
Habt ihr euch schon mal gefragt, seit wann man Lakritz isst? – Eigentlich seit fast ewig, also seitdem irgendeiner unserer Ur-Ahnen eine Wurzel ausgebuddelt und gemerkt hat, dass die süß schmeckt, wenn man auf ihr herumkaut und dass sie gegen diverse Übel hilft.
Süßholz oder Lakritz (via mittelhochdeutsch lakeritze und lateinisch liquiritia von griechisch glykyrrhíza = Süßwurz) ist eine mehrjährige Staude mit lila Blüten aus der Familie der Hülsenfrüchtler. Sie mag es warm und feucht, ist in Eurasien verbreitet, gedeiht aber auch unter schwierigen klimatischen Bedingungen überall sonst. Ihre Wurzel kann bis zu einem Meter lang werden und enthält etwa 400 verschiedene Stoffe. Einer davon ist Glycyrrhizin, das dem Lakritz seinen charakteristischen Geschmack und seine Süße gibt, die bis zu 50 mal süßer als die von Rüben- oder Rohrzucker ist und das antibakteriell, entzündungshemmend, schleimlösend, hustendämpfend, magenschonend wirkt (außer wenn man zu viel davon isst, dann kann er zu Muskelschwäche, Bluthochdruck oder Gewichtszunahme führen).
Über diese Wunderwurzel wurde seit Beginn der aufgezeichneten Geschichte geschrieben. Die Hethiter erzählten sich von der Göttin Istar, die den Appetit der alles verschlingenden Schlange Hedammu nur mit Süßholz stillen konnte; es wird in der Gesetzessammlung des babylonischen Königs Hammurabi (1728–1686 v.u.Z.) erwähnt und um 1550 v.u.Z. in einem der ältesten erhaltenen Papyrustexte, dem Papyrus Ebers, hier als Mittel gegen Atemwegserkrankungen und Bestandteil von Stärkungsmitteln und Liebestränken. Die Süßholzwurzel scheint bei den Ägyptern eine Allzweckwaffe gewesen zu sein wie die Ginsengwurzel bei den Chinesen. So wurde Lakritz auch in großen Mengen im Grab des jungen Tutanchamun (1342–1325 v.u.Z.) gefunden, das ihm wohl auf seiner Reise ins Jenseits den Hunger und Durst löschen sollte.
Im 8. Jahrhundert v.u.Z. findet sich das Süßholz in der Drogenliste Sultan Tepes im assyrischen Mesopotamien als Arznei gegen Auswurf, Gelbsucht und Juckreiz (und ist von da nach Indien gelangt) und vier Jahrhunderte später bei Hippokrates (460–370 v.u.Z.), der sie mutmasslich als erster als glykyrrhíza bezeichnete und wegen ihrer heilenden Eigenschaften bei Husten und Magenproblemen anpries. Einer der ersten Botaniker, der Aristoteles-Schüler Theophrastus (371–287 v.u.Z.) nannte sie hingegen „die skythische Wurzel“, weil er vermutete, dass seine Griechen das Wissen über die durstlöschende Wirkung der Wurzel von den Skythen hatten (nach der Legende konnten die zwölf Tage ohne Trinkwasser aushalten, wenn sie Süßholzwurzeln kauten und Stutenkäse aßen). Die Truppen Alexander des Großen (356–323 v.u.Z.) sollen auf ihren ausgedehnten Eroberungszügen ebenfalls nur dank ihr lange Zeit ohne Wasser überstanden haben (das muss sich bis in die Zeit Napoleons herumgesprochen haben, der für sein Heer ebenfalls Süßholzpulver im Gepäck hatte). Auch der römische Naturforscher Plinius der Ältere (23–79) beschreibt Lakritz in seinem Werk „Naturalis Historia“ als Mittel gegen Durst und „rauen Hals“, und seine Landsleute und Zeitgenossen kochten sich Tee aus Süßholz, wenn sie Husten, Magenprobleme oder ein Leberleiden hatten.

