Die Sprüche der (vielen) Väter

Hat sich Karl Marx den ihm zugeschriebenen berühmten Slogan „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ oder die Redewendung von der Religion als „Opium des Volkes“ ausgedacht? Nicht wirklich. 

Einen Vorläufer der Proletarier, die sich gefälligst vereinigen sollen, finden wir schon in einem Brief vom 26. August 1846 aus London an Friedrich Engels in Brüssel: „…Wir haben im Sinn, eine Adresse an die Proletarier zu erlassen und sie aufzufordern, sich überall, wo sie mit dänischen Arbeitern zusammen kommen, zu vereinigen.“ 

Der Briefschreiber war Karl Schapper (geboren heute vor 211 Jahren). Der hessische Pfarrerssohn, einstige Student der Forstwissenschaft, Schriftsetzer, Gießener Burschenschafter, Teilnehmer an Georg Büchners Verschwörung und am Frankfurter Wachensturm, lebte seit 1840 im Londoner Exil, leitete dort das Kommunistische Korrespondenz-Komitee und verfasste Beiträge, Reden und Appelle, die im Arbeiter-Bildungsverein diskutiert wurden. So sind auch manche seiner Sentenzen und Gedanken in das „Manifest“ und andere Marx-Engels-Schriften gelangt, wie Schappers Formulierung von der „Systemkrämerei“ oder seine Schmähung der „wahren“ Sozialisten, die man bekämpfen müsse, weil sie statt auf den notwendigen Kampf zu setzen, von klassenversöhnlerischer „seichter Liebesduselei“ erfüllt seien (bei Marx/Engels liest sich dann als „liebesschwüler Gemütstau“).

Die Übernahme seines „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ ins „Manifest“ erfolgte indes wortwörtlich. Im Juni 1847 hatte sich der Londoner Kongress des neuen „Bundes der Kommunisten“ (Marx in Brüssel wurde durch Engels und „Lupus“ Wolff vertreten), eine Art Zentralbehörde geschaffen. Über TOP 3 des Kongresses – „Formulierung eines kommunistischen Glaubensbekenntnisses“ in Form eines Frage-Antwort-Schemas (Was ist Kommunismus, was ist Proletariat? usw.) – wurde man sich zunächst nicht einig. Engels formulierte den Katechismus in den kommenden Monaten aus und nutzte ihn dann für den Vorentwurf des Manifests. Einigkeit bestand auf dem Kongress nur über den TOP „Gründung einer Kommunistischen Zeitschrift“ als monatlichem Organ. Und für die war nun Karl Schapper zuständig, der seine Aussage aus dem Brief an Engels vom Vorjahr zu einer knackigen allgemeinen Formel verkürzte und sie der ersten (und einzigen) Ausgabe der „Kommunistischen Zeitschrift“ vom September 1847 als Motto voranstellte: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“

Erst weitere fünf Monate später, auf dem 2. Bundeskongress Ende November, erhielten Marx und Engels dann den endgültigen Auftrag, für den 3. Kongress ein Grundsatzprogramm auszuformulieren. Engels steuerte seine Vorarbeit bei und Marx musste von seinen Genossen gedrängelt werden, weil er zeitlich in Verzug kam. Aber im Februar 1848 war das Manuskript dann doch fertig und wurde Karl Schapper zur Korrektur und für den Druck übergeben. Vertrieben wurde es aber erst ein paar Monate später. In der Zwischenzeit hatte Schapper die vom „Komitee“ (Marx, Schapper, Engels, Wolff, Bauer, Moll) unterzeichneten „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland“ als Flugblatt, ebenfalls mit seinem Slogan „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“, drucken und verbreiten lassen. Als die Leser die Erstausgabe des „Manifests der Kommunistischen Partei“ (und noch ohne Verfasserangaben) zu sehen bekamen, war es in Wirklichkeit also schon die dritte Publikation, die – hier auf dem Titel und als letzten Satz – den markanten Spruch trug.

Das „Manifest“ und andere Schriften, die heute nur noch mit der Autorschaft von Marx und Engels verbunden werden, waren in vieler Hinsicht Patchwork mit vielen (ungenannten) Vätern. Nehmen wir Victor Considérant. Der hatte in seiner Schrift „Principes du socialisme, Manifeste de la démocratie au XIX. Siécle“ 1843 schon beinahe alle theoretischen Grundlagen des „modernen“ Marxismus entwickelt, die sich fünf Jahre später bis hin zu den Titeln einzelner Kapitel in einer so frappierend ähnlichen Weise im „Manifest“ wiederfinden, dass heutige Plagiatsjäger in lauten Jubel ausbrechen würden. Möglicherweise hatte Engels auch diese Schrift im Kopf, als er entschied: „Wir titulieren das Ding ‚Kommunistisches Manifest‘“ (statt „Katechismus“).

