Ein tschechischer Jude, dessen Mutter kurz zuvor in Prag gestorben war, kam eines Tages zu mir, weil er seine Großeltern suchte. Seine Mutter war nach dem Krieg von einer tschechischen Familie adoptiert worden und hatte selbst nie die Kraft dazu gehabt. Ihr Name und ihr Geburtsdatum waren nur dank des Schildes bekannt, das sie um den Hals trug, als sie 1943 aus Berlin nach Theresienstadt deportiert wurde: Hannacha M., geboren 21. Juni 1940. M. junior hatte in Yad Vashem lediglich herausbekommen, dass sie in der Berliner Uhlandstraße 118 gewohnt hatte, Angaben über ihre biologischen Eltern gab es nicht.

Seine Familie wieder „zusammenzusetzen“, hat über zwei Jahre gedauert. Dazwischen hunderte Aktenblätter, endlose Korrespondenzen, Irrwege und Sackgassen. Immer, wenn irgendein Adressbuch, ein Standesamt, ein Friedhof, ein Gefängnisarchiv ein Puzzlestück freigegeben hat, schrieb ich ihm sofort. Er war jedes Mal sehr aufgeregt und geriet in einen Begeisterungsrausch. Schließlich wuchs der neue Stammbaum um Urgroßmütter und -väter, Tanten und Onkel, Adressen, Grabstellen und immerhin war er verwandt mit Selmar M., einem bekannten Musiker und Dirigenten, und auch sein Opa, 1899 in Berlin geboren, hatte seinen Beruf irgendwo mit „Schriftsteller“ angegeben, wie ich ihm mitteilen konnte.

Relativ schnell hatte ich auch herausgefunden, dass Juniors Mutter, Hannacha, im jüdischen Krankenhaus geboren war, ihre Eltern Therese und Hans hießen, ein Sohn der beiden – Frank – schon vor dem Krieg an Diphterie gestorben und in Weißsense begraben und der zweite Sohn – Peter – mit der Mutter zusammen 1942 nach Reval deportiert worden war. Nur wo der Vater geblieben war und warum die Tochter – die damals zweijährige Hannacha – nicht zusammen mit Mutter und Bruder deportiert wurde und wo sie bis zu ihrer eigenen Deportation war, blieb lange unklar. 
Mit der Zeit ließ sich einiges rekonstruieren, so, dass Hans und Therese 1936 geheiratet hatten, dass Therese, die eigentlich Zahntechnikerin war, in einer Wäscherei in Heinersdorf zwangsverpflichtet wurde und da Juden nicht mehr mit der Bahn fahren durften, dorthin laufen musste und ihre Tochter Hannacha wohl bei einer Pflegemutter untergebracht hatte oder in einem Kinderheim. Die Heime wurden Ende 42 geschlossen, die meisten Kinder ins Jüdische Krankenhaus gebracht und deportiert, wenn die Nazis ihre jüdische Herkunft beweisen konnten.

Aus der „Vermögenserklärung“, die Therese ausfüllen musste, geht hervor, dass die Familie in einer 3-Zimmerwohnung gelebt und 89,- Reichsmark Miete gezahlt hatte und dass den Nazi-Schergen ihre Habseligkeiten, die Möbel, das Kinderbett, die Stühle ganze 890,- Reichsmark wert waren. Allein die Hälfte davon will die Hausverwaltung ein halbes Jahr später von der „Vermögensverwertungsstelle“ für „die Mietausfälle der abgeschobenen Juden“ zurück. Ein ähnliches Schreiben existiert auch von der BEWAG, die die Stromkosten anmahnt. Wie viele Formulare und Vordrucke und wie viele kleine Beamte müssen in diesen Apparat involviert gewesen sein – und niemand hat etwas davon gewusst!

In der Bibliographia judaica finde ich endlich den Anfang des roten Fadens zu Juniors Opa: „Hans M.-Ehringshausen, Journalist, Schicksal ab 1938 ungeklärt“. Nun, da waren wir schon weiter – immerhin wissen wir, dass er im Juni 1940 noch Vater einer Tochter geworden war. Hans hat in den 20er Jahren für die Vossische Zeitung geschrieben, in dem antisemitischen Lexikon „Sigilla veri“ von 1931 hat er einen eigenen Eintrag und in einem Artikel über die „betrügerische jüdische Linkspresse“ von 1928 in der „Deutschen Zeitung“ steht, dass Hans in einen Prozess verwickelt war und er wird zusammen mit anderen Journalisten, unter anderem dem Bruder von Ernst Toller, beschimpft.

Im Bundesarchiv finde ich dann eine „Liste über Angehörige der Vereinten Nationen“ von 1946, nach der Hans mindestens bis 1942 noch gelebt hat, und zwar als Insasse eines Gefängnisses in Landsberg am Lech. Merkwürdig, ein „Volljude“ 1942 in einem Strafgefängnis und nicht im KZ… Landsberg war ein Gefängnis für Häftlinge, die Bagatelldelikte begangen hatten oder bei denen schon das Ende der Strafe in Sicht war. Haftende, 1942, bei einem Juden? 
Das Bayrische Staatsarchiv hilft weiter. Hans wurde im Frühjahr 1942 in Wien wegen Ladendiebstahls zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, saß dann in Landsberg und wurde im Oktober der Kripo Berlin überstellt. Aus dem Polizeigefängnis Berlin schreibt er an die Kriminalinspektion und bittet um die Entsiegelung seiner Wohnung in der Uhlandstraße, um Kleidungsstücke und wichtige Papiere, da er nur die Kleidung habe, die er trage und demnächst in ein KZ transportiert werden solle. 
Offenbar hat er gewusst, dass Therese bereits deportiert war, denn er bittet darum, eine Annaliese Sara A. aus der Bayreuther Straße in Kenntnis zu setzen, weil diese seiner Frau bis zur „Evakuierung“ zur Seite gestanden hätte. 

