
die geschichte von peterchen, anneliese und dem maikäfer sumsemann, der so gern sein sechstes beinchen wiederhaben wollte, ist über hundert jahre alt, aber immer noch eine der bekanntesten der deutschen kinderliteratur. weniger bekannt ist, dass die hauptakteure, die geschwister peterchen und anneliese, reale vorbilder hatten: peter und anneliese kohnstamm (die zwei vorn auf dem bild) und dass die geschichte in ihrem elternhaus beginnt, dem „sanatorium dr. kohnstamm“ in königstein im taunus.
hier nämlich war der zeitlebens von seelischen problemen geplagte gerdt von bassewitz 1911 längere zeit patient und hier hat er „peterchens mondfahrt“ geschrieben. das renommierte sanatorium gehörte dem jüdischen ärzteehepaar oskar und eva kohnstamm, den eltern von peterchen und anneliese, die hier mit zwei älteren geschwistern in einer ausgesprochen anregenden athmosphäre aufwuchsen.
dr. med. oskar kohnstamm (1871–1917), sohn von pauline und moses kohnstamm, dessen vorfahr „don menachem na cohen“ einst aus spanien nach süddeutschland eingewandert war, war um drei ecken sowohl mit den brüdern paul und reinhold geheeb (der eine gründer der odenwaldschule, der andere herausgeber des simplicissimus) als auch mit walther rathenau und thomas mann verwandt (nach neuerer forschung soll das ambiente des sanatoriums auch das vorbild für das sanatorium in manns „zauberberg“ gewesen sei und oskar k. das vorbild für den psychiater dr. krokowski). oskar kohnstamm hatte medizin in berlin studiert, betätigte sich als neurologe, psychiater und kunsttheorethiker und hatte die tochter seines doktorvaters geheiratet: eva gad (1874–1963), eine ebenfalls promovierte ärztin.
1904 ließen die beiden am ölmühlweg in königstein ein sanatorium bauen, um ihre ideale von körperlich-seelischer krankenbehandlung zu verwirklichen, das die gesamten lebensführung umfassen sollte, inklusive strukturierung des tagesablaufs und gartenarbeit (gertrud mayer, die spätere ehefrau karl jaspers, war hier als assistentin beschäftigt). daneben war kohnstamm stadtverordneter, schrieb für fachzeitschriften und hielt vorträge u.a. über hypnose oder die physiologie des rückenmarks.
die liste seiner patienten und freunde liest sich wie ein „who is who“ der damaligen intellektuellen- und künstlerszene: der schauspieler alexander moissi, die schriftsteller carl sternheim, stefan george und karl wolfskehl, der architekt henry van de velde, die berliner verleger ullstein und cassirer, die familie des hertie-gründers hermann tietz…
die meisten kamen immer wieder hierher, da der arzt ihnen „großes verständnis entgegenbrachte, sich ihrer psychischen leiden annahm und sie durch persönliche einwirkung zu entlasten trachtete“. dazu gehörten hauskonzerte und theateraufführungen berühmter gäste, an die sich die kohnstammkinder noch jahrzehnte später erinnerten und die in vielen aufzeichnungen prominenter patienten vorkommen. ebenso wie der klatsch: 1911 z.b. suchte der dirigent und komponist otto klemperer mit der opernsängerin elisabeth schumann-puriz zuflucht bei kohnstamm (vorher hatten sie sich schon bei alma mahler in wien versteckt), nachdem der eifersüchtige ehemann der sängerin ihn erst zum duell gefordert und dann vor dem hamburger publikum ausgepeitscht hatte (die ärzte überredeten die sängerin allerdings zu ihrem gatten zurückzugehen, weil der liebestolle klemperer in ihrer gegenwart komplett arbeitsunfähig war).
das sanatorium war aber auch eine zufluchtsstätte im ersten weltkrieg. thea sternheim z.b. schrieb später, dass otto klemperer und ihr mann, der expressionist ernst ludwig kirchner, dort gewesen seien, um nicht als soldaten in den krieg geschickt zu werden. vielleicht dies auch der grund, warum kirchner 1916 bei einem „längeren therapie-aufenthalt“ ein treppenhaus des sanatoriums mit badeszenen ausmalte (1937 von den nazis als „entartet“ beseitigt), während klemperer konzerte für die gäste des hauses gab. zu denen gehörten in dieser zeit auch verwundete soldaten; kohnstamm hatte in der turnhalle des sanatoriums nämlich ein lazarett eingerichtet. im selben jahr fiel sein ältester sohn rudolf mit knapp 19 jahren als kriegsfreiwilliger vor verdun. klemperer schrieb ein requiem für seinen jungen freund „rudi“. doch der so agile lebensbejahende oskar kohnstamm verfiel in apathie und erholte sich auch nicht mehr richtig von dem verlust. er starb ein jahr später und wurde unter großer öffentlicher anteilnahme auf dem königsteiner friedhof begraben.
anneliese war zu diesem zeitpunkt 17 jahre alt, peter(chen) war neun. „mein vater starb“, schreibt er in seinen erinnerungen, „…und unsere welt brach zusammen“. 1921 verkaufte die witwe eva kohnstamm das sanatorium (es wurde von zwei jüdischen ärzten weiterbetrieben und 1938 zwangsgeschlossen – so dass der stadtanzeiger vermelden konnte, im ehemaligen „judenkurort“ würden nun „sämtliche häuser judenfrei geführt“).
#peter kohnstamm (1908–1995) studierte wie seine eltern medizin, promovierte 1934 in berlin, und ging nach dem berufsverbot sofort nach großbritannien. er verkürzte seinen nachnamen zu konstam (sein sohn ist der archäologe angus konstam), praktizierte erst in schottland als chirurg, war später medizinprofessor in nigeria und anschließend auf den orkney-inseln und publizierte u.a. über die behandlung von magengeschwüren und tuberkulose.
anneliese kohnstamm (1900–1985) wurde sozialarbeiterin, heiratete 1923 den breslauer nervenarzt joseph reich und emigrierte mit ihm und der gemeinsamen tochter hanna 1935 in die usa, wohin sie später auch ihre mutter eva nachholte. ihr nachlass liegt in einem archiv in los angeles und enthält viele zeugnisse über das sanatorium bzw. ihre eltern, wie deren korrespondenz mit dem maler kirchner und postkarten theodor herzls an sie.
und gerdt von bassewitz (1878–1923), an den sich peter als „stattlich und schön“ erinnerte und den klemperer als „seltsamen mecklenburgischen adligen“ und einstigen preußischen leutnant beschrieb, der „sich zum entsetzen seines clans der literatur zugewandt“ hatte? „peterchens mondfahrt“ blieb sein einziger großer wurf. am 6. februar 1923 las gerdt von bassewitz in der siemens-villa am wannsee zum letzten mal aus seinem bestseller, danach verließ er den ort in großer eile – und brachte sich um. das buch selbst wurde ein jahrzehnt später auf den index gesetzt, weil hans baluschek, der es illustriert hatte, den nazis als „marxistisch“ und seine kunst als „entartet“ galt.
