Ein Schiff mit acht Segeln


Richard Wagner hatte Dessau einst schmeichelhaft das „Bayreuth von Norddeutschland“ genannt. Der dritte Sohn des Kantors Albert Abraham Weill und der Kantorentocher Emma Ackermann, der hier am 2. März 1900 geboren wurde, scheint die Kleinstadt hingegen nicht sonderlich gemocht zu haben. Er mokierte sich nur allzugern über Dessau, nahm den Namen in Des-Sau auseinander und tauft sie in Cis-Schwein um. 

Curt Julian, dem seine Mutter als Liebhaberin französischer Literatur den zweiten Vornamen vermutlich nach Julien Sorel, dem Helden in Stendhals „Rot und Schwarz“ ausgesucht hatte, und der sich bald nur noch Kurt (mit K) nannte und schrieb, bekam früh Klavierunterricht und begann mit 13 zu komponieren – anfangs Musik für die Synagoge, für Hochzeiten, Bar Mizwas usw. 1917 schrieb er an seinen Bruder: 

„Ach, ich möchte jetzt so ein nettes kleines Zimmer haben, in Berlin, in Leipzig, in München, und ein Schrank voll Partituren und Büchern und Klavierauszügen und Notenpapier und arbeiten, daß die Schwarte knackt und einmal ohne Hausvatersorgen, ohne Schulkram, ohne Einberufungssorgen hintereinander aufschreiben, was mir meinen Kopf manchmal fast bersten macht, und nur Musik hören und nur Musik sein. Ja, ja, was man so alles will, und Herr Hindenburg macht nicht mit. Aber Du brauchst nicht denken, daß ich nun den Kopf immer hängen lasse und alles schwarz sehe. Nein, erstens glaube ich ja immer noch, daß der Krieg dieses Jahr noch aufhört, glaube ja immer noch daß, „wenn die Not am höchsten steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht“. 

Ein paar Monate später hatte es der junge Weill geschafft: Der Krieg war zu Ende, er wohnte in Berlin und war Schüler von Engelbert Humperdinck, dem Direktor der Kompositionsklassen an der Musikhochschule. Er stürzte sich in die Arbeit, und – „während die Gojim in den Himmel, d.h. nach Grunewald und Wannsee, fahren“ – schuftete er weiter. Nach einem Intermezzo im „Revolutionären Studentenrat“ an der Musikschule wurde er Meisterschüler von Ferruccio Busoni, der orakelte, Weill könne ein „Verdi der Armen“ werden. Nach einem anschließenden Intermezzo am Dessauer Theater und in Lüdenscheid kam „Verdi“ auch schnell wieder ins gärende Berlin zurück, und hielt sich zunächst mit Klavierstunden, Kompositionsunterricht und mit Rezensionen für Radioprogramme über Wasser. 

Und dann lernte er Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer kennen. Die Tochter einer Waschfrau und eines Fiakerkutschers aus Wien war als 15-jährige 1913 vor den Alkoholattacken und Missbräuchen ihres Vaters nach Zürich geflohen. 1921 war sie als angehende Tänzerin und Schauspielerin nach Berlin gekommen, nannte sich nun Lotte Lenja, hatte mit ihren bürgerlichen Namen wohl auch einige ihrer unheilvollen Erinnerungen abgelegt und den Dramatiker Georg Kaiser und seine Frau kennengelernt. Im Sommer 1924, bei einem ihrer sonntäglichen Besuche bei ihm in Grünheide, bat Kaiser sie, Weill vom Bahnhof abzuholen. „Kaiser sagte zu mir: ‚Lenja, heute kommt ein junger Komponist hier raus, für den ich ein Libretto schreibe. Würde es Dir was ausmachen, ihn am Bahnhof abzuholen?‘ Es gab zwei Wege, über die man diesen Bahnhof erreichte: entweder zu Fuß durch den Wald oder mit dem Ruderboot über den See. Ich sagte, mir wäre das Ruderboot lieber, (…) ‚Wie erkenne ich denn diesen Herrn?‘ und Kaiser sagte: ‚Ach, das ist ganz einfach; Komponisten sehen alle gleich aus.‘ Es war ein kleiner, verlassener Bahnhof. Aber da stand ein kleiner Mann mit so einem typischen Musikerhut auf dem Kopf und dicker Brille.“ Lotte, die gehofft hatte, er würde sie beide zurückrudern, musste selbst rudern, denn Weill redete ununterbrochen, und bei Kaiser angekommen, waren beide – die unterschiedlicher nicht hätten sein können – bereits ineinander verliebt.

Ihm hatte es besonders ihre Stimme angetan. Wenn ich mich nach dir sehne“, schrieb er ihr schon bald, so denke ich am meisten an den Klang Deiner Stimme, den ich wie eine Naturkraft, wie ein Element liebe. In diesem Klang bist Du ganz enthalten, alles andere ist nur ein Teil von Dir, und wenn ich mich in Deine Stimme einhülle, bist Du ganz bei mir. Ich kenne jede Nuance, jede Schwingung Deiner Stimme und höre genau, was Du sagen würdest. Und plötzlich ist mir dieser Klang wieder ganz fremd und neu, und dann ist es höchste Seligkeit, zu wissen, wieviel streichelndes Liebkosen diese Stimme für mich hat – das ist dann wie in den ersten Wochen, als ich schon den Gedanken an Dich für Vermessenheit hielt.“

Weill fing sofort an, Lieder für Lotte zu komponieren; wenig später zogen sie zusammen und heirateten 1926, zum Leidwesen seiner frommen Eltern.

