Samuel Jessurun de Mesquita (1868 Amsterdam – 1944 Auschwitz)

Am Morgen des 28. Februar 1944 macht sich Maurits Cornelius Escher von Baarn aus auf den Weg nach Amsterdam, um seinem alten Lehrer Samuel Jessurun de Mesquita in diesem kalten Hungerwinter ein paar Äpfel zu bringen. Doch die Tür in der Linnaeuskade steht offen, das Haus ist verwaist, die Fenster im ersten Stock sind zerbrochen, der Wind pfeift durch das verwüstete Atelier, das Inventar und hunderte Zeichnungen sind wild durcheinander auf dem Boden verstreut. Unter der Treppe am Eingang liegt eine Radierung – die Karikatur zweier lästernder Frauen –, auf der ein deutscher Soldatenstiefel einen Abdruck hinterlassen hat. Escher ist schockiert. Er klopft bei den Nachbarn. Die sagen: »Haben Sie das denn noch nicht gehört? Die De Mesquitas wurden abgeholt«.
Escher ist schockiert und verwirrt, auch wenn er diese Ende lange befürchtet hatte. Er hebt alle Zeichnungen und Drucke auf, die er auf die Schnelle zusammenraffen kann, und flieht von dem grausigen Ort. Am nächsten Tag kommt er zurück, weil er hofft, mehr Arbeiten ans sich nehmen zu können. Aber es steht ein Möbelwagen vor der Tür; das Haus seines Meisters De Mesquita wird gerade von den Deutschen geräumt.…

Wer war dieser Samuel Jessurun de Mesquita? Er wurde am 6. Juni 1868 als drittes Kind von Josua Jessurun de Mesquita und Judith Mendes da Costa in Amsterdam geboren. Seine Eltern waren kulturell aufgeschlossene sephardische Juden, deren Familien ursprünglich aus Portugal und Spanien stammten. Samuels Vater unterrichtete Deutsch und Hebräisch am Stedelijk Gymnasium, sein Bruder Joseph wurde später ein bekannter Fotograf und sein Cousin war der Bildhauer Joseph Mendes da Costa.
Mit 14 Jahren legte Samuel die Aufnahmeprüfung an der Reichsakademie für bildende Kunst ab, wurde jedoch trotz seines großen Talents abgelehnt. Der Junge ging stattdessen bei einem Architekten in die Lehre, belegte Kurse an der Reichschule für Kunsthandwerk und experimentierte als angehender Künstler mit allen möglichen Techniken. Vermutlich um sich finanziell abzusichern, ließ er sich aber dann zum Kunstlehrer ausbilden und wurde 1902 an der Schule für Architektur und dekorative Kunst in Haarlem angestellt, um grafische Techniken zu unterrichten.
1904 heiratete er die sechs Jahre jüngere, ebenfalls sephardisch-stämmige Elisabeth »Betsie« Pinédo. Das Ehepaar ließ sich in der Linnaeuskade 24 im Amsterdamer Stadtteil Watergraafsmeer nieder, und ein Jahr später kam beider einziges Kind – Jacob, genannt Jaap – auf die Welt (Betsie und Jaap siehe die folgende Abbildungen).


1918 wurde Samuel De Mesquita zum außerordentlichen Professor ernannt, musste so weniger unterrichten und hatte mehr Zeit für seine eigenen Projekte. Nach der Schließung der Schule 1926 arbeitete er hauptberuflich als Künstler und wurde 1933 wieder Lehrer für Grafik, diesmal an der Reichsakademie für Bildende Künste, die ihn einst abgelehnt hatte…
Samuel Jessurun de Mesquita war nicht nur ein begnadeter Lehrmeister, er hat selbst zeitlose Grafiken in einem unverwechselbaren Stil geschaffen. Er liebte vor allem das Drucken und Zeichnen, das Radieren und Lithografieren sowie das Batiken und Bedrucken von Stoffen mit Holzstempeln. Er gestaltete einen Großteil der Cover für die niederländische Architektur- und Kunstzeitschrift »Wendingen«, fertigte unzählige Holzschnitte von Tieren aus dem Amsterdamer Artis-Zoo an und hatte ein Faible für fantastische, skurrile Figuren.


