Bei Aschinger

august aschinger, am 8. april 1862 in oberderdingen in württemberg geboren, gründete 1892 in berlin den bald größten gastronomiebetrieb europas, mit stehbierhallen („bierquellen“), konditoreien und restaurants. die ungeheure popularität der aschingerhäuser, vor allem bei den weniger betuchten, rührte daher, dass man hier bei einer auf fein gemachten ausstattung (kronleuchter usw.) sehr preiswert essen und trinken konnte – bier zum einheitspreis von 10 pfennigen, bockwurst, erbsensuppe… und schrippen dazu, soviel in den magen passte. die enge zusammenarbeit der aschinger ag mit den nazis erlebte august nicht mehr. er starb schon 1911 und wurde auf dem luisenfriedhof in berlin beerdigt.


„aschinger“ kommt in kästners „fabian“ und döblins „berlin alexanderplatz“ vor, aber am eindrücklichsten beschreibt robert walser (1913) die ganz besondere atmosphäre:

„Ein Helles bitte! Der Biereingiesser kennt mich schon seit geraumer Zeit. Ich schaue das gefüllte Glas einen Moment an, nehme es mit zwei Fingern an seinem Henkel und trage es nachlässig zu einem der runden Tische, die mit Gabeln, Messern, Brötchen, Essig und Öl versehen sind. Ich stelle das nässende Glas ordnungsgemäss auf den Filtzuntersatz und überlege, ob ich mir etwas zu essen holen soll oder nicht. Der Essgedanke treibt mich zu dem blauweiss gestreiften Schnittwaren-Fräulein. Von dieser Dame lasse ich mir eine Auswahl Belegtes auf einem Teller verabreichen; derart bereichert trabe ich ordentlich träge an meinen Platz zurück. Ich gebrauche weder Gabel noch Messer, nur das Senflöffelchen, mit dem ich meine Schnitten braun anstreiche, worauf ich dieselben gemütvoll in den Mund hineinschiebe, dass es die Seelenruhe selber ist, die mir jetzt unter Ümständen zuschauen darf. Bitte, noch ein Helles! Bei Aschinger gewöhnt man sich rasch einen Ess- und Trink-Vertraulichkeitston an, man spricht dort nach einiger Zeit fast nur noch wie Wassmann im Deutschen Theater. Mit dem zweiten oder dritten Glas Hellem in der Faust treibt’s einen dann gewöhnlich an, allerlei Beobachtungen zu machen. Man will gern recht exakt notiert haben, wie die Berliner essen. Sie stehen dabei, aber sie nehmen sich ganz nett Zeit dazu. Es ist ein Märchen, zu glauben, in Berlin haste, zische oder trabe man nur. Man versteht hier geradezu drollig, Zeit dahinfliessen zu lassen, man ist eben auch Mensch. Es ist eine innige Freude, zu sehen, wie hier nach Wurstbrödchen und italienischen Salaten geangelt wird. Die Gelder werden meistens aus Westentaschen hervorgezogen, es handelt sich ja doch beinahe regelmässig nur um einen Groschen. Jetzt habe ich mir eine Zigarette gedreht und nehme am Selbstbrenner, der unter grünem Glas steckt, Feuer. Wie gut ich dieses Glas kenne und die Messingkette zum Anzieen! Immer wimmelt es ein und aus von esslustigen und satten Menschen. Die Unbefriedigten finden rasch an der Bierquelle und am warmen Wurstturm Befriedigung, und die Satten springen wieder an die Geschäftsluft hinaus, gewöhnlich eine Mappe unter dem Arm, einen Brief in der Tasche, einen Auftrag im Gehirn, einen festen Plan im Schädel, eine Uhr in der offenen Hand, die sagt, dass es jetzt Zeit ist. Im runden Turm in der Mitte des Gemaches thront eine junge Köningin; es ist die Beherrscherinn der Würste und des Kartoffelsalates, sie langweilt sich ein wenig in ihrer köcherlichen Umgebung. Eine feine Dame tritt ein und spiesst ein Kaviarbrötchen an zwei Finger auf, sofort mache ich mich ihr bemerkbar, aber so, als ob mir das Bemerktwerden Wurst wäre. Ich habe inzwischen Zeit gefunden, mich an einem neuen Hellen festzuhalten. Die feine Frau geniert sich ein bisschen, in die Kaviarherrlichkeit hineinzubeissen, ich bilde mir natürlich sogleich ein, das sei ich und kein anderer, wegen dem sie ihrer Zubeissesinne nicht so ganz völlig mächtig wäre. Man täuscht sich so leicht und so gern. Draussen auf dem Platz ist ein Lärm, den man eigentlich gar nicht hört, ein Durcheinander von Wagen, Menschen, Autos, Zeitungsverkäufern, Elektrischen, Handwagen und Fahrrädern, das man eigentlich auch gar nicht mal sieht. Es ist beinahe unpassend, zu denken, man wolle das hören und sehen, man ist doch kein Zugereister. Die elegant-geschweifte Taille, die soeben noch Brot geknuspert hat, verlässt jetzt Aschinger. Wie lange habe eigentlich denn ich im Sinn, dazubleiben? Die Bierburschen haben momentan ein wenig Ruhe, aber nicht lange, denn es wälzt sich wieder von draussen herein und wirft sich durstig an die sprudelnde Quelle. Menschen, die essen, betrachten andere, die ebenfalls mit den Zähnen arbeiten. Wenn einer den Mund gerade voll hat, so sehen zu gleicher Zeit seine Augen einen, der mit Hereinschieben betätigt ist, an. Und die Leute lachen nicht einmal, auch ich nicht. Seit ich in Berlin bin, habe ich mir abgewöhnt, das Menschheitliche lächerlich zu finden. Übrigens lasse ich mir in diesem Augenblick selber ein neues Esszauberstück geben, es ist dies ein Brotbett mit einer schlafenden Sardine darauf; sie liegt auf einem Butterlaken, dies gewährt einen so reizenden Anblick, dass ich das ganze Schauspiel beinahe auf einen Ruck in den offenen Drehbühnen-Rachen hinunterwerfe. Ist so etwas lächerlich? Keineswegs. Nun also. Was an mir nicht lächerlich ist, kann es an den andern noch weniger sein, denn man hat die Pflicht, andere unter allen Umständen weit höher zu achten als sich selber, eine Weltanschauung, die zu dem Ernst, mit dem ich jetzt an den ruckweisen Untergang meines Sardinennachtlagers denke, prächtig passt. Einige von den Menschen, die mich umgeben, unterhalten sich essend. Die Gewichtigkeit, mit der sie solches tun, ist ansprechend. Wenn man schon dabei ist, etwas zu unternehmen, unternehme man es würdig und sachlich. Würde und Selbstbewusstsein wirken behaglich, auf mich wenigstens, und deshalb stehe ich so gern in irgendeinem von unsern Aschingerhäusern, wo die Menschen zu gleicher Zeit trinken, essen, reden und denken. Wie viele Geschäfte sind hier schon ersonnen worden! Und das Schönste ist: man kann stundenlang am Fleck stehen, das verletzt niemanden, das findet kein einziger von all denen, die kommen und gehen, auffällig. Wer hier an der Bescheidenheit Geschmack findet, der kann auskommen, er kann leben, es hindert ihn niemand. Wer keine gar so besondere Herzlichkeit beansprucht, der darf ein Herz haben, man erlaubt ihm das.“

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