Im gleichen Jahr kam Weill durch Georg Kaiser und ihre Zusammenarbeit für die Oper „Der Protagonist“ endlich zum Musiktheater. Nachhaltiger wirksam als die Begegnung mit Kaiser war die mit Eugen Bertold Friedrich Brecht – Bert Brecht. Im April 1927 saßen sich die beiden zum ersten Mal gegenüber, fast gleich alt, ähnlicher Herkunft und doch grundverschieden, aber mit dem Willen, das Wagnersche „Theater des Übermenschen“ aufzubrechen und ein neues Genre zu schaffen, das die veränderten Zeiten abbilden sollte.

Den ersten Versuch, die alte Opernform umzumodeln, machten sie mit einer Sketch-Folge, die sie noch im selben Jahr unter dem Titel „Mahagonny“ in Baden-Baden zeigten. Lotte: „Das mondäne internationale Publikum starrte verwirrt auf die Bühne, als die Arbeiter dort einen Boxring aufbauten. Die Unruhe verstärkte sich, als die Sänger, als Strolche und Ganoven kostümiert, durch die Seile kletterten“. Nach der Vorstellung sprangen die Zuschauer auf, klatschten oder pfiffen und da Brecht einen Skandal vorausgesehen und die Truppe mit Trillerpfeifen ausgerüstet hatte, „standen wir da auf der Bühne und pfiffen trotzig zurück.“

Ähnlich ging es 1930 bei der Uraufführung der erweiterten Opernfassung „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ im bürgerlichen Leipzig zu. Die Zuschauer pfiffen, grölten, klatschten und brüllten durcheinander. Ein Musikkritiker: „Unter den Demonstrierenden sah man einen Mann mittleren Alters, der gleichzeitig applaudierte und ,Pfui‘ rief… Er gab am ehrlichsten der Stimmung des Publikums Ausdruck. Das Werk wurde als ambivalent empfunden, es stieß ab und wirkte zugleich attraktiv, es zeigte einen psychischen Zustand auf, den die neuere Medizin als schizoid bezeichnet.“

Schizoid oder Kapitalismuskritik, das Stück wurde von vielen als „Fortsetzung der „Dreigroschenoper“ und in muskalischer Hinsicht als deren Steigerung angesehen. Die Dreigroschenoper, 1928 quasi zwischendurch uraufgeführt war ein beispielloser Triumph und bald unauflöslich mit Lotte Lenja, der „Seeräuber-Jenny“, mit Brechts neuem „epischen Theater“ und mit Weills einmaliger, anzüglicher Doppelbödigkeit verbunden. 

Doch Weill hatte mit der Partitur von „Mahagonny“ die Vorstellungen Brechts von einem epischem Theater hinwegsgepült. Und der hatte vor der Uraufführung in Leipzig nicht einmal mehr die Proben besucht und hinterher ganz das Interesse verloren. Drei Jahre später veröffentlichte Brecht eine Version des Librettos, die überhaupt keine Rücksicht mehr auf die Musik nahm. Und schon davor hatte er sich bei einem Fototermin geweigert, sich zusammen mit Weill ablichten zu lassen und gedroht, den „falschen Richard Strauss mit voller Kriegsbemalung die Treppe hinunter zu stürzen“.

Die Eintracht zwischen Brecht und Weill hat spätestens beim Nachfolgeprojekt von „Mahagonny“ Risse bekommen. Als Helene Weigel bei der Komödie „Happy End“ von Elisabeth Hauptmann den Erfolg des Stücks aufs Spiel setzte, auf der Bühne aus kommunistischen Flugschriften las und das Publikum beschimpfte. Brecht und Weill dachten zwar in künstlerischer Hinsicht ähnlich, hatten aber in weltanschaulichen Fragen kaum Berührungspunkte. Brecht war mittlerweile tief in die marxistische Theorie und in die Lehrstücke eingetaucht – in die Vorstellung, dass alle Theaterstücke didaktisch sein und den Klassenkampf darstellen müssten. Weill hingegen wollte mit seiner Musik, die nach seinem Credo (es gibt keine U- und E-Musik, nur gute und schlechte Musik) Kunstlieder zu Schlagern für Kneipengänger wie Intellektuelle gleichermaßen machte, nicht mehr nur eine Handlung illustrieren. Die Musik sollte nicht mehr dienen, sie sollte herrschen und selbst die Handlung sein. Zudem teilte er Brechts vorbehaltlose Parteinahme für den Kommunismus nicht und nicht sein missionarisches Sendungsbewußtsein und hatte wie Lenya den Verdacht, der Dramenautor wolle die Lorbeeren für sich allein ernten. Mit der Folge, dass beide sich nach vier Jahren gemeinsamer Arbeit voneinander trennten, in dem Moment, wo der eigentlich immer besonnene Weill endlich nicht mehr bereit war, sich dem diktatorischen Kontrollfreak Brecht zu unterwerfen. Der wandte sich daraufhin Hanns Eisler zu, der die Weltanschauung und politischen Ziele mit ihm teilte… 