Im Mittelalter verbreitete sich Lakritze dann europaweit und wurde zu einer Grundzutat der Apotheken. Der persische Universalgelehrte Avicenna (Ibn Sina) empfahl sie um 1050 in seinem „Kanon der Medizin“ als Arznei gegen Husten, zur Förderung der Verdauung und zur Reinigung der Atemwege. Im „Westen“ waren es Mönche, die das Wissen über Pflanzen verbreiteten, in ihren Klöstern wichtige Werke kopierten und Lakritze in ihren Klostergärten anbauten. Und es waren Nonnen wie Hildegard von Bingen (1098–1179), die über das Süßholz schrieb: „Es ist gut für die klare Stimme, helle Augen und einen milden Sinn. Auch dem Geisteskranken hilft es, weil es die Wut, die in seinem Gehirn ist, auslöscht.“
Auf diese Weise fand die süße Wurzel allmählich auch Eingang in die Küche vor allem derer, die sich den exorbitant teuren Zucker, der ja erstmals seit der Antike um 1100 mit den Kreuzfahrern wieder nach Europa gelangt war, nicht leisten konnten. In der Küche diente sie in geriebener oder geraspelter Form (wo auch die spätere Redewendung vom „Süßholz raspeln“ herkommen dürfte) oder pulverisiert zum Würzen, als Zutat in alkoholischen Getränken, aber auch, um den Geschmack und Geruch verdorbener Speisen zu übertünchen. Kühlschränke gab‘s ja noch nicht, Fleisch wurde mit Salz oder Kräutern und Gewürzen konserviert und wenn das Fleisch gammelte, wurde es halt mit einer Portion aromatischem Lakritz gerettet…
Die Wurzel wurde zu einem begehrten Handelsobjekt (Edward I. hat sich 1305 sogar eine Steuer auf die Lakritz-Einfuhr einfallen lassen, um die Reparatur der London Bridge zu finanzieren), der über die europäischen Kolonisatoren später seinen Weg nach Amerika fand und dann auch dort angebaut wurde, als kostengünstige Alternative zum Zucker und u.a. als billiges Süßungsmittel für die Ernährung von Sklaven.

Im späten Mittelalter wurde insbesondere im warmen Spanien und Italien, wo die Pflanze besonders gut gedieh, mit der gezielten Anpflanzung von Lakritz begonnen. Um 1500 kam die Familie Amarelli im süditalienischen Kalabrien auf die Idee, die Wurzeln fein zu vermahlen, sie anschließend zu einem Brei zu verkochen, den schwarzen Brei in Blöcke zu gießen und zu trocknen. Nachdem es ihnen gelungen war, den Saft aus der Wurzel zu steinharten Blöcken zu verarbeiten, wurde ihr Unternehmens so erfolgreich, dass Giorgio Amarelli 1731 in Rossano die erste Lakritz-Fabrik der Welt gründete (die bis heute existiert). Dieses Block-Lakritz ist bis heute die Basiszutat aller Lakritz-Produkte.
Die Amarellis verkauften ihre Blöcke bis in die Niederlande und nach England, wo der Apotheker George Dunhill es zunächst als Ausgangsstoff für diversen Mittelchen gegen Infektionen, Magengeschwüre und Erkältungen für Mensch und Pferd benutzte und 1760 schließlich die Idee hatte, den Extrakt mit Zucker und Mehl aufzukochen – die Geburtsstunde der weichen Lakritz-Bonbons!
Was z.B. Goethe meinte, als er in „Dichtung und Wahrheit“ schrieb, dass ihn als Kind im Laden seiner Lieblingstante Johanna Melbert „anfänglich nur das Süßholz und die daraus bereiteten braunen gestempelten Zeltlein vorzüglich interessierten“, war zwar auch süß, aber eigentlich nicht für Kinder gedacht und noch anders hergestellt und zusammengesetzt – Zeltlein oder Trochisci sind zu runden Pastillen geformte Arzneien aus diversen Drogenpulvern, Zucker und Gummi.
