
Else Lasker-Schüler *11.2.1868
Malik, 6. Brief, für Franz Marc, 1919:
Blauer Reiter, ich bin alleine fromm in der fremden Stadt. Kein Mensch kommt hier in den Himmel. Bitte gehe einmal über den Kurfürstendamm, bieg in die Tauentzienstraße ein, kannst‘ Du Dir vorstellen, daß ein Dirbegegnender in den Himmel kommt? Sag‘ mir, blauer Reiter, komm ich in den Himmel?
Du, ich möcht‘ Dir noch privatim was erzählen, aber sag es niemand wieder, auch Mareien nicht. Ich hab mich doch wirklich wieder verliebt. Wenn ich mich tausendmal verliebte, ist es immer ein neues Wunder; eine alte Natur der Sache, wenn sich ein anderer verliebt. Du, er hatte gestern Geburtstag. Ich schickte ihm eine Schachtel voll Geschenke. Er heißt Giselheer. Sein Gehirn ist ein Leuchtturm. Er ist aus den Nibelungen. Meine Stadt Theben ist nicht erbaut davon. Meine Stadt Theben ist ein ehrwürdiger hoher Priester. Meine Stadt Theben ist die Knospe Zebaoths. Meine Stadt Theben ist mein Ur-Urgroßvater. Meine Stadt Theben begleitet mich bei jedem Schritt. Meine Stadt Theben ist ein hochmütiger Scheitan. – Ich schickte dem ungläubigen Ritter lauter Spielsachen, als ob er mein Brüderchen sei – weil er ein rot Kinderherz hat, weil er so ein Barbar ist, weil er noch ein heimatliches Spielzimmer haben möchte: einen Gralsoldaten aus Holz, eine Schokoladentrompete, eine Spielfahne meiner Stadt Theben, einen Becher, einen silbernen Federhalter, zwei Seidentücher, ein Petschaft aus Achat und viel, viel Siegellack. Ich schrieb dazu: »Lieber König Giselheer, ich wollte, du wärst aus Kristall, dann möchte ich Deine Eidechse sein, oder Dein Seestern, oder Deine Koralle oder Deine fleischfressende Blume.«