„Happy End“ in der Topbesetzung Carola Neher, Helene Weigel, Peter Lorre, Theo Lingen, Kurt Gerron wurde jedenfalls 1929 nach nur sieben Aufführungen abgesetzt, auch, weil das Theater mit feindseligen Rezensionen der immer nationalistischer werdenden Presse zu kämpfen hatte, die sich an Songs wie der „Ballade von der Höllen Lili“ störte (die Höllen Lili gab es übrigens wirklich. Nachdem 1919 die geflohene Bayrische Regierung mit Hilfe der schießwütigen Freikorps der Münchner Räterepublik den Garaus machen wollte, machte eine 21-jährige Frau mit einem öffentlichen Aufruf zum Widerstand „Im Namen der revolutionären Frauen Augsburgs“ in Brechts Heimatstadt von sich reden. Davon abgesehen, dass diese Lili Prem zu dieser Zeit die einzige Frau in Deutschland war, die die Bürstenmacher-Gesellenprüfung abgelegt hatte, ging sie mit ihrer Aufmüpfigkeit in die Literatur ein, weil eben Brecht eine Ballade über sie geschrieben hat, während er selbst wenig revolutionär arbeiten gehen mußte, da er gerade die Augsburger Bürgertochter Paula Banholzer geschwängert hatte.)

Ebenfalls 1929 antwortete Kurt Weil auf eine Umfrage der „Münchner Illustrierten Presse“ unter dem Titel „Meine Frau“ mit einer wunderschönen Liebeserklärung:

„Sie ist eine miserable Hausfrau. Aber eine sehr gute Schauspielerin. Sie kann keine Noten lesen, aber wenn sie singt, dann hören die Leute zu wie bei Caruso. (Übrigens kann mir jeder Komponist leid tun, dessen Frau Noten lesen kann.) Sie kümmert sich nicht um meine Arbeit (das ist einer ihrer größten Vorzüge). Aber sie wäre sehr böse, wenn ich mich nicht für ihre Arbeit interessieren würde. Sie hat stets einige Freunde, was sie damit begründet, daß sie sich mit Frauen so schlecht verträgt. (Vielleicht verträgt sie sich aber auch mit Frauen darum so schlecht, weil sie stets einige Freunde hat.) Sie hat mich geheiratet, weil sie gern das Gruseln lernen wollte, und sie behauptet, dieser Wunsch sei ihr in ausreichenden Maße in Erfüllung gegangen. Meine Frau heißt Lotte Lenja.“

Für die war es anfangs reichlich ernüchternd, dass sich ihr Liebster als kompromißloses Arbeitstier entpuppte. Sie käme doch aber „gleich nach meiner Musik“, sagte er einmal. Lotte aber hörte: „erst nach meiner Musik“ und begann eine Affäre. Als Weill die tolerierte, folgten zig weitere Liebschaften. Kurt wollte wohl gar nicht immer so genau wissen, was Lotte nebenbei trieb, und je mehr er sich in seiner Arbeit vergrub, desto stärker wurde ihr Bedürfnis, sich außer Haus zu vergnügen. 

Im Sommer 32 begegnete Lenja im Wiener Raimundtheater dem Tenor Otto Pasetti und verliebte sich unsterblich in den blonden Schönling. Schon nach wenigen Tagen verbrachten sie jede freie Minute zusammen, und Kurt Weill reiste leicht bedröppelt allein zurück nach Berlin. Lotte und Otto passten ideal zusammen, neben der Bühne und der Sinneslust vereinte sie die Spielleidenschaft. Otto schleppte seine neue Freundin in die Casinos an die Riviera und an die Roulettetische. Und immer, wenn ihnen das Geld ausging, half der Gatte in Berlin großzügig aus.

Lotte und Kurt gingen auf Distanz, begegneten sich nur noch bei Konzerten und Inszenierungen in Sachen Brecht. Sie schrieben sich innige Briefe, voll Empathier, voller Zeichen unverbrüchlicher Zuneigung und Seelenverwandtschaft, sie auch mit großer Hochachtung vor seiner Arbeit und großer Kenntnis seines Werkes. 

Aber irgenwann reichte Lenja doch die Scheidung ein. Ihrem künftigen Ex, der wohl auch eine Art Vater-Ersatz für sie war, schrieb sie dazu: „Ich aber liebe dich natürlich dennoch weiterhin“. Und als sie ihn später fragte, ob es für ihn in Ordnung wäre, wenn sie mit Pasetti ein Kind bekäme, und er ihr mit Tränen in den Augen sagte, dass ihm das sehr weh tun würde, antwortete sie: „OK, ich werde keins kriegen.“ 

Als die Scheidung dann offiziell war, neigte sich Lottes Affäre mit dem Scheidungsgrund Pasetti gerade dem Ende zu. Weill hatte zwischenzeitlich mit Erika Neher angebandelt, weil er nicht ewig auf Lotte hatte warten wollen und die tauschte Pasetti gegen den Maler Max Ernst aus, aber bereute ihr weiteres Leben lang, die Scheidung eingereicht zu haben, während Weill nun das Lotterleben seiner Lotte mit dem Surrealisten finanzierte und an sie schrieb: „Nun lebe, Kleene. Viele Bussi, dein Knuti.“