Mit der industriellen Revolution kamen neue Produktionsmethoden auf. Man konnte Lakritz statt in Handarbeit nun maschinell, in größeren Mengen und viel billiger herstellen, was den Konsum und die Verbreitung der neuen Süßigkeit enorm beflügelte, wie durch die ersten kommerziell hergestellten talerförmigen Lakritz-Bonbons aus dem englischen Pontefract, die als „Pontefract Cakes“ berühmt wurden. Und die Hersteller begannen ihre Lakritz-Produkte (die ohnehin nur zwischen drei und fünf Prozent Glyzyrrhizin enthalten) und harten und weichen Varianten z.B. noch mit Zuckersirup, Bienenwachs, Gelatine oder Stärke und diversen Aromen aufzupeppen
Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Süßigkeit auch in den Niederlanden (heute mit über 2 Kilo Verbrauch pro Jahr und Nase Weltmeister im Lakritz-Essen), in Skandinavien, Frankreich und Deutschland beliebt, hier vor allem in Küstenregionen, da das Süßholz meist per Schiff von weit her hier ankam (für Deutschland spricht man sogar von einem „Lakritzäquator“, also der Tatsache, dass sich das klebrige Zeug im Norden weitaus besser verkauft als im Süden). Und die Hersteller ließen sich neue Formen einfallen, um ihren Absatz weiter zu steigern: Lutschstangen, Rauten, Brezeln, Fische, Kugeln, Schlangen, Pfeifen und Schnecken, die man aufrollte und die bald auch süß oder salzig mit Anis, Salmiakgeist, Schokolade, Salz, Pfeffer usw. veredelt wurden.
Heute werden die Bestandteile der Süßholzwurzel nicht nur in Süßigkeiten, Arznei- oder Nahrungsergänzungsmitteln und Getränken verwendet, sondern beispielsweise auch in Tabakmischungen, als Kompost bei der Champignonzucht, wegen ihres Lingnin-Gehalts als Isolationsmaterial oder Flaschenkorken und wegen ihrer schäumenden Wirkung (auch das noch:) in Feuerlöschern.
Mein Lieblingswort für Lakritz ist „Bärendreck“. Das kommt laut Wikipedia nicht etwa von den angeblichen Inhaltsstoffen wie Pferde- oder Ochsenblut, an die seine Farbe erinnert (die übrigens durch Zugabe von Aktivkohle erreicht wird, andernfalls wäre das Lakritz braun), sondern von Karl Bär. Der betrieb ab 1903 eine Konditorei in Ulm, hat 1913 in Nürnberg ein Fabrikgelände übernommen und dort mit der „Zuckerwarenfabrik Karl Bär“ in der Lakritz-Branche Furore gemacht, nachdem er sich, als Zucker nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr rationiert war, zig Patente auf verschiedene Sorten Lakritz gesichert hat, auf die er teilweise ein europaweites Monopol besaß.

Aber man darf wirklich nicht alles für bare Münze nehmen, was einem Lokalpatrioten oder Wiki weismachen wollen. Der Begriff in Süddeutschland, K&K-Österreich und Schweiz schon lange gebräuchlich, bevor Herr Bär überhaupt angefangen hat, seine Lakritzen zusammen zu rühren. Bei einer Stichprobe in Schweizer Zeitschriften bin ich allein hier dutzendfach auf Süßholz aka „Bärendreck“ gestoßen, beispielsweise hier:
_Sagt dem Kaplan, er schiebe auch / Viel Radikales in den Bauch: / Kartofflen, Rübli ohne Zahl / Und Sellerie beim Mittagsmahl. / „Süßwurzel“ ist der Bärendreck“, / „Ohrstränge“ nimmt das Zahnweh weg… (Der Postheiri: illustrierte Blätter für Gegenwart, Oeffentlichkeit und Gefühl, 1872)
_„Der moderne Sänger“: …Drum nippt er zart, voll Schonung für das Schöne,/ Nicht eine Gabe wie der Zecher; / Nein, als ein Sinnbild seiner süßen Töne / Hilft Bärendreck im Zuckerbecher (Nebelspalter, 1877)
