
Was wären Pin- und Plakat-Wände ohne diese kleinen nützlichen Dinger? Spitze Stahlnadeln mit einem Köpfchen aus Blech, Messing oder heutzutage Plastik, die man mit dem Daumen eindrücken kann, die ihren Weg unter allen möglichen Namen auf alle Kontinente und in alle Haushalte gefunden und in die ich als Kind regelmäßig reingetreten bin, weil meine Mutter ihr Zeichenpapier mit ihnen festhielt.
In Lychen, einer kleinen Stadt in Brandenburg wird die Geburt der Reißzwecke heute gefeiert. Denn hier wurde sie vor 120 Jahren erfunden – behaupten zumindest die Lychener, Wikipedia und die lokalen Tourismus-Ämter…
August Kirsten soll sich hier in den 1870er-Jahren die Urform der Heftzwecke oder „Pinne“ ausgedacht haben, um Rechnungen oder Zettel an der Wand zu befestigen, was ihm und seinem Kompagnon Christian Eichmann 1879 in einem Patent bestätigt worden sei. Als eigentlicher Erfinder der Reißzwecke wird in Lychen aber sein Sohn Johann Kirsten gefeiert. Er, über den man nicht viel weiß – weder, wann er geboren wurde, noch, wann er gestorben ist, weder, wie er aussah, noch, wo sich sein Grab befindet, hatte eine kleine Uhrmacherwerkstatt und habe Vaters Pinne verbessert. Das Patent Nr. 154957 Klasse 70E auf die „Heftzwecke“ bekam dann aber einer anderer. Denn Johann Kirsten hat sein ganzes Geld versoffen und auf einer seiner Durststrecken die Erfindung 1903 für kleines Geld an den Kaufmann Arthur Lindstedt weiterverkauft. Dessen Sohn Otto hat sie wiederum beim Kaiserlichen Patentamt eingereicht und am 8. Januar 1904 dafür ein Patent erteilt bekommen.

Otto Lindstedt, der die Heftzwecke in der Lychener Metallwarenfabrik seiner Familie und in Heimarbeit unter dem Namen „Record. Sicherheitsreissbrettstifte“ produzierte und europaweit exportierte, wurde schwerreich; August Kirsten ging leer aus. Lindstedt wurde nicht nur mehrfacher Millionär, er wurde auch ein guter Nazi. In seiner Fabrik, in der zu allen Zeiten vorwiegend Frauen in der Produktion beschäftig waren, mussten während des Krieges dann Häftlinge aus dem nahen Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück von der SS bewacht Zwangsarbeit leisten. Am 30. April 1945, kurz vor der Ankunft der sowjetischen Armee, brachte Lindstedt sich und seine Familie um. Soweit zu Lychen.
Auf der Suche nach dem angeblichen „Ur“-Patent von August Kirsten bin ich auf „Dingler’s Polytechnisches Journal“ gestoßen, ein beispielloses, europaweites Archiv für Technikgeschichte, das zwischen 1820 und 1931 so gut wie jede technische Neuerung, die als westlich erachtet wurde, vermeldet hat, und so auch:
„Ch. Eichmann und A. Kirsten in Lychen bezieh. Sonnenburg bei Cüstrin (*D. R. P. Nr. 6675 vom 30. November 1877) überziehen bei Heftzwecken (Reissbrettstiften) die Scheibe mit einer dünnen messingenen Deckplatte, um das Durchdrücken der eingeschraubten Stifte zu verhindern; das Deckplättchen wird um den Scheibenrand mit Hilfe besonderer Stempel in einer gewöhnlichen Balancierpresse umgebörtelt. Die Ausführung hat u.a. die Reissbrettstifte-Fabrik von G. Heidenreich in Sonnenburg (Regierungsbezirk Frankfurt a. O.) übernommen.“
Oha. Auch wenn die Jahreszahl 1877 im Journal genauso knapp daneben ist wie das 1879 auf diversen Webseiten (das Patent Nr. 6675 wurde am 30.11.1878 erteilt), erfahren wir hier so ganz nebenbei, dass es also schon vorher Reißzwecken gab, die hier lediglich mit einem Überzug versehen wurden!