Weills Karriere-Höhepunkt und der Januar 1933 trafen aufeinander: Sein „Silbersee“ hatte in Leipzig, Magdeburg und Erfurt gleichzeitig Premiere. Neun Tage später brannte der Reichtstag. Brecht setzte sich unmittelbar danach mit seiner Familie ins Ausland ab. Lotte war irgendwo in Europa mit ihrem Lover unterwegs. Weill übernachtete indessen aus Angst in Hotels oder bei seinen Freunden Caspar und Erika Neher. Am 24. Februar 1933 geiferte der Völkische Beobachter gegen den „Kulturzersetzer“ und „Salonbolschewisten Weill:

„Einem ‚Künstler‘, der zu zuchtlosen, die Kunst und den Sinn für echte Kunst bewußt zersetzenden Texten eine ‚Musik‘, schrieb, einem solchen Komponisten muß man mit Mißtrauen begegnen, noch dazu, wenn er es sich als Jude erlaubt, für seine unvölkischen Zwecke sich einer deutschen Opernbühne zu bedienen! […] Es kommt auf den Geist an und auf die Gesinnung. Der Geist aber ist hier „snobistisch“, die Gesinnung spekulativ! Es ist nichts Starkes in seiner Musik, nichts, was den Aufwand rechtfertigen könnte. Unschön und krankhaft – das sind die Merkmale…“. 

Am 21. März, als der neugewählte Reichstag eröffnet wurde, war auch Lotte zufällig in Berlin. Zwei Tage danach wurde mit dem „Ermächtigungsgesetz“ das Parlament ausgeschaltet. Am Vorabend war Weill die Information zugespielt worden, er befinde sich auf einer Schwarzen Liste und schwebe in Lebensgefahr. 

Und dann ging alles ganz schnell. Gerade noch hatte Weill einen Wisch aus dem Briefkasten gezogen: „Juden wie Sie sind in Kleinmachnow unerwünscht“, als ihn Cas und Erika mit ihrem Wagen abholten. Weill hatte nur wenige Unterlagen bei sich, und Lotte saß mit auf der Hinterbank. Als der Funkturm nicht mehr im Rückspiegel zu sehen war, gingen für Weill und Lenja die Lichter in Deutschland aus. Zwölf Jahre lang verstummten seine Kompositionen, und ihre Stimme kam aus keinem Radiolautsprecher mehr.

Bevor sie die französischen Grenze erreichten, stieg Lotte aus und fuhr mit den Zug nach Wien. Weill versprach sie noch, sich um seine Manuskripte und Besitztümer zu kümmern. Das Haus wurde noch im Laufe des Jahres von Pasetti verkauft, der den Erlös komplett in den Casinos von Monte Carlo und Nizza verspielte. Weill passierte am 22. März die Grenze mit 500 Francs in der Tasche.

In Paris war Kurt Weill dank Mahagonny, Jasager und Dreigroschenoper bereits gut bekannt. Er bekam den Auftrag, ein Tanzstück zu schreiben. Die „Sieben Todsünden“, choreografiert von George Balanchine, markierten einen Wendepunkt: Es war Weills letzte Teamarbeit mit Neher und der Brecht-Korona, sein letztes ausschließlich deutschsprachiges Bühnenwerk, für lange Zeit das letzte, in dem er Lotte Lenya unterbringen konnte und das erste, in dem er in sieben Nummern mit radikalen Stilwechseln arbeitete.

Brecht reiste zu den Proben zweimal aus der Schweiz an und Weill bemerkte, daß sich an seiner grundsätzlichen Haltung zu seinem ehemaligen Ko-Autor nichts geändert hatte. Nachdem er acht Tage mit Brecht gearbeitet hat, war er in „verschärftem Maße der Ansicht“, dass der einer der „widerlichsten, unangenehmsten Gesellen“ sei, „die auf der Erde herumlaufen“. Im Juni 1933 wurden die „Sieben Todsünden“ uraufgeführt. Doch das Werk hatte, vermutlich weil in deutscher Sprache gesungen, nicht den gewünschten Erfolg. Nur die in Paris lebenden deutschen Emigranten reagierten enthusiastisch. 

Kurt Weill hatte gehofft, nach dem Mißerfolg in Paris, seine Zukunft in England fortsetzen zu können. Er bemühte alle seine Kontakte, inszenierte Diners und versuchte, bei den großen Filmstudios vorstellig zu werden. Umsonst. Im Januar 1935 mußte er vernichtende Kritiken einstecken, als eine miserabel besetzte Produktion der Dreigroschenoper im englischen Radio zu hören war – Der Tonfall und das Ausmaß der Verrisse unterschieden sich kaum von der völkischen Hetze der Nazi-Presse. Der Musikbiograph Walter Abendroth 1936: „Wir brauchen hier über Wesen und Wollen des Opernjudentums nichts Näheres aufzuführen, weil wohl noch frisch genug in allgemeiner Erinnerung lebt, mit welcher […] Energie das schmutzige Bänkelsängertalent eines Weill zu einer stilschöpferischen Macht erhoben werden sollte.“ 

So kam Weill das Angebot von Max Reinhardt nur Recht, zu einem Libretto von Franz Werfel die Musik zu schreiben. „Der Weg der Verheißung“ oder „The Ethernal Road“ sollte ein monumentales biblisches Drama mit einem großen Musikanteil werden, und Parallelen zwischen historischen Daten wie der Geburt Moses und der Zerstörung des Tempels mit aktuellen Ereignissen, namentlich der Judenverfolgung aufzeigen und mit dem Siegeszug des jüdischen Volkes enden. 