_weil ich mit ihm in allen Himmeln des Bärendrecks und der Gummikugeln schwelgte, ist es fürchterlich, in den Abgruznd der Cichorei und Herbäpfel hinabzusinken… (Nebelspalter, 1882)
_Die benachbarten Graubündner könnten Bärendreck exportieren, wenn unsere Zeitgenossen nicht lieber fremden Produkten den Vorzug gäben… (Nebelspalter, 1888)
_In einer satirischen Schul-Ordnung: Gegen monatliche Einzahlung von zwei Rappen ist jeder Beteiligte berechtigt, im Falle einer Ohrfeige, so er von den Schultyrannen empfangen, ein Batzenlaiblein und ein Stängelein Bärendreck als Tröstung zu erheben… (Nebelspalter, 1888)
_Schwindeln und Schwatzen / Frommsein und Batzen / ist für den Lebenszweck / Besser als Bärendreck.(Nebelspalter, 1895)
_… Der Moor, der heißt nun Menelek / Und ist so schwarz wie Bärendreck / Italien denkt an Süßholzsaft / Der Hilfe gegen Husten schafft… (Nebelspalter, 1896)
_Schön ist die Etymologie, / Die Stammesforschung der Worte. / Sie sagt z. Beispiel wo und wie / Entstanden Tort und Torte: / Das eine süß wie Bärendreck, / Herrührend meist vom Zuckerbäck („Nebelspalter“, 1897)
_Komm köstlich, Kind und küss mich fleißig / Und ich will gewiss die Suggestionen / Dir mit Bärendreck und Zuckerkandel lohnen… (Nebelspalter, 1902)
_Günstige Kaufgelegenheit. Auf dem Baseler Bahnhof zu verkaufen eine liegen gebliebene Kiste Bärendreck oder Süßholzsaft höchst geeignet, um die schweizerische Sahara Polizei braun zu färben. (Nebelspalter, 1906)
Und in einem satirischen Artikel von 1904 über die Unart der Lehrer, neben ihrem Job den Kindern in der Schule alles mögliche zu verkaufen, um ihr Salär aufzubessern, während sich die Kinder mit dem Taschengeld, dass sie ihren Müttern abgeluchst haben, damit von Ohrfeigen freikaufen würden, ist natürlich auch wieder Bärendreck dabei. Daher zuletzt eine Kindheitserinnerung über Taschengeld und Bärendreck von Egon Erwin Kisch, der 1885 geboren wurde, also auch lange bevor Herr Bär sein Süßholz in Nürnberg geraspelt hat:
„… Es muß ja doch einmal verzeichnet werden, welchen Dreck wir in unserer Jugend gefressen haben. Noch dazu für unser eigenes Geld, für die paar Kreuzer, die wir als Taschengeld bekamen oder um die wir unsere Eltern beschummelten, wenn wir einen Radiergummi kauften und ein Zeichenheft … Bei der Babe im Park kauften wir „Cicvärkovo seminko“, als welches kleine Stücke von verzuckertem Anis waren und eigentlich zur Vertreibung der Würmer aus dem menschlichen Organismus dienten; ich verstehe, daß die Würmer daran krepierten, wie man das ungenießbare Zeug gerne essen konnte, verstehe ich dagegen nicht mehr. ‚Pendrek‘, mit Recht von ‚Bärendreck‘ abgeleitet, schmeckte gleichfalls scheußlich und machte den Mund innen und außen schwarz; es lockte aber wegen der eleganten Form: Wer würde nicht mit Vergnügen Schnürsenkel lutschen! …“
Pendrek, die lautmalerisch ins Tschechische übernommene Version von Bärendreck wurde (und wird) übrigens auch noch in einem anderen Zusammenhang benutzt. Nachdem Polizeibeamte in Prag begonnen hatten, den zunehmenden Autoverkehr mit schwarzen Gummiknüppeln zu regeln, hat sich „Pendrek“ im Volksmund auch für den Schlagstock eingebürgert, weil der wie eine schwarze Lakritzstange aussah.