Und er war der Mentor und Entdecker des weltweit gefeierten Grafikers Maurits Cornelis Escher, der 1944, wie oben erwähnt, einen Teil seines Werkes retten konnte. Escher war von 1919 bis 1922 an der Kunstnijverheidsschool in Haarlem der Schüler von De Mesquita und der hatte erheblichen Einfluss auf seinen Stil und Werdegang. Der junge Escher wollte sich eigentlich auf Architektur spezialisieren, doch De Mesquita, dem sein Talent aufgefallen war, überzeugte ihn, zur grafischen Kunst zu wechseln. Escher war ein guter Beobachter, lernte schnell und übernahm viel von den Techniken seines Lehrers, der Menschen und Tiere mit starken Linien darstellte, auf das Wesentliche reduzierte und bestrebt war, seine Grafik(en) immer stärker zu vereinfachen und alles Unwesentliche zu entfernen.

Obwohl De Mesquita – anders als Escher – ein bodenständiger Mann war, der zeitlebens in Amsterdam lebte, freundeten sich die beiden an. Beide liebten die Natur, zeichneten gern Tiere und Pflanzen, hatten einen Hang zu Selbstbildnissen, für das Bewusste und Unbewusste und zu rätselhaften, »sensitivistischen« Zeichnungen. Und beide waren Einzelgänger, die sich nicht in die Hierarchien der niederländischen Kunstwelt einfügten, sich nicht von anderen beeinflussen und sich keiner bestimmten Bewegung zuordnen ließen und die unendlich viel experimentierten..

»Er ging immer seinen eigenen Weg, hartnäckig und aufrichtig«, schrieb Escher über De Mesquita, »er war jeder Routine abgeneigt (…). Warum muss eine Radierung unbedingt auf einer Metallplatte erfolgen? Könnte nicht ein anderes Material überraschende Ergebnisse liefern? In Ausnahmefällen fertigte er auch Kaltnadelradierungen auf Zelluloid an, sogar auf einer Glasplatte, von der er einen fotografischen Abdruck anfertigte. Welche Wirkung hat ein Tiefdruckstock, der als Hochdruckstock verwendet wird?…«


Nachdem 1940 die Deutschen in Holland einmarschiert waren, traute sich kaum noch jemand, Kontakt mit der jüdischen Familie De Mesquita zu halten. Doch zumindest M.C. Escher besuchte seinen Lehrer weiter und er drängte ihn, unterzutauchen. Escher später: »Er hätte gerettet werden können. Ich habe so sehr versucht, ihn zu überzeugen. Nein, er würde beschützt, sagte er. Warum sollte er sich verstecken? Hinterher habe ich mir Vorwürfe gemacht. Aber sie wollten nicht. Jaap hatte in seinen Gesprächen mit den Krauts alle möglichen Stammbäume vorgelegt. Sie waren Halbadlige. Die Krauts fanden das beeindruckend.«
Doch auch ihre quasi »adlige« Abstammung aus dem sephardischen Zweig des Judentums konnte die Familie am Ende nicht vor dem deutschen Rassenwahn und der Deportation bewahren. In der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar 1944 wurde sie verhaftet und nach Westerbork geschafft. Samuel und Betsie wurden weiter nach Auschwitz verschleppt, wo sie vermutlich am 11. Februar 1944 starben. Jaap, der Kunstgeschichte studiert, das Studium jedoch nie abgeschlossen und bis zum Schluss bei seinen Eltern gewohnt hatte, starb am 30. März 1944 im Lager Theresienstadt.

»Egal, was man tut, man kann solche Dinge nicht vergessen«, sagte M.C. Escher 1968, vier Jahre vor seinem eigenen Tod, in einem Interview mit der Zeitschrift Vrij Nederland. »Ich kann es nicht. Ich habe immer noch die größten Schwierigkeiten mit diesen Krauts. …Mitten in der Nacht abgeführt. …Und ihm ging es sehr schlecht. … Mitten in der Nacht abtransportiert… Wirklich schrecklich. Wissen Sie, so liebe Leute, die wie geschlachtetes Vieh weggebracht wurden.«
Escher, der noch bis Ende 1945 gehofft hatte, dass einer der Drei zurückkehren würde, hat seinem Lehrer und Freund ein Denkmal gesetzt. Mit den Werken, die er aus dem verwüsteten Haus retten konnte, überzeugte er das Stedelijk Museum schon 1946, eine Retrospektive zu Ehren von Samuel Jessurun de Mesquita zu zeigen und er schrieb auch das Vorwort zum Ausstellungskatalog.
Die Radierung mit den zwei tuschelenden Frauen und dem deutschen Stiefelabdruck, die er vom Boden der verwüsteten Wohnung seines Lehrers aufgelesen hatte, hing für den Rest seines Leben in seinem Atelier.