Und das Beste war, dass es in Amerika aufgeführt werden sollte. Weills Anwesenheit in New York würde unerläßlich sein. Und er wittert seine Chance, Europa hinter sich lassen und Lotte mitnehmen zu können. Die hatte ihn zuvor nämlich gerade geschrieben: „Solltest Du einen netten Amerikaner für mich finden, der mich rasch heiratet, zwecks eines amerikanischen Passes – denk daran. Ich kann zu jeder Zeit kommen, wenn Du mich brauchst.“ Kurt hatte nichts dagegen, diesen Amerikaner zu spielen, und als sich „der Weg der Verheißung“ gen Westen über den Ozean zu bahnen schien, war er es, der sich um ihr Visum kümmerte.

Am 4. September 1935 gingen Kurt Weill und Lotte Lenya gemeinsam an Bord des Dampfers, der sie nach Amerika bringen sollte. Frisch geschieden, und wieder frisch verliebt. Als sie nach sechs Tagen auf dem Atlantik in New York von Bord gingen, waren die geschiedenen Eheleute wieder ein Paar. „Um von Liebe sprechen zu können, braucht es schon eine Weile“, würde Lotte später einmal sagen.

Nun mussten sie neu anfangen, wie all die anderen, sie wollten arbeiten, sie wollten nicht mit Tränen in den Augen von der „guten alten Zeit“ reden. Sie wollten Karriere machen in der Neuen Welt. Sie paukten Englisch. Und schon ein Jahr nach seiner Ankunft in Amerika lief Weills erste große Show am Broadway. Und Lotte Lenya hatte ihren ersten amerikanischen Liebhaber – den Dramatiker Paul Green. 

Es war alles wie immer. Und so konnten sich die beiden am 19. Januar 1937 auf dem Standesamt in New York ein zweites Mal das Jawort geben. Weill wußte, dass diese Ehe immer ein paar Nebendarsteller haben würde. Lotte Lenya (nun mit Y) sagte „Doppelt hält besser“ und Weill kam zu dem Fazit: „Ich glaube, wir sind das einzige Ehepaar ohne Probleme.“ 

„Der Weg der Verheißung“ indes – die Premiere war für Ende 1935 geplant gewesen – musste zehnmal verschoben werden, ehe das gigantische Stück mit 200 Darstellern und 1.772 Kostümen Anfang 1937 erstmals gezeigt werden konnte. Es war die teuerste Broadway-Inszenierung, die je stattgefunden hatte, sie dauerte drei Stunden und sieben Minuten, und ein Kritiker mokierte sich dann auch, er habe erwartet, seinen kleinen Welpen zum ausgewachsenen Hund herangewachsen vorzufinden, wenn er endlich aus dem Theater wieder zu Haus angekommen sei! Größtenteils jedoch waren die Kritiken positiv. 

1938 lernte Weill auf einer Party in New York Maxwell Anderson kennen. Ein Glücksfall. Der Pulitzer-Preisträger gehörte zu den „Big five“ der New Yorker Theaterszene. Er hatte zeitweise bis zu drei Stücke gleichzeitig am Broadway laufen und sein Anti-Kriegsdrama „What Price Glory?“ schon 1924 Geschichte gemacht. Weill war fasziniert von der kompromisslosen moralischen Haltung des Dramatikers und der, der sich bis dahin noch nicht auf das Terrain des „Musical play“ vorgewagt hatte, fand in ihm ein ideales Gegenüber. Anders als mit Brecht blieb ihre Beziehung frei von ideologischen Spannungen und Anderson, zwölf Jahre älter als Weill, wurde sein bester Freund. Als 1938 ihr satirisches Musical „Knickerbocker Holiday“ seine Uraufführung feierte, war es zwar trotz guter Kritiken nur mäßig erfolgreich, aber der „Septembersong“, den Woody Allen für den „besten amerikanischen Popsong hält, der je geschrieben wurde“, war jahrzehntelang ein Knaller in den amerikanischen Charts, gesungen u.a. von Bing Crosby, Frank Sinatra, Nat King Cole, Ella Fitzgerald und natürlich Lotte Lenya. 

Bert Brecht hatte sehr aufmerksam registriert, dass Weill eine eigene Version von „Nannas Lied“, dem von François Villon geklauten und vorn Hanns Eisler vertonten Song eines Freudenmädchens aus „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“, für Lotte komponiert und damit Erfolg hatte: … wo sind die Tränen von gestern Abend, wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr? Brecht war aus seiner Exilheimat Südkalifornien fünfmal über den ganzen Kontinent gereist, um seine eigenen Werke am Broadway unterzubringen. Seine Bemühungen blieben jedoch zum größten Teil erfolglos, weil er sich nicht von der europäischen Tradition lösen wollte und sich mit wichtigen Protagonisten der amerikanischen Theaterszene verkrachte. Aber auch bei Weill stieß Brecht auf Granit. Man dachte zwar kurzzeitig über eine Erneuerung des Zweckbündnisses nach, aber bald nannten Weill und Lenya ihn in ihren Briefen nur noch das „Schwein“ und sie sprach aus, was beide über eine Wiederaufnahme der Arbeitsbeziehung letztlich dachten: „Zum Teufel mit denen. Du weißt doch, was die machen werden, wenn Du nachgibst. Die Musik in Fetzen schneiden und das ganze billig und lächerlich machen. Und dieser stupide Brecht, dieser chinesisch-augsburgische Hinterwäldler-Philosoph! Daß jetzt Briefe von ihm unseren Briefkasten besudeln, geht schon zu weit.“ 