Da es das deutsche Patentgesetz und -amt erst seit 1877 gab, gehören die beiden Herren so auch zu den ersten, denen überhaupt je ein Patent erteilt wurde, und sind viele kleinere technische Neuerungen davor schwer zu datieren bzw. ihre Erfinder namenlos. Sucht man nämlich die Jahrgänge des „Polytechnischen Journals“ durch, findet man die Heftzwecke als offenbar bereits gebräuchliches Hilfsmittel z.B. 1857 zum Festhalten von Fäden an Stoff, 1864 zum Festhalten eines Lineal auf einem Zeichenblatt, aber auch schon 1828: Hr. A. Pritchard fand die bisherigen Methoden, Zeichenpapier auf dem Reißbrette aufzuspannen (das Aufkleben mit Kleister, wobei das Papier naß gemacht werden muß, das Aufziehen mit Siegellak, das Aufheften mit stählernen Nadeln, die mit messingenen Knöpfen versehen sind), theils unbequem und langweilig, theils unzulänglich, und schlägt folgendes Verfahren vor. (usw.)
Die englischsprachige Wikipedia (und von dort auf zig Webseiten übernommen) sagt sogar, dass es Reißzwecken schon in den 1750er-Jahren in Nordamerika gegeben habe, die dafür benutzt worden seien, Hinweisschilder an Schulhaustüren anzubringen und dass der Begriff „drawing pin“ schon 1759 im Oxford English Dictionary auftauche (der Witz ist allerdings, dass das Wörterbuch 1884 erstmals erschienen ist (aber vielleicht ist eigentlich die erste Erwähnung des Wortes gemeint). Allerdings ist keine dieser Angaben mit irgendeiner Quelle belegt.
Aber definitiv ausschließen können wir nach dem, was wir bis hierhin wissen, alles was nach den 1820er-Jahren passiert ist – wie den Fotografen Edwin Moore aus Philadelphia, der in den USA als Erfinder der Reißzwecke gefeiert wird (er hat sich im Jahre 1900 eine Stecknadel mit „Griff“ ausgedacht, um seine Fotos einfacher befestigen zu können und sie unter dem Namen „Push Pin“ patentieren lassen) oder den armen Engländer Mick Clay, der sein „Thumbtack“-Patent 1903 genau wie Johann Kirsten an andere verkauft hat, die damit reich wurden, aber auch den Wiener Heinrich Sachs, der bei unseren österreichischen Nachbarn als Erfinder der Reißzwecke gilt, weil er ab 1888 „Reißnägel“ aus einem Stück hergestellt hat. Aber die hat sich schon 1880 ein Berliner patentieren lassen.
Via Internet kann man das Original seiner Patentschrift kaufen, aber wir finden auch im genialen „Polytechnischen Journal“ wieder eine Notiz dazu:
„Neuerungen an Heftstiften. Die Heftstifte zum Befestigen von Papier, Leinwand o. dgl. auf Holz, z.B. Reißbrettstifte, müssen, um nicht durchzurutschen, mit einem großen Kopf versehen sein und werden bekanntlich aus einer runden Platte hergestellt, in welcher man einen spitzen Stift befestigt. Eine gute Befestigung des Stiftes ist aber verhältnismäẞig theuer, so daß z.B. häufig der Stift an Reißbrettnägeln beim Einstecken der letzteren sich durchdrückt. Diesem Uebelstand hilft nun W. Motz in Berlin (D.R.P. Kl. 70 Nr. 14077 vom 19. October 1880) in einfacher Weise dadurch ab, daß er direct aus der Platte eine geeignet geformte Spitze so herausschneidet, daß sie, in der Mitte der Platte festbleibend, rechtwinklig zur Platte abgebogen, den Stift bildet. Soll der Stift länger ausfallen, als der Kopf ihn hergeben kann, so wird er breiter geschnitten und in die Länge gepresst.

Bei „W. Motz“ handelt es sich um den Mechaniker und Schraubenfabrikanten Wilhelm Motz. Der hat, nachdem er sich 1880 die einteilige Reißzwecke hatte schützen lassen, in Schöneberg mit der Firma C.W. Motz & Co. (die übrigens später Koppelschlösser und Uniformknöpfe für die Wehrmacht produziert hat) eine Fabrik für Silberstahl-Reissbrettstifte, Teppichnägel etc. eröffnet (u.a. annonciert im Katalog der „Deutschen Allgemeinen Ausstellung für Unfallverhütung“ 1889) und jährlich um die 30 Millionen Reissbrettstifte hergestellt – vernickelte, verzinkte und auch mit „farbigen Dessins“ versehene… Die 1904 patentierte Innovation der Lychener Johann Kirsten bzw. Otto Lindstedt scheint hingegen so geringfügig gewesen zu sein, dass sie nicht mal mehr im „Polytechnischen Journal“ erwähnt ist. Genau wie bei den (etlichen) anderen Patenten, die sich in dieser Zeit um Heftzwecken drehen, dürfte es auch bei ihr „nur“ noch um Details gegangen sein, mit denen man die längst erfundenen Helferlein einfacher und billiger in Serie herstellen konnte.
Das alles darf man den Lychenern aber nicht verraten, die haben schließlich extra eine Gedenktafel für Johann Kirsten an seinem Haus angebracht und die Stadt mit überdimensionierten Reißzwecken gepflastert:)