Und so geht es weiter: Marx‘ Terminologie vom Mehr-(Wert) wurde lange vor ihm von Simon de Sismondi definiert; William Thompson bezog bereits alle seine Untersuchungen in den 1820er-Jahren auf ihn. Weder Marx noch Engels haben an den passenden Stellen jemals Louis Blanc zitiert, von dem sie ihre Lehre von der Rolle des Staates in der kommunistischen Gesellschaft abgekupfert hatten. Engels wiederum hat 1844 Eugene Burets Studie „La misère des classes laborieuses en France et en Angleterre von 1840 zum Teil fast wörtlich übernommen. Andere seiner Metaphern finden wir im „Manifest“ wieder, wenn auch in kürzer und prägnanter formuliert. Buret schreibt: „…Die Kette, die den Leibeigenen an die Scholle fesselte, ist zerbrochen; aber der Ring, der sie an den Körper des Sklaven schmiedete, ist damit nicht zerbrochen […]. Die vereinten Anstrengungen von Geduld, Arbeit, Intelligenz werden die niederen Klassen vom Gewicht dieser Kette, dem Elend zu befreien haben.“ Auf Marx-Engels-Sprech eingedampft: „Die Proletarier haben nichts […] zu verlieren als ihre Ketten.

Das alles ist nun nicht sonderlich neu. Pierre Ramus z.B. hat schon 1906 einen Büchlein herausgegeben („Die Urheberschaft des Kommunistischen Manifest“), das sich allein um geklaute Ideen oder Passagen der beiden Zwillinge im Geiste bei anderen Autoren dreht. Die Wilderei in fremden Wäldern war damals allerdings gang und gäbe, Urheberrechte im heutigen Sinne gab es noch nicht und so haben sich im Laufe der Zeit viele Forscher mit den Ursprüngen der Ideen und Formulierungen der Beiden befasst.

Nehmen wir zuletzt noch das gern zitierte „Religion … ist das Opium des Volkes“.

Die metaphorische Verbindung von Opium und Religion, die bei Marx in seinem Text „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ 1844 erstmals auftaucht, führen manche auf Heinrich Heine zurück, bei dem sie schon vier Jahre vorher in seiner Denkschrift gegen Ludwig Börne zu finden ist: „Heil einer Religion, die dem leidenden Menschengeschlecht in den bittern Kelch einige süße, einschläfernde Tropfen goß, geistiges Opium, einige Tropfen Liebe, Hoffnung und Glauben!“ (und weiter über die Verbreitung des Christentums in der Antike: „Für Menschen, denen die Erde nichts mehr bietet, ward der Himmel erfunden.“)

Andere meinen, der Linkshegelianer Bruno Bauer sei der Metaphern-Geber gewesen. Der schrieb 1841 in seinem Artikel „Der christliche Staat und unsere Zeit“: „Die theologische Satzung bringt es nämlich zur […] absoluten Herrschaft […] durch ihren Opium-artigen Einfluß […], bis sie keine Spur von Widerstand mehr findet und alle Triebe der freien Menschlichkeit […] einschlafen.“

Doch gibt es bis zurück ins 18. Jahrhundert zig weitere Autoren, die Religion und Opium miteinander verknüpft haben, in positiven wie negativen oder ambivalenten Konnotationen, schließlich wurde Opium über lange Zeit bedenkenlos für und gegen alles mögliche verwendet – gegen Müdigkeit, Schmerzen, Husten, Schlaflosigkeit, Depressionen, als Narkose- oder als Rauschmittel und es kam auf die Dosierung an, ob es heilsam oder zerstörerisch wirkte. Mit ähnlichen Formulierungen haben also x Autoren ganz verschiedene Dinge über Religion ausgesagt, und wen und was Marx davon gelesen und rezipiert hat, lässt sich heute kaum noch sagen:

Jean-Jacques Rousseau 1761 im Briefroman „Julie ou la Nouvelle Héloise“ (Mde de Wolmar über ihren Gatten): „Die Andacht, spricht er, ist für die Seele eine Art von Opium. Mäßig gebraucht, erheitert, beseelt und stärkt sie; ein zu starkes Maaß schläfert ein, macht wütend, oder tödtet gar“.