Mit der alten Bande vom Schiffbauerdamm, aber auch mit den anderen Europäern aus der kalifornischen Kolonie wollte Weill so wenig wie möglich zu tun haben. 1944, nach einer Dinnerparty im Hause des Bühnenschauspielers Walter Slezak, schrieb er an Lotte: 

„Das war eins der ärgsten Flüchtlingstreffen, die ich je über mich ergehen ließ. E Ein deutschsprachiger Abend schlimmster Sorte – denn das war nicht mal Deutsch, sondern diese abscheuliche ungarisch-wienerische Mischung. (…) Walter Reisch beherrschte die Gespräche. Den sollte man gleich nach Hitler erschießen. (…) Hauptthema der Unterhaltung war Klatsch über die anderen Emigranten und eine ausgedehnte Diskussion über Gestürztes (eine Art Kartoffelpfannkuchen). […] Ich fange an zu glauben, daß wir fast die einzigen unter all diesen Leuten sind, die amerikanische Freunde gefunden haben und wirklich in diesem Land leben. Die leben alle noch in Europa. Ach, soll sie doch der Teufel holen.“

Weills neuer amerikanischer Patriotismus war weder Attitude nach Opportunismus. Er war Amerika, das ihn und Lotte gerettet hatte und seine Musik liebte, zutiefst dankbar. Nachdem beide 1943 amerikanische Staatsbürger geworden waren, bemerkte er: „Unsere Familie läßt sich in Freiburg bis ins Jahr 1329 zurückverfolgen, und ich selbst habe in den verschiedensten Gegenden Deutschlands gelebt, bis ich 33 war. Und dennoch habe ich mich nie wirklich mit meinem Geburtsland verbunden gefühlt, wir waren nie eine Einheit, hingegen hatte ich, als es mich nach Amerika verschlug, sofort das Gefühl, in meine Heimat zurückzukehren.“ 

Und später würde er einen öffentlichen Protestbrief an das „Life“-Magazin schreiben, das ihn als deutschen Komponisten bezeichnet hatte: „Obgleich ich in Deutschland geboren bin, bezeichne ich mich nicht als ›deutschen Komponisten‹. Die Nazis haben mich eindeutig nicht als solchen bezeichnet, und ich verließ ihr Land 1933 … Ich bin amerikanischer Staatsbürger… Ich würde es begrüßen, wenn Sie Ihre Leser auf diese Tatsache hinweisen könnten.“

Mit Weills allmählichem Zugewinn an Ruhm regte sich aber auch sein schlechtes Gewissen. Er ertrug es kaum, dass die Welt in Flammen aufging, die europäischen Juden zu Millionen in Massengräbern verscharrt wurden, während sich in der gepflegten Gartenstadt am Hudson, in der er mit Lotte nun wohnte, alles nur um die nächste Grillparty drehte, oder am nächsten Samstag wieder der Rasen gemäht werden musste. 

Er wusste genau um das Privileg, auf dieser Seite der Erdkugel leben zu dürfen, unbehelligt von Pogromen, Fliegeralarm, Denunziation, Elend, Hunger und Tod; ein Umstand, den viele Exilanten nur allzu gern verdrängten. Sie waren verschont geblieben, während alte Freunde mit ihrem Leben bezahlt hatten: Carola Neher und Kurt Gerron ermordet, Ernst Toller und Kurt Tucholsky in den Suizid getrieben. 

„Das Ganze ekelt mich einfach an“, schrieb Kurt an Lotte, „Ich hätte große Lust, das ganze Showbusiness hinzuschmeißen und einen Kriegsjob anzunehmen oder in die Army einzutreten oder in eine Fabrik zu gehen.“ Doch statt in eine Uniform zu steigen, komponierte Weill für seine Frau nun – nach langer Zeit wieder einmal nach einer Brechtschen Vorlage – das Antikriegslied „Und was bekam des Soldaten Weib?“. Als Beide an einem Protestkonzert deutscher Exilanten unter dem Motto „We Fight Back“ teilnahmen, war es Lottes Version seines „Soldatenweibs“, das die Empörung der amerikanischen Öffentlichkeit über die deutschen Verbrechen anstachelte.

Zugleich feilte Weill weiter an der Verwirklichung seines Traums von einer „American Opera“ als eigener Gattung. Mit dem Musical „Lady in the Dark“, zu dem Ira – der Bruder von Georges Gershwin und gefragteste Songtexter Amerikas – die Liedtexte geschrieben hatte, das im Zeichen der gerade in Mode gekommenen Psychoanalyse stand und die Seelennöte einer erfolgreichen New Yorker Geschäftsfrau beleuchtete, kam er diesem Traum ein Stück näher und löste sich zugleich fast vollständig von seiner musikalischen Herkunft und Erziehung. Zur Premiere 1941 erschien sogar Igor Strawinsky und mit Songs wie „One Life to live“, „The Saga of Jenny“ und „My Ship“ hatte Weill unvergessliche Hymnen geschaffen.

