„Das Firmament voll Maden …“

Am 27. Dezember 1938 stirbt Ossip Mandelstam – „Russlands größter Dichter des 20. Jahrhunderts“ (Joseph Brodsky) – mit 46 Jahre in einem Zwangsarbeiterlager bei Wladiwostok

Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr,
Wir reden, dass uns auf zehn Schritt keiner hört,
Doch wo wir noch Sprechen vernehmen, —
Betrifft’s den Gebirgler im Kreml.
Seine Finger sind dick und, wie Würmer, so fett,
Und Zentnergewichte wiegt’s Wort, das er fällt,
Sein Schnauzbart lacht Fühler von Schaben,
Der Stiefelschaft glänzt so erhaben.
Schmalnackige Führerbrut geht bei ihm um,
Mit dienstbaren Halbmenschen spielt er herum,
Die pfeifen, miaun oder jammern.
Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer.
Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag:
In den Leib, in die Stirn, in die Augen, — ins Grab.
Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten 
Und breit schwillt die Brust des Osseten.

Ossip Emiljewitsch Mandelstam, 1891 als Sohn eines jüdischen Lederhändlers und einer Musiklehrerin in Warschau geboren, wächst in Pawlowsk und St. Petersburg auf und besucht – wie Vladimir Nabokov – das renommierte Tenischew-Gymnasium. Mit 16 Jahren hört er Vorlesungen in Heidelberg und Paris, mit 19 Jahren werden seine ersten Gedichte gedruckt.

Mandelstam ist alles oder will alles sein: Russe, Jude, Weltbürger. Er träumt von einer Synthese der abendländischen Kulturen und aller Glaubensrichtungen. Er lässt sich taufen, um studieren zu können und weil er zeitweise eine starke Affinität zum Christentum hat, und er schließt sich dem Literaten Nikolaj Gumiljow an (dem ersten Mann Anna Achmatowas). Dessen „Akmeisten“ wollen der mystischen Jenseitigkeit des russischen Symbolismus Wirklichkeitsnähe und Dinghaftigkeit entgegenstellen. Und so schreibt Mandelstam in der Zeit vor der Revolution Gedichte mit kulturhistorischen Bezügen, aber auch mit parodistischem Tenor. Schon hier ist seine Verlorenheit zu spüren und seine spezifische Sprache zwischen feierlich-archaischen Ausdrücken und einfachem Alltagsjargon:

Nur noch Kinderbücher zu lesen, 
Nur noch Kindergedanken zu hegen, 
Alles große ganz weit zu verwehen, 
Aus tiefem Kummer stets aufzuerstehn.
Ich bin vom Leben so tödlich geschafft, 
Dass ich von ihm nichts mehr annehmen werde,
Ich liebe jedoch diese kärgliche Erde, 
Weil ich noch nie eine andere sah. (…)  


Die Oktoberrevolution begrüßt Mandelstam zunächst: „Die Freiheit, die da dämmert, lasst uns preisen…“, dichtet er. Einerseits bewundert er die Revolution, anderseits schafft er apokalyptische Bilder. Vielleicht ahnt er da schon, dass nicht das Proletariat, in dessen Namen die Demokratie erkämpft werden sollte, dabei ist, die Macht zu übernehmen, sondern die bolschewistische Partei. In einem Gedicht, das er Anna Achmatowa widmet, spricht er von einem „Sieg mit abgeschnittenen Händen“.

In dieser Zeit lernt Ossip Mandelstam Nadeschda Chasina kennen, die er 1922 heiratet. Das Paar lebt abwechselnd in Moskau, Petersburg und Tiblissi, meist mit sehr wenig Geld. Sie hält sich mit Englisch-, er mit Französisch- Übersetzungen über Wasser. Und veröffentlicht weitere Gedichtsammlungen, daneben Essays, die sein Talent als Literaturtheoretiker zeigen und Prosastücke wie „Das Rauschen der Zeit“, die von der beginnenden Fremdheit im sowjetischen System zeugen. Dennoch dürfen Mandelstams Arbeiten (im Gegensatz zu Achmatowas und anderen) vorläufig noch erscheinen, angeblich, weil Nikolai Bucharin, Vorsitzender der Komintern und Chefredakteur der Iswestija, ihn protegiert.

Inzwischen vernichten die Bolschewiki die Kultur und ihre Protagonisten. Den Vorsatz zu emigrieren gibt Mandelstam auf, als sein Dichterfreund Gumiljow 1921 als Konterrevolutionär erschossen wird. Mandelstam glaubt, „seinem Schicksal nicht entgehen“ zu können. In seinen Gedichten ist nun von Untergang, Sterben, dem Verschwinden der Sonne die Rede. Aber es kommt noch schlimmer. 1925 erhängt sich Sergej Jessenin. 1930 erschießt sich Majakowski. Mandelstams Hoffnung auf eine neue Zeit erlischt endgültig. Jetzt sieht er das Zeitalter als wildes Tier mit gebrochenem Rückgrat, sich selbst als „kranken Sohn der Zeit“ und „Kein Atem mehr – das Firmament voll Maden“.
Mandelstam verweigert sich, er fürchtet das Leben und ersehnt es zugleich. Ein Gedicht von 1924 beginnt:

Nein, niemals war ich jemands Zeitgenosse,  
Diese Ehre blieb mir unbekannt,  
Jedweden Namensvetter hab ich längst verstoßen, 
Das war nicht ich, das war ein andrer Mann.
Zwei Äpfel voller Träume hat der Zeit-Erhalter
Und einen wunderschönen Mund aus Ton,  
Zu der ertaubten Hand des Sohnes, der gealtert, 
Neigt er sich tief im Tod. (…)  

Bald nach diesen Versen verstummt Mandelstam für Jahre gänzlich. 1930 darf er dank Bucharin (der bald selbst in Ungnade fällt und nach einem Schauprozess hingerichtet wird) noch einmal für einige Monate nach Armenien reisen. Dort findet er seine Stimme als Lyriker wieder. Doch als er zurückkehrt, warten „nur noch Tote“ auf ihn:

Ich bin zurück. Meine Stadt, bekannt bis zu Tränen
Bis zu den kindlich geschwollenen Drüsen, bis zu den Venen.
Du kehrtest zurück – nun schlucke mit Lust
Das Fischöl von Leningrads Lampen am Fluss!  