Johann Gottfried Herder 1790, im dritten Teil der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“: „Die Tradition ist eine an sich vortreffliche, unserm Geschlecht unentbehrliche Naturordnung, sobald sie aber sowohl in praktischen Staatsanstalten als im Unterricht alle Denkkraft fesselt, allen Fortgang der Menschenvernunft und Verbesserung nach neunen Umständen und Zeiten hindert, so ist sie das wahre Opium des Geistes sowohl für Staaten als Sekten und einzelne Menschen.“

Immanuel Kant, 1793 in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“: Die Praxis, „am Ende des Lebens einen Geistlichen rufen [zu] lassen“, sei damit vergleichbar, dem Sterbenden „Opium fürs Gewissen zu geben“ und 1803 in der Vorlesung „Über Pädagogik“: „Religion ohne moralische Gewissenhaftigkeit ist wie ein abergläubischer Dienst“, und dies sei bloß „ein Opiat für das Gewissen solcher Leute und ein Polster, auf dem es ruhig schlafen soll.“

Novalis, 1798 in „Blütenstaub“: „Ihre [gemeint sind die Philister] sogenannte Religion wirkt blos, wie ein Opiat: reizend, betäubend, Schmerzen aus Schwäche stillend. Ihre Früh- und Abendgebete sind ihnen, wie Frühstück und Abendbrot, nothwendig. Sie können’s nicht mehr lassen.“

Ignaz Heinrich von Wessenberg, 1799 in „Über unsere Aufklärung und den Einfluss unsrer Philosophien auf die Sitten in Teutschland“: „Zwar fand es Gegner in – den Schulgelehrten,  / Und in des Christenthums erhabener Moral. / Jedoch der Erstern stumpfe Donnerkeile kehrten  / Nicht Einen Menschen ab vom Epikur‘ schen Mahl / In ihren rusigen Pedanten-Saal. / Und Letztre ward mit denen, die sie lehrten,  /Vom Schwarm‘ der Witzlinge mit Hohn / Zu Shattenbildern persiffliret,  / Und nur als Opium des Volks noch toleriret.«

Hegel, 1805 in den „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, über Indien, wo die religiöse Praxis das Kastenwesen zementiere und so die Freiheit beschneide. Der Kultus versetze den Menschen „in eine ständige Betäubung, so wie ein an Körper und Geist ganz heruntergekommener Mensch seine Existenz verdumpft und unleidlich findet, und nur durch Opium sich eine träumende Welt und ein Glück des Wahnsinns verschafft“.

Ludwig Feuerbach, 1838 in den Anmerkungen und Erläuterungen zu „Pierre Bayle. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie und Menschheit“: „Wer daher mit dem einschüchternden Schmeichelwort der ewigen Freuden an sich lockt und mit dem einschüchternden Schreckwort der ewigen Hölle die Trennung von sich bedroht, […] bedient sich eines […] unsittlichen […] Mittels, um den Menschen für sich zu gewinnen: er gibt ihm Opium ein, um ihm in dem Zustande, wo die Leidenschaften der Furcht oder Hoffnung seine Vernunft umnebelt haben, sein Ehrenwort abzunehmen.

Moses Hess, 1841 in „Die Eine und ganze Freiheit“: „Ein Volk, das nicht selbständig denkt, kann auch unmöglich selbständig handeln. Die Religion kann wohl das unglückliche Bewußtsein der Knechtschaft dadurch erträglich machen … wie das Opium in schmerzlichen Krankheiten gute Dienste leistet …]. [Der Mensch] hat entweder ein unglückliches Bewußtsein, das Bewußtsein seines Elends, oder er schwelgt in Müssiggang und materieller Genußsucht, greift zu den bekannten, betäubenden Mitteln, zu Opium, Religion und Mitteln, zu Branntwein, ertödtet so alles Lebensbewußtsein in sich und sinkt zum Ideal aller Braminen, Rabbinen und Mönche, aller Pfaffen, Pietisten und Mucker hinab.“

Soweit.

Dass sich der Spruch über die Religion als Opium des Volkes weltweit verbreitet hat, liegt wiederum daran, das Wladimir Iljitsch Lenin ihn 1905 in seinem Essay „Sozialismus und Religion“ aufgegriffen hat. Und bei dem sorgte wiederum eine falsche Übersetzung (die aber inhaltlich zu Lenins Intentionen gepasst haben dürfte) kurioserweise für eine Verschärfung des Diktums. Denn Lenin selbst hatte zwar Marxens Genitiv-Konstruktion „Opium des Volkes“ korrekt ins Russische übertragen, doch der Mensch, der den Text ins Englische übersetzt hat, machte daraus „Opium für das Volk“ – und so wird Lenin bis heute „zitiert“. Ende.

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