Weill hatte es geschafft in Amerika. Seine neuen Musikdramen waren in aller Munde. Die talentiertesten Librettisten rissen sich um seine Partituren. Er kaufte ein Haus, zog mit Lotte aufs Land und arbeitete dort fieberhaft weiter. Am 7. Oktober 1943 leiteten Elia Kazan als Regisseur und Maurice Abravanel – der schon die „Sieben Todsünden“ in Paris dirigiert hatte und ohne den inzwischen keine Weill-Premiere weltweit mehr denkbar war – die Uraufführung seines nächsten Musicals: „One Touch of Venus“. Das Stück erreichte unglaubliche 567 Vorstellungen und Weill regierte nun unwiderruflich am Broadway mit. Eine ganze Nation sang die melancholische Weise „Speak Low“ mit, die im Musical die Liebeserklärung der Venus an den Helden Rodney ist und deren Titelzeile eine Sentenz aus Shakespeares „Viel Lärm um Nichts“ aufgreift. Auch Lotte Lenya nahm den Song mehrfach auf und die Musikkenner waren sich einig: Amerikanischer als Weill kann niemand mehr komponieren!

Der Komponist Elliott Carter: „Kurt Weills neue Partitur enthüllt seine Meisterschaft in allen Broadway-Kunstfertigkeiten. Er produziert mit sicherer Hand einen Erfolg nach dem anderen. Weill, der seine Werke selbst orchestriert und arrangiert, der einen höchst bemerkenswerten Instinkt besitzt, die Stilmerkmale populärer Musik zu entdecken und zu verwenden, ist in Amerika heimisch geworden. Während seine Musik in vor-hitlerischen Tagen die unverschämte und desillusionierte Bitterkeit wirtschaftlicher Ungerechtigkeit unterstrich, ist nun, angesichts seiner neuen Umgebung und des New Yorker Publikums, seine soziale Szene zum Schlafzimmer geschrumpft und er der Komponist intelligent-witziger Partituren…“

Am 8. Mai, als Deutschland kapituliert, schrieb Weill aus Los Angeles an Lenya in New York: „Ich denke den ganzen Tag an dich, weil es ja der Tag ist, auf den wir zwölf lange Jahre lang gewartet haben – seit jener Nacht im März 1933 (…) früh als ich aufstand (ich habe um 6 Uhr Trumans und Churchills Reden gehört) wurde mir klarer denn je, was dies bedeutet – und als ich zum Studio fuhr, fühlte ich mich wie eine Million Dollar, weil es zu einer Zeit geschehen ist, in der wir noch jung sind und in einer Welt ohne Nazis genießen können, was man so unsere besten Jahre nennt.“

1947 reiste Weill zu seinen Eltern Albert und Emma, die er seit 1933 nicht mehr gesehen hatte, nach Palästina, besuchte auf der Hin- und Rückfahrt unter Umgehung von Deutschland das zerstörte Europa – London, Paris, Rom, Zürich und Genf, und beendete sein nächstes Stück: „Street Scene“. Es zeigt einen Ausschnitt aus dem Leben einfacher Bewohner eines heruntergekommenen New Yorker Mietshauses, und stellte tatsächlich die Geburt einer neuen Gattung dar. Mit ihm trat Weill den Beweis an, dass sich bloßes Amüsement und opernhafte Züge, die durch einen realen zeitgenössischen Stoff verbunden sind, zu einem organischen Ganzen fügen lassen. Das Theaterstück hatte Weill schon zu Dreigroschen-Zeiten in Berlin bewundert und die Pläne, es zu bearbeiten, nie aufgegeben. „Es bedeutet für mich die Erfüllung zweier Träume, die ich in den letzten 20 Jahre geträumt habe und die zu einer Art Zentrum geworden waren, um das all mein Denken kreiste.“ – Der eine Traum war „die wirkliche Verbindung von Drama und Musik, in der das Singen auf natürliche Weise dort einsetzt, wo das Sprechen aufhört“ und andere Traum war der von einer amerikanischen Oper, einer Synthese der traditionellen europäischen Oper mit dem amerikanischen Broadway-Musical.

Auch Langston Hughes, der schwarze Texter von „Street Scene“ hat sich – weitblickend – zu dem, was Weill hier geschaffen hatte, geäußert: 
„Kurt Weill war ein großer Volkskünstler. Ich meine mit diesem Wort einen, dem es gelingt, den Nenner, der allem Menschlichen gemeinsam ist, in seiner Kunst zu treffen. Weill gelang es in Deutschland. Weill gelang es in Frankreich. Und es gelang ihm in den Vereinigten Staaten. Dabei war Weill kein Franzose. Er war auch kein Amerikaner, ausgenommen im äußerlichen Sinne, dass er naturalisiert war. Von Natur aus war er bestimmt kein Amerikaner. Von Natur aus war er ein Mensch und ein Künstler. Als Künstler im wahrsten Sinne des Wortes verstand er alle Menschen, und alle ihre Lieder. Denn gute Lieder sind nichts als Träume, Hoffnungen und geheime Schreie tief in den Seelen aller Völker. Kurt Weill verachtete nicht das geringste dieser Lieder, denn er wusste, dass der Letzte der Erste sein könnte. Wäre er in Indien eingewandert und nicht in die Vereinigten Staaten, hätte er, wie ich glaube, wundervolle indische Musik geschrieben. Nur ein universaler Mensch und ein universaler Künstler kann das. Weill hatte etwas zu sagen, und er sagte es auf die einfachste und geradlinigste Weise, in der allgemeinverständlichen Sprache eines jeden Landes, in dem er lebte – in Wirklichkeit in der universalen Sprache jener Welt jenseits unserer Welten, mit der alle menschlichen Seelen verbunden sind. Darum kann Deutschland Weill als Deutschen, Frankreich ihn als Franzosen, Amerika ihn als Amerikaner und ich ihn als Schwarzen ausgeben.“

