Pogrom von Kielce

 Am 4. Juli 1946, über ein Jahr nach der deutschen Kapitulation und dem angenommenen Ende der Judenverfolgung, massakriert ein Mob im polnischen Kielce über 40 Juden und verletzt 80 weitere zum Teil lebensgefährlich.
Auslöser war ein Gerücht. Am 1. Juli war ein 8-jähriger verschwunden und von seinem Vater als vermisst gemeldet worden. Zwei Tage später tauchte er gesund und munter wieder auf (er hatte heimlich einen Ausflug in das Dorf unternommen, in dem seine Familie währende des Krieges gelebt hatte). Es bleibt unklar, ob der Vater oder der Junge selbst, um einer Strafe zu entgehen, die Story erfunden hat, jedenfalls erschien der Vater gegen Mitternacht alkoholisiert auf der Polizeiwache und behauptete, sein Sohn sei von Juden in einen Keller in der Planty-Straße gelockt und dort (mit anderen christlichen Kindern) festgehalten worden, bis ihm die Flucht gelungen sei…
In dem Gebäude in der ul. Planty 7, in dem sich auch jüdische Organisationen befanden, waren etliche der etwa 200 Schoa-Überlebenden, die aus den Lagern oder aus der Sowjetunion zurückgekehrt waren (vor dem Krieg waren hier 25.000 der 72.000 Einwohner Juden gewesen), untergebracht worden, da die polnische Nachbarn ihre Wohnungen in Besitz genommen hatten.

Nach der Aussage des Vaters schickte der Kommandant der Polizeiwache, Oberfeldwebel Edmund Zagórski,  jedenfalls am Morgen eine Patrouille mit etwa einem Dutzend Freiwilligen zum Ort des angeblichen Geschehens. Die erzählten schon unterwegs Passanten von der angeblichen jüdischen Entführung christlicher Kinder zu Ritualmordzwecken. Doch spätestens nach der Durchsuchung des Gebäudes musste ihnen klar gewesen sein, dass die Geschichte nicht stimmen konnte. Das Haus hatte keine Keller!

Statt nun die Bewohner zu  beschützen, erschossen die Polizisten einige und trieben alle, derer sie habhaft werden konnten, aus dem Haus und in die Arme der aufgebrachten Menge. Die schlug mit Brettern, Stöcken und Eisenrohren auf die jüdischen Frauen und Männer ein; man erschoss sie, erstach sie, steinigte sie, warf Kinder – wie den drei Wochen alten Adas Fisz – von Balkonen oder schmetterte sie an Hauswände. Und raubte das Eigentum der Getöteten und Verwundeten.

Der Kommandant des Wojwodschaftsamts für Öffentliche Sicherheit, Major Władysław Spychaj-Sobczyński unternahm nichts, um das Treiben zu stoppen. Eine Stunde später erschien der Bezirksstaatsanwalt Jan Wrzeszcz, doch auch das Militär weigerte sich, gegen den Mob einzuschreiten. Auch die Kielcer Priester Jan Danielewicz und Roman Zelek versuchten erfolglos, die Menge zu beruhigen. Gegen 12 Uhr traf eine neue Armeeeinheit unter Major Konieczny ein, der Sicherheitskräfte aufstellen und die ersten Toten und Verwundeten in das städtische Krankenhaus bringen ließ.
Doch eine weitere Stunde später durchbrachen aufgehetzte Arbeiter des Metallurgiewerks „Ludwików“ in ihrer Mittagspause die Kette der Soldaten, und begannen mit Teil 2 des Pogroms. Währenddessen machten andere in der Stadt Jagd auf Juden, und erschossen auch drei Polen, die sie versehntlich für Juden gehalten hatten; am selben Tag wurden in Zügen und Bahnhöfen auf der Strecke Kielce – Częstochowa etwa weitere 30 juden gelyncht. 

Erst am frühen Abend, mit der Ankunft weiterer Truppen und Panzerfahrzeuge und einer Ausgangssperre, endete des Massaker. Zuvor hatten sich noch Einwohner zu einer antijüdischen Kundgebung versammelt, u.a. vor dem Krankenhaus, in das die verwundeten Juden gebracht worden waren. Am nächsten Tag wurden viele von ihnen – sie waren nur unzureichend versorgt worden – zusammen mit anderen Juden aus Kielce nach Lodz und Warschau evakuiert.   Die Opfer wurden vier Tage später in einem gemeinsamen Grab auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. Die meisten der etwa 100 Festgenommenen – darunter 34 Miliz- und Militärangehörige – wurden kurze Zeit später freigelassen. Drei wurden zu Haftstrafen, neun zum Tode verurteilt.

Es war bei weitem nicht der erste polnische Pogrom. Bialystok, Chelm, Radom, Krakow, Miechow, Chrzanow, Rabka… zwischen 1945 und 1947 sind fast 2000 Schoa-Überlebende in Polen Pogromen zum Opfer gefallen – infolge nur zu gern geglaubter Gerüchte, enthemmt vom katholischen Antisemitismus und dem jahrelangen Morden der Deutschen, des Umstandes, dass die kommunistische Staatsmacht nicht einschritt, sondern die Stimmung anheizte, der vorherrschenden Meinung, das 5. Gebot gelte gegenüber Juden nicht gelten, der Gier auf die Habseligkeiten der Zurückgekehrten, der Angst vor ihren möglichen Rückforderungen usw. 
Der Blutrausch von Kielce war das Ende aller Hoffnungen, ein gleichberechtigtes normales Leben in Polen führen zu können. Er führte zum Massenexodus. Etwa die Hälfte der wenigen noch lebenden polnischen Luden verließ bis Ende 1947 das Land, die meisten anderen folgten 1968 ff.

Aufgrund der unvollständigen Dokumentation sind nur die Namen von 39 Opfern bekannt:

Abraham Adler
Izrael Ajzenberg
Eliasz Alpirt
Izrael Boruch
Chaim Baszysta
Adaś Fisz 
Regina Fisz
Beer Frydman
Dawid Fajnkuchen
Bajla Gertner
Bajla Gurszyc
Pola Gutwurcel
Lejzor Harendorf
Seweryn Kahane
Szmul Karp
Herszel Kersz
Szaja Kersz
(Vorname unbekannt) Kos
Mendel Mikułkowski
Mojżesz Morawiec
Dawid Pluto
Icchak Preis
Estera Proszowska
(Vorname unbekannt) Rabinow
Szlama Rejzman
Izrael Rączka
Duczko Samborski
Frunia Sidarowska
Jechiele Sokołowski
Rachela Sonberg
Apolonia Sowińska
Mojżesz Sztunke
Fania Szumacher
(Vorname unbekannt) Szumilewicz
Naftali Teitelbaum
Abram Winetraub
(Vorname unbekannt) Wundeler
(Vorname unbekannt) Zoberman
Zofia Zylberberg
B2969 (nicht identifizierter Mann mit eintätowierter Auschwitz-Nummer)

Ehre ihrem Andenken. Sachor.

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