Dibbuk

Am 9. Dezember 1920, einen Monat nach seinem Tod, wurde Salomon An-skis Theaterstück „Der Dibbuk“ von 1914, durch eine Wilnaer Truppe im Elyseum-Theater in Warschau uraufgeführt. Es erzählte die Geschichte einer jungen Braut, die am Vorabend ihrer Hochzeit von einem Dibbuk besessen war und gilt als wegweisendes Werk in der Entwicklung des jiddischen Theaters. Das Stück basierte auf jahrelangen Recherchen An-skis, der zwischen jüdischen Stetl in Russland und der Ukraine reiste und Volksglauben und Geschichten der chassidischen Juden dokumentierte. 1937 wird der Dibbuk verfilmt, Leonard Bernstein komponierte ein Ballett basierend auf dem Stück. Und auch die Brüder Joel und Ethan Coen lassen Eröffnungsszene von „A Serious Man“ ein Paar in Stetl-Tracht Besuch von einem totgeglaubten Mann bekommen. Die Frau erklärt ihn zum Dibbuk…

Nach der jüdischen Folklore ist ein Dibbuk eine gestörte Seele, die den Körper eines Lebewesens besetzt. In frühen biblischen und talmudischen Berichten werden sie „Ruchim“ („Geister“) genannt. Das Wort Dibbuk ist eine jiddische Adaption des hebräischen Wortstamms davek („anklammern“, „anhaften“, „spalten“). Ein Dibbuk ist gewissermaßen ein klebriger böser Geist, ein verstorbener, körperloser Unzufriedener, der sich an eine(n) Lebende(n) klammert, um von seinen Problemen Abwechslung zu finden.

Das Phänomen der Überwindung durch einen jenseitigen Geist hat im Judentum eine lange Geschichte. Schon im Buch Samuel befreit David den König Saul durch sein Harfen-Spiel von „einem bösen Geist der Melancholie Gottes“. Im apokryphen Buch Tobit (Tobias) wird eine schöne Braut namens Sarah von einem Dämon geplagt, der alle sieben ihrer Ehemänner in ihrer Hochzeitsnacht getötet hat. Sie wird schließlich befreit, nachdem der Engel Raphael Tobit anweist, Sarah zu heiraten und den Dämon zu vertreiben, indem er die Leber und das Herz eines Fisches verbrennt. Jüdische Quellen berichten auch, dass im ersten Jahrhundert Exorzismen durchgeführt wurden, bei denen Medikamente mit giftigen Wurzelextrakten verabreicht oder Opfer dargebracht wurden.

Während der Glaube an böse Geister, Besessenheit und Exorzismus also bis weit in die Antike zurückreicht, hatte der Glaube an Dibbuks vor allem im 16./17. Jahrhundert Konjunktur (die Philosophen Maimonides und Ibn Esra bestritten indes ihre Existenz), als die Kabbala in Tzfat im Norden Galiläas florierte. Die Kabbalisten erforschten die Geheimnisse der Seele und ihrer Inkarnation und schrieben auch spezielle Formeln für Sterbende vor, um Dämonen, die durch schwere Sünden der Sterbenden angezogen wurden, unter Kontrolle zu bringen und um den Sterbenden zum Bereuen zu bringen, der andernfalls nach seinem Tod in einem spirituellen Schwebezustand (Gehenom) stecken blieb. Der Kabbalist Isaac Luria (1534–1572), der den Zusammenhang zwischen der physischen und der spirituellen Welt und die Zusammenarbeit spiritueller Wesen mit den Menschen betonte, machte die Verwendung von Beschwörungsformeln für mystische Zwecke und zur Abwehr von Dämonen („Tiḳḳun Shabbat“) populär.