Zwei Jahre nach „Street Scene“ und etliche begonnene Projekte später brach der Workaholic Weill im Juli 1949 mitten in einem Tennismatch gegen Alan Jay Lerner, dem Texter von „Love Life“ zusammen und blieb minutenlang bewusstlos. Lerner rief einen Krankenwagen, der Weill zur Notaufnahme ins Krankenhaus brachte. Man konstatierte einen Kreislaufkollaps und entließ ihn nach ein paar Stunden wieder. Kurt flehte Alan an, den Vorfall zu verschweigen. Vor allem Lenya sollte nichts von seiner „geringfügigen Unpässlichkeit“ erfahren. Kurt ignorierte die Zeichen. Ein halbes Jahr später war er tot. Herzinfarkt.

Lotte Lenya stürzte nach dem Tod ihres Mannes, mit dem sie schließlich ein Vierteljahrhundert in einer so wilden wie symbiotischen Beziehung gelebt hatte und der ihre emotionale Stütze war, in eine tiefe Krise. Von Trauer und Schuldgefühlen überwältigt, wollte sie einfach nicht mehr leben. 

Aber Lenya wäre nicht Lenya, hätte sie sich nicht irgendwann aus dem Tal der Tränen aufgerappelt. Sie verstand: „…dass ich für den Namen Kurt Weill nur etwas tun konnte, indem ich mir einen eigenen Namen machte.“ Den ersten und entscheidenden Schritt dazu tat sie, als sie im Februar 1951 zum ersten Mal nach vielen Jahren öffentlich auftrat, an einem Kurt-Weill-Abend. Jerry Tallmer von der New Yorker „Village Voice“: 

„Kritiker werden immer wieder davor gewarnt, den Ausdruck ‚dramatisch‘ zu verwenden; zu dieser späten Stunde kann ich aber nur sagen, dass mir kein passenderes Wort einfällt, um den Moment zu beschreiben, als Miss Lenya in die Mitte des vorderen Bereichs der Bühne schlenderte, um die ersten bedachten, spröden, grausamen Noten des berühmten Songs ihres Mannes über das Schiff mit acht Segeln zu singen, dem Schiff, auf dem die junge Dienstmagd und baldige Hure Jenny (in ihren Tagträumen) hinaus in die Bucht zu segeln pflegte, um die Kanonen des Schiffes auf ihre gesamte verdammte Lebensart, und auf Ihre, und auf meine zu richten… In Miss Lenyas Händen wird eine große Halbwahrheit, noch nach 25 Jahren jeden Abend zu einer Waffe mit blendender Kraft und Schönheit. Ob es einem gefällt oder nicht – das ist Kunst.“

Die musikalische Tragödie „Lost in the Stars“ – eine dramatische Geschichte, die zu Zeiten der Rassentrennung in Südafrika spielt und mit einer Versöhnungsgeste zwischen „schwarz“ und „weiß“ endet – war ein halbes Jahr vor Weills Tod uraufgeführt worden und sein letztes Bühnenwerk. Sein Busenfreund Max Anderson, der dazu wieder den Text verfasst hatte, von dem sich eine Strophe auch auf Weills Grabstein befindet, schrieb nach Weills Beerdigung:

„Kurt Weill war nicht nur mein Freund und mein Nachbar. Wir haben so eng zusammengearbeitet, haben so beständig einander angeregt und kritisiert, dass ich durch seinen Verlust verstümmelt und verloren bin. Für mich ging in diesem Frühling, in diesem Jahr etwas zu Ende, was nie mehr wiederkommen wird. Dabei kann mich überhaupt nur ein Gedanke trösten – zuweilen dachte ich mir, ich würde gern große Männer des Geistes kennenlernen, deren Werk ich besonders bewunderte, hätte gern John Keats oder Franz Schubert und manchen anderen kennengelernt. – Nun, ich hatte einen sehr großen Mann 15 Jahre zum Nachbarn und Freund. Wie hilfsbereit und freundlich und bemüht er als Mensch war, wird die Welt nie erfahren. Das ist vorbei, wenn einer stirbt, und kommt nie wieder. Doch wie groß Kurt Weill als Komponist war, wird die Welt allmählich entdecken – denn er war ein weitaus größerer Musiker, als man heute denkt. Es werden Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte nötig sein, aber wenn es eines Tages soweit ist, dann wird Kurt Weill als einer der wenigen bleiben, die große Musik geschrieben haben. Das kann uns, die wir ihn verloren haben, nicht trösten, aber seine Musik wird leben, lange, lange nachdem wir mit unserem Schmerz selbst vergessen sind.“

Dabei hatte der mal gesagt: „Was mich betrifft, komponiere ich für heute. Die Nachwelt interessiert mich keinen Deut.“

Ein Kommentar zu „Ein Schiff mit acht Segeln

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