Diesen Tag im Dezember nun schnell noch verzehr,
Wo mit Eigelb sich mischt der bedrohliche Teer.
Petersburg! Noch will ich nicht ins Grab: 

Du kennst alle Rufnummern, die ich gehabt.  

Petersburg! Noch sind Adressen im Buch,
Die Toten zu hören, komm ich zu Besuch.
Ich wohne im Hinterhof. Gegen die Schläfen springen

Spür ich die mit dem Fleisch herausgerissene Klingel.
Auf liebwerte Gäste die Nacht lang ich wart’
Und rüttle die Fesseln der Türketten zart.

Als die Verhältnisse immer unerträglicher werden, als Deportationen, Liquidierungen und Zwangskollektivierung millionenfaches Leid bringen, kann sich Mandelstam nicht mehr zurückhalten. Sein Ehrgefühl und sein Humanismus diktieren ihm das eingangs zitierte unheilbringende „Epigramm gegen Stalin“ (1933), in dem er den Diktator einen „Seelenverderber“ und „Bauernabschlächter“ nennt. Für Paul Celan, seinen kongenialen Übersetzer, ist Mandelstam der „einzige unbotmäßige Dichter im revolutionären Russland, der nie nach Canossa ging“ – ein Exempel moralischer Widerstandskraft unter einem totalitären Regime.  

Nadeschda Mandelstam beschreibt später in ihren Memoiren „Das Jahrhundert der Wölfe“ eindrücklich die beängstigende Stimmung dieser Zeit: „Jeder fürchtete sich vor jedem – denn in der Nacht konnte selbst der Glücklichste geholt werden, dessen Artikel gegen die Volksfeinde eben erst in der Prawda erschienen war. Auf eine Verhaftung folgte ein ganze Reihe weiterer Verhaftungen – Verwandte, Bekannte, die, deren Telefonnummern im Notizbuch des Verhafteten standen, die, mit denen er letztes Jahr Sylvester gefeiert hatte, und auch derjenige, der zugesagt hatte, aber aus Angst nicht gekommen war …“  

Ossip Mandelstam wird im Mai 1934 zum ersten Mal verhaftet. Einem „harten“ Urteil entgeht er nach einem Selbstmordversuch; er wird zunächst „nur“ nach Tscherdyn am Ural, später nach Woronesch verbannt. Dort verbringt er drei Jahre, wieder zusammen mit seiner tapferen Frau. In Woronesch entstehen noch einmal mehr als 100 Gedichte, poetische Testamente von abgründiger Tragik, aber auch Botschaften an die Nachwelt voller Beharrlichkeit und Zuversicht – trotz Armut, Krankheit, Isolation, Wohnungsnot und Depressionen, die Mandelstam quälen. In einem Briefe resümiert er lakonisch sein Schicksal: „Ich bin ein Schatten. Mich gibt es nicht. Ich habe nur das Recht zu sterben.“  
Wider Erwarten darf das Ehepaar 1937 noch einmal nach Moskau zurück. Im Mai 1938 wird Ossip Mandelstam erneut verhaftet und nun zu fünf Jahren Arbeitslager in Sibirien verurteilt. Ein halbes Jahr später stirbt „Russlands größter Dichter des 20. Jahrhunderts“ (Joseph Brodsky) mit 46 Jahre in der Krankenbaracke eines Transitlagers für Zwangsarbeiter bei Wladiwostok.

Nadeschda Mandelstam, die noch Jahrzehnte vom sowjetischen Geheimdienst beobachtet wird und 1980 in Moskau stirbt, wird seine verbotenen Gedichte auswendig lernen, um zu verhindern, dass sie vergessen oder beschlagnahmt werden. In ihrem letzten Brief schreibt sie 1938 an Ossip:

Ossjuscha, was war mein kindliches Leben mit Dir für ein großes Glück. Unsere Streitgespräche, unsere Zänkereien, unsere Spiele und unsere Liebe. Jetzt schaue ich nicht einmal mehr zum Himmel hinauf. Wem sollte ich es denn zeigen, wenn ich eine Wolke sehe? Erinnerst Du Dich, wie wir unsere kargen Festmähler in unsere armseligen Unterkünfte und Nomadenzelte schleppten? Weißt Du noch, wie gut das Brot war, wenn es wie ein Wunder vor uns lag und wir es zu zweit aßen?
Und dann der letzte Winter in Woronesch. Unsere glückliche Armut und die Gedichte. Ich weiß noch, wie wir aus dem Badehaus kamen und Eier oder Würstchen gekauft hatten. Ein Heuwagen fuhr vorbei. Es war noch kalt, und ich fror in meiner Joppe (ein ganz anderer Frost steht uns also noch bevor: ich weiß, wie Dir jetzt kalt ist).
Und ich habe diesen Tag im Gedächtnis behalten: mir war bis zum Schmerz klar, daß dieser Winter, diese Tage, diese Not das beste und letzte Glück war, das uns zufiel. Jeder Gedanke gilt Dir. Jede Träne und jedes Lächeln auch.
Ich preise jeden Tag und jede Stunde unseres bitteren Lebens, mein Freund, mein Gefährte, mein blinder Blindenführer…

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