Wirf deine Angst in die Luft

Rose Ausländer   
11.Mai 1901 – 3. Januar 1988

Sei mir gewogen Fremdling
ich liebe dich
den ich nicht kenne
Du bist die Stimme
die mich betört
Ich hab dich gehört  ruhend auf grünem Samt
du Moosatem
du Glocke des Glücks  und der unsterblichen Trauer
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Liebe V
Wir werden uns wiederfinden
im See
du als Wasser
ich als Lotusblume
Du wirst mich tragen  ich werde dich trinken
Wir werden uns angehören  vor allen Augen
Sogar die Sterne  werden sich wundern:
hier haben sich Zwei  zurückverwandelt
in ihren Traum  der sie erwählte
_____  

Vater unser
nimm zurück
deinen Namen
wir wagen nicht
Kinder zu sein
Wie
mit erstickter Stimme
Vater unser sagen
Zitronenstern
an die Stirn genagelt
Lachte irr der Mond
Trabant unserer Träume
Lachte der tote Clown
der uns einen Salto versprach
Vater unser
wir geben dir zurück
deinen Namen
spiel weiter den Vater
im kinderlosen
luftleeren Himmel
____

Die Rosen schmecken ranzig-rot   
es ist ein saurer Sommer in der Welt
Die Beeren füllen sich mit Tinte
und auf der Lammhaut rauht das Pergament
Das Himbeerfeuer ist erloschen
es ist ein Aschensommer in der Welt
Die Menschen gehen mit gesenkten Lidern
am rostigen Rosenufer auf und ab
Sie warten auf die Post der weißen Taube
aus einem fremden Sommer in der Welt
Die Brücke aus pedantischen Metallen
darf nur betreten wer den Marsch-Schritt hat
Die Schwalbe findet nicht nach Süden
es ist ein blinder Sommer in der Welt.
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Wirf deine Angst
in die Luft
Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends
Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da
Sei was du bist
Gib was du hast
_____


Manchmal spricht ein Baum  durch das Fenster mir Mut zu
Manchmal leuchtet ein Buch
als Stern auf meinem Himmel
manchmal ein Mensch,
den ich nicht kenne,  der meine Worte erkennt.
____


Mein Vaterland ist tot.
Sie haben es begraben
im Feuer.
Ich lebe in meinem Mutterland
Wort
____


Wenn das Gras aus dem Schlaf steigt
klopfen grüne Finger an meine Schläfe
Alice
und es geht durch den Kiefernschacht
ins Gebiet der Hirsche und Hasen
Ich trinke Milch aus dem Pilz
und schrumpfe zusammen
Käferklein erklimm ich einen Halm
Deutlich rieselt Bienengespräch Vogelgespräch
meine Muttersprachen
Ein fliehendes Wiesel warnt mich  vor dem lauernden Luchs
Hier kommt meine schüchterne Freundin
das Reh
und gibt mir Bescheid
Ich esse Pilzfleisch
und wachse waldweit
Spiegel waschen sich im Tau
Der Regenbogen in jedem Tropfen
färbt siebenfach das Geheimnis des Kreises
Wann bist du Baum
wann bist du Vogel
wann bist du Lied
Alice.
____


Das Ende
Schreib
deine eigene Welt zu Ende
ehe das Ende dich abschreibt

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