Die Dibbuks selbst sollen aus der Gehenna, dem jüdischen Fegefeuer, geflohen sein oder sogar dort abgewiesen worden sein, weil sie Übertretungen begangen hatten, die für die Seele zu schwerwiegend waren, um ihnen Zutritt zu gewähren (Suizid z.B). Die Dibbuks gehen nun ihren negativen Neigungen nach und versuchen, einen Wirt dazu zu bringen, dieselben Fehler und Sünden zu begehen, die sie zu Lebzeiten begangen haben. Am meisten hingezogen fühlen sie sich dabei zu Personen, deren Geist und Körper nicht vollständig miteinander verbunden ist (z.B. bei schweren Depressionen, Psychosen oder Medikamentensucht) oder die mit den gleichen schlechten Gewohnheiten oder Gefühlen kämpfen wie sie (Alkohol, Einsamkeit oder dergleichen). 

Die Dibbuks sind meist männlich und nehmen vorzugsweise von Frauen Besitz, in manchen Fällen auch von Grashalmen oder Tieren und von Menschen, die in Häusern mit vernachlässigten Mesusot leben (als Hinweis darauf, dass sie nicht sehr spirituell sind). Im Fall von Frauen nahmen die Dibbuks oft einen sexuellen Ton an (manche Frauen durften deswegen auch nicht an Beerdigungen teilnehmen), manchen drangen bei jungen Frauen auch durch die Vagina ein. In den Zeiten der arrangierten Ehen konnte eine Frau, die zu einer Ehe gezwungen wurde, in gewisser Weise durch Besessenheit erkranken – eine Reaktion auf eine Situation, mit der sie anders nicht umgehen konnte…

Neben die Besessenheit durch böse Dibbuks wurde aber auch an eine positive Besessenheit geglaubt: sod ha’ibbur („geheimnisvolle Befruchtung“). Hier fungiert ein guter Ibbur als eine Art „spiritueller Führer“ oder Schutzengel, der dem Menschen bei seinen Prüfungen und Nöten hilft, während er selbst diese Probleme bereits überwunden hat. Er muss auch nicht exorziert werden, sondern verlässt den Gastgeber, sobald seine Mission erfüllt ist. 

Um den Körper einer besessenen Person und den Dibbuk von seinen Irrtümern zu befreien, wurden in der Realität wie in An-skis Stück Exorzismen durchgeführt. In den meisten Überlieferungen ist der Exorzist ein frommer Mann, manchmal flankiert von einem Maggid (wohltätiger Geist) oder einem Engel oder einem Minjan (einer Gruppe von zehn jüdischen Erwachsenen). Nicht alle Rabbiner kannten die Techniken; diejenigen, die sie praktizierten, wurden Ba’alei Shem („Meister des Namens“) genannt. 

Als erstes wurde der Dybbuk jedenfalls nach seinem Namen befragt (laut Volksglauben ermöglicht die Kenntnis seines Namens einer sachkundigen Person, dem Geist Befehle zu teilen und ihn zu beherrschen) und nach seinen Motiven. Die Schritte zur Austreibung eines Dybbuks sind von Geschichte zu Geschichte unterschiedlich. Oft wird Rauch verwendet, um den Geist auszutreiben, das Schofar geblasen und es werden biblische Verse rezitiert. Manche Exorzisten halten eine leere Flasche und eine weiße Kerze in der Hand und befehlen dem Dibbuk in formelhaften Beschwörungen seinen Namen preiszugeben, dann die Person zu verlassen und sich in die Flasche zu begeben (die daraufhin rot aufleuchtet:) Dabei geht es normalerweise nicht darum, den Dibbuk zu überwältigen, sondern darum, ihn zunächst zu schocken und ihm dann klarzumachen, dass er gehen muss. An spiritueller Erlösung interessierte Kabbalisten versuchten auch, mit dem Eindringling zu verhandeln und in einem Akt der Wiedergutmachung für ihn einzutreten, damit er in ein optimistischeres, erträglicheres Leben nach dem Tod eintreten konnte. 

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert begann die Zahl der gemeldeten Fälle von Dibbuk-Inbesitznahme zu sinken, was sicher auf den schwindenden Glauben an das Okkulte, das wachsende Verständnis von Geisteskrankheiten und eine größere Freiheit bei der Wahl des Ehepartners zurückzuführen war. Doch einige Rabbiner, insbesondere unter chassidischen Juden, führen heute noch Exorzismus-Rituale durch.

Hinterlasse einen Kommentar