Aus einem Vermerk des Standesamtes erfahre ich aber, dass Therese 1941 die Scheidung wegen „Aufhebung der Ehe“ beantragt hatte. Da sein Aufenthaltsort laut Scheidungsurkunde unbekannt war, hat er wohl davon nichts gewusst und deswegen in seinem Brief aus dem Gefängnis immer noch von „seiner Ehefrau“ gesprochen.
Ich frage mich natürlich, warum sich jemand 1942 scheiden lässt. Die Deportationen hatten schon begonnen. Therese hatte nach dem Tod ihres ersten Sohnes noch zwei Kinder, sie war Zwangsarbeiterin, Alleinverdienerin und trug den Stern am Mantel. Hans war ohnehin weg und sie hatte die Probleme des Alltagslebens zu lösen – Lebensmittelkarten, Unterbringung der Kinder usw. Bald bekommen ich Hilfe: das Landesarchiv hat die Strafakte von Hans gefunden. 
Hans, Sohn einer Kantorentochter und ohne Vater aufgewachsen, konnte sich offenbar mit seiner Schriftstellerei nie über Wasser halten. Er wurde in x Städten verurteilt, immer wegen „Urkundenfälschung in Tateinheit mit Betrug“. Nachdem er Therese geheiratet hatte, schien er solider geworden zu sein. Im Frühjahr 1938 ließen jedoch Kriminal- und Staatspolizei in einer gemeinsamen Aktion Juden verhaften und steckte sie in „Vorbeugehaft“ in Konzentrationslager. Auch Hans ist in Buchenwald. Während dieser Zeit wird sein Sohn Peter geboren und stirbt Frank, der erste Sohn. Hans wird im April 39 „beurlaubt“, um seine Auswanderung zu betreiben. Er kehrt zunächst nach Berlin zurück. 

Hannacha wird geboren. Er betätigt er sich als Zwischenhändler für Juden, die ihre Möbel und Wertgegenstände verkaufen müssen. Im Herbst 41 wird ein Haftbefehl gegen ihn erlassen, weil er jemanden unter Vorspiegelung falscher Tatsachen mit einer gefälschten Quittung ein Darlehen von 2000 RM abgenommen und nicht zurückgezahlt hatte. Hans flieht. Therese wird befragt und sagt aus, dass er wahrscheinlich mit seiner Geliebten, einem Fräulein A., nach Wien gefahren ist. Ah, dieselbe A., die Hans in seinem Brief aus dem Gefängnis benachrichtigt haben wollte und die vermeintlich seiner Frau bei der Wohnungsauflösung geholfen hatte. Arme Therese! Zu allem muss sie nun seine Lebensmittelkarte sofort abgeben, wie die Polizei vermerkt. Ordnung muss sein.
Die Anfrage der deutschen Kripo in Wien bringt zunächst nichts, doch schon im Oktober 41 wird Hans dort bei einem Ladendiebstahl erwischt und zu einem Jahr Haft verurteilt. Nachdem er die Strafe in Landsberg abgesessen hat, wird er aufgrund des Haftbefehls aus Berlin dorthin überstellt. Genau eine Woche vorher waren seine Frau Therese und sein Sohn Peter deportiert worden.
An sich ist der neue Straftatbestand eine Bagatelle – aber Hans ist vielfach vorbestraft und er ist Jude. Fünf Jahre Zuchthaus lautet das Urteil. Aber es gab offenbar einen Kompetenzstreit zwischen Justizministerium und Polizeiapparat, der erklärt, warum Hans nicht einfach in ein Vernichtungslager kam. Das Reichssicherheitshauptamt musste nämlich mit den jeweiligen Stellen Sondervereinbarungen treffen, um Juden zu deportieren, die in Heilanstalten und Gefängnissen einsaßen. Die Justiz möchte Hans in das zuständige Zuchthaus Brandenburg stecken, die Kripo jedoch in das KZ Lublin. Die Polizei setzt sich über den Wunsch der Justiz hinweg und schickt Hans im Dezember 42 nach Lublin. Die Staatsanwaltschaft verlangt einen Monat später seine Rücküberführung. Die Polizei antwortet, dass sie aufgrund der Vorstrafen und der Sonderbestimmungen für Juden für den Verbleib in Lublin plädiert. Im März 43 gibt sich die Justiz geschlagen und setzt das Urteil aus. Die Staatsanwaltschaft schickt den Vorgang zwecks Übernahme der Strafvollstreckung an die Polizei. Diese sendet ihn am 28. Januar 44 mit der Bemerkung „Die Strafvollstreckung ist hier übernommen worden“ zurück. Es ist die letzte Seite in der Akte. Und das Ende der Recherche.
Am Anfang hatte ich gedacht: Würde Hannacha doch noch leben! Sie bekäme ihre Eltern und ihren Namen zurück. Später dachte ich, es ist vielleicht besser, dass sie von all dem nichts wusste und ihr keine neuen Wunden zugefügt wurden. Sie ist mit fünf Jahren befreit worden, hat ein neues Leben bekommen, andere Eltern, einen anderen Namen und eine andere Sprache. Aber wie sollte ich ihrem Sohn, M. junior, beibringen, dass sein Großvater kein Scholem Alejchem war, sondern eher eine Figur aus seinen Geschichten? Ich habe lange gezögert und ihm am Ende all das dann doch ganz sachlich mitgeteilt. Er hat sich nie wieder gemeldet. 

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